Eine sorgfältig gestaltete Eigenwelt

Gruppenbild 71. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen

71. Internationale Kurzfilmtage (Copyright: Kurzfilmtage / Victoria Jung)
Supertoll waren die 71. Internationalen Kurzfilmtage in Oberhausen. Ein liebevoll kuratiertes Filmfestival, bei dem jeder Streifen mindestens eine originelle Seherfahrung war, wenn nicht sogar großartig; dazu ein ultrasympathisches Team und Publikum sowie ergänzende Angebote, die über die Filme hinausgingen (Diskussionen etc.) – da vergaß man schnell, dass man sich in der eher halbcoolen Stadt Oberhausen befindet und wurde von dem Festival in eine sorgfältig gestaltete Eigenwelt gesaugt.
Es folgt ein Ranking der besten Filme, die ich dieses Jahr auf den Internationalen Kurzfilmtagen sehen konnte.
10) „Vivir en un mar bravo“ (Regie: Guillermo F. Flórez)
Dieser rührende Dokumentarfilm – englischer Titel: „To Live In A Wild Sea“ – erzählt von der 86-jährigen Carmen, ihrem turbulenten Leben und der komplexen Entscheidung, Selbstmord begehen zu wollen. Ihr spanische Temperament ist äußerst charmant; der Film lebt von der Tatsache, dass Carmen es genießt, gefilmt zu werden. Sie stiehlt und lügt und gewinnt damit nur an Sympathie. Dazu zeigt „Vivir en un mar bravo“ einen furchtlosen, vermutlich gesunden Umgang mit Tod. Freimachen muss man sich, auch von Vergangenheit. Es ist nur eins von vielen Beispielen dafür, dass die Internationalen Kurzfilmtage vor allem eine Reise durch verschiedene Lebensperspektiven und -kulturen darstellen.
9) „Ri, Bola2 (Regie: Diego Bauer)
Es ist vor allem seine auffällige, aufheiternde Lache, für die der Brasilianer Bola bekannt ist – gemeinsam mit seinem Kumpel César teilten sie Videos davon auf Social Media, zur Freude vieler. Doch ein traumatisches, Pandemie-bedingtes Erlebnis hat dafür gesorgt, dass Bola das Lachen vergangen ist. Der Film schafft es, diese Tragödie als Aufhänger für etwas Größeres, als Kommentar auf unsere Zeit darzustellen. Die in „Ri, Bola“ gezeigte Mission, Bola wieder zum Lachen zu kriegen, wird damit zum universellen Versuch, die Freude am eigenen Leben aufrechtzuerhalten.
8) „Nightbirds“ (Regie: Ashok Vish & Maria Estela Paiso)
Ich bin kein Vogelfreund, hab diesbezüglich gar eine Art Phobie, doch die Vogelmetapher im 13-minütigen Film „Nightbirds“ – es geht um Armut und das versuchte Ausbrechen daraus – hat für mich gut funktioniert. Hier wird die philippinische Mythologie auf eine Weise integriert, die durchaus originell ist: durch die einmalige Integration eines bestimmten Animationsstils, der in die Kameraaufnahmen eindringt. Es geht um Vogelgötter, von der philippinischen Tagalog-Volksgruppe werden sie ‚Tigmamanukan‘ genannt, doch der Umgang mit Tradition und Religion ist in „Nightbirds“ sehr modern. Und vielschichtig. Große Empfehlung.
7) „Balkan“, Baby (Regie: Boris Gavrilović)
Während eines Urlaubs am Starnberger See trifft Martina, eine deutsche Frau mit jugoslawischen Wurzeln, die impulsive und deutlich jüngere Dunja, die einen völlig anderen Umgang mit ihrer bosnischen Herkunft hat: Anders als Martina scheint sie ihre migrantische Vergangenheit nicht verstecken zu wollen und ermutigt Martina, Ähnliches zu tun. Das Ganze fügt sich zu einer Kurzgeschichte über Zugehörigkeit und versteckten Rassismus zusammen. Wo sie reinpasst, fragt Martina sich durchgehend. Kann man der eigenen Herkunft entfliehen? Inwiefern gehören wir zusammen, nur weil wir die selben Wurzeln haben? Solche Fragen werden oft in Coming-of-Age-Stories gestellt, doch „Balkan, Baby“ ist gerade durch das fortgeschrittene Alter von Martina so interessant und originell.
6) „Gusarapos“ (Regie: Ulysse de Maximy)
Der Film „Gusarapos“ – englischer Titel: „Crawlies“ – basiert auf Voice-Recordings eines schizophrenen Mannes, genauer gesagt: einem Onkel des Filmemachers. Erinnerung und mentale Gesundheit sind hier also die Stichwörter, gewissermaßen hab ich mich an das Meisterwerk „Aftersun“ von Charlotte Wells erinnert gefühlt. Verschlossenheit führt hier zu einer Art Lähmung, dann zu Depression und Trauma; und letztendlich zu dem verzweifelten Versuch, irgendwas zu fühlen. Obendrein geht es um Familie, wie bestimmte Krankheiten darin weitergegeben werden. Und inwiefern Nachahmung dabei eine Rolle spielt.

DJ Hell sorgte für die passende Musik bei der legendären Muvi-Party (Copyright: Kurzfilmtage / Victoria Jung)
5) „Kommando 522 (Regie: Walter Heynowski)
Ein grausamer, erschütternder, schockierender DDR-Film über eine Gruppe deutscher Söldner namens Kommando 52, die in den Sechzigern im Kongo aktiv und dort an der Niederschlagung der Simba-Rebellion beteiligt war. Wir lernen etwas über die verrückten Biographien dieser Söldner – im Krieg geboren, nie davon losgekommen –, wie sie einerseits Nazis sind (und teilweise noch ihre NS-Abzeichen tragen), gleichzeitig aber frei von jeglicher Ideologie handeln; als wüssten sie gar nicht, was genau da im Kongo abgeht. „Kommando 52“ ist eine harte Kombination aus Sachlichkeit und Elend. „Wir haben sie alle umgelegt“, sagen die Söldner und lächeln. Trigger-Warnung! Es ist wirklich schlimm, was hier gezeigt wird: Hinrichtungen, Folter, blanker Hass. Die kritische Haltung des Films wird jedoch durchgehend deutlich, was „Kommando 52“ letztendlich zu einem zwar kontroversen, aber lehrreichen Werk macht.
4) „Wink „vom Nachbarn (Regie: Harry Hornig)
Dieser DDR-Film war eine direkte Reaktion auf die Tatsache, dass die Kurator*innen des Oberhausener Kurzfilmtage den zuvor erwähnten Film „Kommando 52“ ablehnten – also damals, Mitte der Sechziger – und nicht zeigen wollten. Also reisten DDR-Reporter zur damaligen Ausgabe des Festivals und drehten eine Art Propaganda-Bericht, der vor allem daraus bestand, dass sich über die in Oberhausen gezeigten Filme lustig gemacht und damit das gesamte westliche Kino (auf durchaus clevere Weise) durch den Dreck gezogen wurde. Auf den Oberhausener Leinwände würde keine Realität gezeigt werden, heißt es beispielsweise; der westliche Film sei billig, wäre das Kino im DDR inhaltlich aufgeladen sei. „Wink vom Nachbarn“ ist lustig, augenöffnend und durch Interviews auf den deutschen Straßen der Sechzigerjahre auch eine unterhaltsame Zeitreise.
3) „Natureza Humana“ (Regie: Mónica Lima)
Ein wunderschönes Werk aus Portugal – englischer Titel: „Human Nature“ –, da gerade deshalb so intensiv wirkt, weil es klein startet und sein inhaltliches Gewicht erst im Laufe des Films präsentiert. Ultramelancholische Aufnahmen einer Kleinfamilie, wie sie im Garten arbeiten und sich in ihre Sorgen, ihren Weltschmerz fallenlassen; und dann dagegen ankämpfen (müssen). Die Isolationsgefühle der Corona-Pandemie stecken hier tief drin, genauso wie die Versuche, im Angesicht des Weltzustands nicht aufzugeben. Kapitulation wäre fatal, sagt dieser Film. Gerade dann, wenn Kinder im Spiel sind.
2) „Zug in die Ferne“ (Regie: Andreas Dresen)
Schon wieder DDR. Der fantastisch erzählte Film „Zug in die Ferne“ hat mich total begeistert, er handelt von einer Bahnstation und den sehr unterschiedlichen Menschen, die dort auf den Zug warten. Die Message ist eindeutig: Fernweh, Sehnsucht, DDR halt – hier wird sich weggeträumt. Dass der Protagonist im Kino arbeitet, wie wir als Zuschauer am Ende lernen, passt natürlich perfekt und hebt den Film auf eine Art Meta-Level. Er kommentiert sich quasi selbst; das Kino als bestes Mittel, auszubrechen.
1) „Les Mystérieuses Aventures de Claude Conseil“ (Regie: Marie-Lola Terver & Paul Jousselin)
10/10 Punkte! Erster Platz! Der beste Film, den ich auf den diesjährigen Kurzfilmtagen in Oberhausen sehen konnte! Die französische, extrem sympathische Rentnerin Claude Conseil lebt mit ihrem Mann am Rande eines Waldstücks und verbringt ihre Tage vor allem damit, den Gesang der Vögel aufzunehmen. Irgendwann bekommt sie in einer Tour mysteriöse Anrufe, deren Grund ich hier nicht vorwegnehmen möchte. Jedenfalls ist die Gegenüberstellung von Technik und Natur in „Les Mystérieuses Aventures de Claude Conseil“ sehr gelungen – bird call vs. phone call –, es geht um die Schönheit von Technologie, aber auch um die Tatsache, dass sie unglaublich störend sein kann. Eine alte Frau wird mit der Moderne konfrontiert, doch der Film macht sich nicht über die Generationsunterschied der Figuren lustig, sondern schafft eine Brücke. So wie Filme es immer tun sollten. An kaum einem anderen Ort passiert das so intensiv wie auf den Internationalen Kurzfilmtagen in Oberhausen.
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Preisträgerbild (von links nach rechts): Lin Htet Aung, Xenia Lesniewski, Utku Önal (2.Preis), Jo Zimmermann, Jeremias Heppeler (Publikumspreis) (Copyright: Kurzfilmtage / Victoria Jung) Auf dem
Und dann wurde natürlich bei den Internationale Kurzfilmtage Oberhausen auch wieder der Musikvideo-Preis verliehen, präsentiert von unter anderem Kaput. Aus zwölf deutschen Musikvideo-Produktionen (aus über 231 Einreichungen ) hat die Jury (bestehend aus Lin Htet Aung, Xenia Lesniewski und Jo Zimmermann) die Preisträger:innen des 27. MuVi-Preis der Kurzfilmtage ausgewählt.
Wir gratulieren Hansol Kim und Cardi B für den 1. Preis für den Clip zu „K-BOB STAR“.
Der 2. Preis ging an Utku Önal für den Clip zu „Quand le grenier aura pris feu“ (von Anadol & Marie Klock).
Der MuVi Online-Publikumspreis ging an Jeremias Heppeler für den Clip zu „looking @ ghosts“ (für die hunde x prozpera).