Festival

Insomnia Festival: Techno in der Arktis

Higher Intelligence Agency (Gabriel Guerra Bianchini)

Im Flugzeug nach Norwegen lasse ich den Blick über die Lofoten schweifen. Mein Ziel: Tromsø, 350 km nördlich vom Polarkreis. Dort kommt seit 22 Jahren die lokale Szene für elektronische Musik zusammen. Eine Community, von der Köln einiges lernen kann.

„Immerhin haben wir noch Licht“, sagt Jarl, als er mich vom Flughafen abholt. Im Oktober sei die Sonne noch nicht ganz verschwunden. Wir fahren zu meinem Hotel. Es liegt in der Nähe der Storgata, der zentralen Einkaufsstraße. Holzhäuser mit Cafés, Bars und Touristenläden machen den Ort richtig hyggelig. Der lokale Look: regenfest. Überall gibt es ich Regenmäntel, Gummistiefel und Norwegen-Pullis. Seit zehn Jahren boomt der Tourismus in Tromsø und viele sind wohl nicht auf das kalte Nass eingestellt. Es regnet ständig. Aber manchmal blitzen die Berge aus der dichten Wolkendecke hervor. Und wenn die Sonne scheint, ist die Natur atemberaubend.

Storgata

Hier oben im Norden ist Norwegens Hauptstadt für elektronische Musik. Tromsø hat schon früh großartige Künstler hervorgebracht (Biosphere, Röyksopp, Bjørn Torske). Zu Beginn war die Szene kaum organisiert, viele Pioniere zogen nach Oslo, Bergen oder London. Außerdem mangelte es an Orten, an denen man elektronische Musik live erleben konnte. Aus dieser Not heraus entstand 2002 das Insomnia-Festival – der Start für eine Community, die bis heute stetig wächst.

Vom Hotel aus laufe ich zum Verdensteatret, dem ältesten Kino Nordeuropas und einer der Schauplätze des Festivals. Vor der Tür treffe ich Marte Aasen. Sie ist seit vielen Jahren dabei und mittlerweile die Managerin des Festivals. „Willkommen in Tromsø, ist es dein erstes Mal?“, fragt sie mich, als würde es nicht dabei bleiben. „Viele kommen jedes Jahr wieder. Das Festival ist vor allem für die lokale Szene ein wichtiger Anker. Aber auch für den nördlichen Teil von Norwegen, Schweden und Finnland.“ Marte schaut auf die Uhr. Gleich geht das Programm weiter, wir sollten reingehen.

An der Bar hole ich mir noch schnell ein Bier, 99 NOK, 8,50 Euro. Daran werde ich mich noch gewöhnen müssen. Dafür ist es extrem gemütlich: gedämmtes Licht, Regale mit Schallplatten und alte Kinoplakate geben der Bar ein nostalgisches Flair.

Verdensteatret

Der Kinosaal ist verziert mit alten Wandgemälden. Früher wurden hier Stummfilme gezeigt. Heute erwarten mich Diskussionen über Palästina und westliche Doppelstandards. Klingt trocken? Ist es aber nicht. Im Gegenteil. Mein persönliches Highlight an dem Abend: Noura Tafeche’s performative Lesung über das Zionverse. Damit beschreibt sie die Echokammer, in der Videos, Bilder und KI-Content im Namen des Zionismus das Netz fluten. Im Anschluss an ihren Vortrag rückt eine Diskussion ein paar kontroverse Thesen zurecht, doch dabei bleibt es. Agree to not agree.

Petrasamazinglife

Gleicher Ort, nächster Abend: Den musikalischen Auftakt des Festivals machen Júlia Mogensen, Liina Holmes & Fredrik Einevoll mit einer audiovisuellen Performance. Ihr Projekt Resonant Polarities verbindet die Festivalszene der Arktis: Insomnia (Norwegen), OMVF (Finnland) und Extreme Chill (Island). Inspiriert von der nordischen Umgebung, stellen sie die experimentelle Improvisation in den Mittelpunkt.

Frederik Einevoll ist Sound Artist aus Tromsø und Teilnehmer des Förderprogramms Cloud: Exit. Seit zehn Jahren fördert das Insomnia Festival junge Talente aus dem nördlichen Norwegen. So auch Johanna Sandels. Die 29-jährige Sound Designerin hat ihren Auftritt am letzten Abend des Festivals. Johanna kommt aus Stockholm und kam über Erasmus nach Tromsø. Cloud: Exit habe ihr erlaubt, viel Zeit in ihren künstlerischen Prozess zu stecken und Bühnenerfahrung sammeln. Ihr Mentor war der Akustiker Ingemar Ohlsson. Von ihm hat sie gelernt, ihre eigenen Speaker zu bauen. Das wäre vorher nicht möglich gewesen.

Das Programm des Abends ist anspruchsvoll, das Publikum fantastisch. Es ist offen für jegliche Experimente mit Noise und Sound und feiert die Artists mit Standing Ovations. Mein Highlight an dem Abend sind Sainkho Namtchylak & Θ (Theta). Die Avantgarde-Sängerin aus Tuva beeindruckt mit einer Improvisation verschiedener Stimmtechniken wie Kehlkopf- Gesang und Laughter & Cry. Zusammen mit Theta, der in Tromsø lebt und arbeitet, schafft sie auf der Bühne einen mystischen Moment und beschwört Geister und Ahnen.

Wenn ich Tromsø mit einem Wort beschreiben müsste, dann wäre das: knackig. Die Luft ist frisch und klar und jeder Atemzug ein Genuss. Wir machen einen Ausflug und fahren zu einem Fjord ein paar Kilometer westlich von Tromsø. Unser Weg führt über eine große, lange Brücke. Unter uns ist Wasser und mir wird bewusst, dass dies kein See ist, sondern das Nordmeer. Wir fahren an kleinen bunten Häusern aus Holz vorbei, fast jedes Haus hat eine Veranda. Die Sonne steht tief am Himmel, so als würde sie gleich untergehen. Dabei ist es gerade mal mittags. Am Ersfjord Aussichtspunkt machen wir einen Stop für ein paar Fotos. Aus der Ferne zieht Nebel auf. Die Landschaft erinnert sie an Schottland, sagt Scylla Magda. Sie und ihr Mann Bobby kommen aus Birmingham und sind auch beim Ausflug dabei. Ihr Mann ist seit den 1990ern als Higher Intelligent Agency bekannt und eine kleine Ikone der elektronischen Musik – das letzte Mal war er 1996 in Tromsø und hat zusammen mit Geir Jenssen (Biosphere) das Album Polar Sequenzen aufgenommen. Er spielt am Samstag Abend sein Live-Set, Scylla macht dazu die Visuals.

Zurück im Tromsø, laufe ich wieder die Storgata entlang, zu Brokken Records, dort geben Dialog und Benji einen Workshop. Dialog, das sind Samuel van Dijk und Rasmus Hedlund. Die beiden haben vor ein paar Jahren ihr eigenes Dub Techno Label gegründet: DOT – Dialog of Thoughts. Zusammen mit Benji produzieren sie „hazy sounds with a clear message“ – verschwommene Klänge mit einer klaren Botschaft. Die erste Platte auf dem eigenen Label, das sei eine sehr intensive Erfahrung gewesen, berichtet Samuel. Es gebe so viel zu beachten: die Größe der Auflage, das Arrangement der Tracks, die Wahl der richtigen Distribution, und so weiter… Dafür habe man auch eine große künstlerische Freiheit, von der Wahl des Covers bis zur Farbe des Vinyls. Es ist aber auch in Risiko. Dialog hatten Glück: Die erste Platte (DOT1) war ein Erfolg, nach drei Monaten war sie ausverkauft. „Wir haben dann 200 Copies nachgepresst, und damit waren wir dann auch finanziell aus dem Gröbsten raus.“ Mittlerweile haben sie drei EPs zusammen mit Vocalist Benji released. „Wir haben Benji durch Zufall kennen gelernt, sein Sohn geht mit uns ins gleiche Studio in Helsinki“, erzählt Rasmus. Benji kommt aus Jamaica und gibt den Tracks ihr einzigartiges Roots-Flair. Die drei sind ein eingespieltes Team, auf der Bühne treten sie mit ihrem Live-Set auf. Ob sie sich als Band sehen? Vielleicht, ja, warum eigentlich nicht.

Brokken Records

Brokken Records ist wahrscheinlich der gemütlichste Plattenladen der Welt, mehr ein Wohnzimmer als ein Geschäft. Eigentlich möchte ich gar nicht hier weg, es ist warm und kuschelig, draußen wieder kalt und nass. Aber ich raffe mich auf, ziehe meine Schuhe an und gehe raus auf die Storgata Richtung Hafen, dort ist ein Open-Air Konzert, umsonst und draußen. Draußen? Bei den Wetter? Na gut. Wie so viele meiner Erfahrungen bei Insomnia ist mir diese besonders in Erinnerung geblieben:

Auf einem kleinen Platz steht ein Zelt, darunter ein Tisch, ein Laptop und ein Mischpult mit unzähligen Knöpfen. Um das Zelt herum sind zwölf Lautsprecher im Kreis aufgebaut. Das Publikum läuft auch im Kreis, an den
Boxen vorbei. An jedem Punkt auf dem Platz ist der Sound ein bisschen anders. Dadurch entsteht ein mehrdimensionales Klangbild. Der Sound kommt, bleibt und geht, in einem konstanten Flow. Der Gesang von Bint Mbareh hat etwas Sakrales, wie der Hall in einer Kirche. Der Sound von Lasse Marhug ist verkopfter, frickeliger. Der Künstler von den Lofoten hat schon mehrere Stücke für solche Multichannel-Anlagen geschrieben und integriert darin oft Naturgeräusche aus dem arktischen Norwegen. Es ist eine intensive Erfahrung, hier draußen zu stehen, im Kreis zu gehen und diese Soundwelten auf sich einprasseln zu lassen. Die Klänge dringen tief in mein Bewusstsein ein und triggern eine Reihe an Emotionen, die ich lange nicht mehr gespürt habe. Nach dem Konzert fühle ich mich ganz schön durchgeknetet. Ich brauche erstmal eine heiße Dusche und ein bisschen Ruhe.

Grisha 223 (Lucien Hubert)

Viel Zeit dafür habe ich nicht: Nach einer kurzen Pause im Hotel geht es eigentlich erst so richtig los. Es ist Freitag Abend und um 21 Uhr startet das Club-Programm in der Venue Bryggeriet. Hier spielen die ganze Nacht hindurch Bands, DJs und Live-Acts auf drei Floors. „Du musst unbedingt Grisha sehen“, höre ich des öfteren. Das lasse ich mir nicht entgehen und gehe auf den Floor in der zweiten Etage. Ich bahne mir den Weg durch die Menge, um die Performance sehen zu können. Sanfte, minimalistische Club-Beats erfüllen den Raum, gelbes und rotes Licht unterstreichen die Atmosphäre. Das Publikum ist mit der Aufmerksamkeit ganz bei der Künstlerin, die konzentriert an den Controllern schraubt.
Grisha ist Teil der lokalen Szene in Tromsø. In ihrer Arbeit erkundet sie die Grenzen moderner Soundsystemkultur und baut dafür auch ihre eigenen Tools und Anlagen. Als bildende Künstlerin setzt sie sich kritisch mit ihrer Umgebung und der Kunstwelt auseinander. „Sie ist eine von unsere Talenten“, sagt Marte stolz. Grisha kam nach Tromsø, um an der Kunstakademie zu studieren. Die Szene in Tromsø sei ziemlich DIY, sagt Grisha. Da es kaum Locations gibt, die die Szene aktiv supporten, müsse man vieles selbst machen. Das führe dazu, dass die Leute die Dinge selbst in die Hand nehmen. Zum Beispiel Gustav von Brokken Records, der die Initiative ergriffen hat, als sie sich anbot. Gerade sei eine Zeit, in der viel passiert.

Petrasamazinglife

Nach dem Konzert lasse ich mich etwas treiben und erkunde die Location. Sie wirkt relativ neu und unverbraucht, fast schon zu professionell. Es gibt drei Floors: einen Mainfloor und zwei kleinere. In Tromsø scheinen ein paar Dinge anders zu laufen als in den Clubs in Deutschland. An der Tür gibt es keine Belehrung und mir wird auch nicht das Handy abgeklebt. Obwohl es keine No-Photo-Policy gibt, holt kaum jemand sein Handy raus. Die Stimmung auf den Dancefloors ist ausgelassen, selten habe ich Menschen so genussvoll tanzen sehen. Außerdem ziehen sich manche die Schuhe aus, mitten auf dem Dancefloor. Das habe ich auch an anderen Orten beobachtet, zum Beispiel in den Workshops. In Norwegen geht man anscheinend gern auf Socken. Außerdem stehen große Krüge mit Wasser auf dem Tresen, Kranwasser gibt es immer umsonst. Offene Getränke auf einer öffentlichen Veranstaltung? In Köln undenkbar. Ich werte das als gutes Zeichen.

Ich genieße den Rest des Abends, investiere nochmal in ein kleines Bier und schlendere danach zurück zum Hotel. Um drei Uhr nachts ist die norwegische Clubnacht vorbei, dann geht es weiter zur Narsh, zur Afterhour. Aber nicht für mich, ich gönne mir eine Mütze Schlaf und lasse die Erlebnisse des Tages Revue passieren. Wie kommt es, dass sich hier oben im Norden – weit weg von Berlin, London oder Oslo – so so eine dynamische Szene entwickelt hat? Das Insomnia Festival schafft es, über Jahrzehnte gewachsene Strukturen zu pflegen und gleichzeitig offen zu sein für frischen Wind und junge Leute. Der Festivalpreis von 100 Euro (80 Euro für Student:innen) ist durchaus bezahlbar und es gibt die Möglichkeit des Volunteering. Wahrscheinlich wurde über die Jahre der Kelch immer weitergereicht. Marte Aasen hat sich seit 2013 von einer „Insomnia- Potato“ (Person für alles) zur Managerin/ CEO entwickelt. Und wer weiß, vielleicht entdeckt dieses Jahr eine Person das Festival und wird in zehn Jahren Verantwortung übernehmen.

Hafen Tromsø 

Am nächsten Morgen startet mein letzter Tag in Tromsø wie immer mit einem fantastischen Frühstück im Hotel. Mittlerweile grüßt man sich, viele Artists bleiben das ganze Wochenende über in der Stadt. Ich freue mich sehr auf das heutige Programm, Dialog feat. Benji starten den Abend mit ihrem Live-Set und danach spielt Higher Intelligence Agency auf dem Mainfloor. Ein Pflichttermin für mich ist das Set von Ismistik, aka Bjørn Torske. Zusammen mit Ole Mjøs war das Duo aus Tromsø Anfang der Neunziger ein Wegweiser für elektronische Musik in Norwegen. Inspiriert von dem Sound aus Chicago und Detroit, entwickelten sie nach ersten Experimenten beim Campusradio Brygga ihren ganz eigenen Stil. Die beiden machten sich einen Namen in der Szene, nachdem sie auf dem Kultlabel Djax-Up-Beats veröffentlicht hatten. Doch kurz darauf war Schluss: 1995 erschien die letzte LP von Ismistik (Remain). Lange schien es, als wäre es das letzte Release gewesen. Bis zu diesem Jahr. Im Oktober erschien auf dem finnischen Label Elektroni die erste Ismistik-Platte nach über 30 Jahren. Auf ihrer EP Yamadoor sind zwei alte Tracks von 1994 zusammen mit zwei Remixen von Rolando Simmons. Beim Insomnia-Festival hat Bjørn Torske ein einstündiges 90s Techno-Live-Set gespielt.

Im Laufe des Abends sind noch viele weitere großartige Artists aufgetreten: Holy Tongue, Ovio, Temp-Illusion.. Das Closing machen The Bug feat. Warrior Queen mit einer legendären Performance, die über jegliche Dezibel-Grenzen hinausgeht. Mit einem großen Bang verabschiedet sich das Festival für dieses Jahr von seiner Crowd.

Am nächsten Morgen nehme einen letzten tiefen Atemzug von der frischen Tromsøer Luft und steige mit nur einer Stunde Schlaf in den Flieger zurück nach Köln. Nach dem Start werfe ich einen Blick in das Buch, das mir Marte vor meiner Abreise geschenkt hat: Dreaming Awake – 20 years of Insomnia. Darin stehen Interviews, Geschichten, Fotos und Erinnerungen aus den letzten 20 Jahren Festival. Beim Durchblättern frage ich mich wieder: Warum hier, in Tromsø, in der Arktis?

Vielleicht wurde in den späten 1980ern und frühen 1990ern ein Samen gesetzt, der für die lokale Szene eine Art Kickstart war. Seitdem hält sich die Szene wacker. Ein Grund dafür könnte die Förderung junger Talente sein, die Kunstakademie und die lange dunkle Jahreszeit. Der Ruf eilt Tromsø aber auch ein bisschen voraus: Wer auf gut Glück hier hin kommt, um die Szene zu erkunden, wird vermutlich enttäuscht wieder abreisen. Abgesehen vom Insomnia-Festival hält sich die Szene nämlich ziemlich bedeckt, auch in Mangel an Clubs und Venues. „There is a big scene, but no audience“, sagt man scherzhaft in Tromsø. Ich jedenfalls bin begeistert von der Stimmung, den Menschen und dem Spirit und nehme ganz viel Inspiration mit zurück nach Köln. Denn Köln würde es gut tun, sich von Tromsø eine Scheibe abzuschneiden.

 

 

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