Die Lesefrosch-Ecke

„Zu Werbe-Deals wird immer Nein gesagt“ – Stephan Rehm Rozanes’ Buch über Die Ärzte

Es ist zwei Uhr nachts. Bei Stephan Rehm Rozanes klingelt der Wecker. Zeit, an seinem Buch über Die Ärzte zu arbeiten, bleibt dem Redakteur und Familienvater nur zu abwegigen Stunden. Dennoch oder gerade deshalb ist „Die Ärzte 100 Seiten“ eine wirklich bemerkenswerte Veröffentlichung geworden. Eine, die uns auf unterhaltsame wie eloquente Weise von Geschichten, Heldentaten und Abgründen der „besten Band der Welt“ aber auch des Autoren erzählt. Von Linus Volkmann

Stephan Rehm Rozanes vereint mit seinem ersten Buch. Foto: Privat

ZUR PERSON Stephan Rehm Rozanes ist seit den Nuller Jahren Redakteur beim Monatsmagazin Musikexpress, gemeinsam mit seinem Kumpel Simon Frontzek (u.a. Sir Simon, Thees Uhlmann Band) betrieb der Langzeitmünchner und Jetzt-Berliner eine sagenumwobene Indie-Radioshow auf dem Sender PULS, die den Titel „In die Nacht“ trug. Neben Job und Familie schreibt er heute darüber hinaus Bücher und unterhält mit Fabian Soethof den populären 90er-Jahre Podcast „Never Forget“. Stephan Rehm Rozanes hat hinter der beruhigenden Bedächtigkeit, die der er auch als Workaholic auszustrahlen weiß, nie eine freundliche Exzentrik verloren.

Stephan, hallo! Schön, dass du dir Zeit genommen hast. Die erste Frage ist erstaunlich einfach: Worum handelt es sich bei deinem Buch – und wie lautet genau sein Titel?

STEPHAN REHM ROZANES Es heißt „Die Ärzte 100 Seiten“, was schon sehr vielsagend sein dürfte. Es handelt sich um eine Reihe vom Reclam-Verlag, bei der man sich kurzhalten muss. Der Auftrag lautet, personalisiertes, nicht bierernstes Kompaktwissen zu einem Mono-Thema aufzutürmen.

Wie kam es zu diesem Match?

Was mir gar nicht so bewusst war, ist, dass ich den Podcast „Never Forget“ über die Neunziger wohl immer wieder benutzt habe, um über Die Ärzte zu reden. Das wiederum blieb seitens des Reclam-Verlags nicht unbemerkt – und so wollten die mich für ihre 100 Seiten Die Ärzte haben.

Das Buch, das dabei nun rauskam, hat für mich als Leser etwas von diesen Gadgets, ganz winzige Socken oder Handtücher, aber wenn man Wasser drauf macht, werden sie riesig. Ähnlich destilliert wirkt der Text – in jeden Satz sind immer noch eine Handvoll weitere Gedanken, Querverweise und Gags reingehämmert worden. Man trifft auf eine inhaltliche Fülle, die eigentlich 500 Seiten ausmachen könnten.

So ähnlich ist es ja auch. Es gibt sonst noch die offizielle Biographie von Die Ärzte mit dem Titel „Ein überdimensionales Meerschweinchen frisst die Erde auf“, die liegt aber schon wieder 20 Jahre zurück und kann nicht upgedatet werden, weil die Band sich mit dem Autoren – dem ehemaligen Fanclub-Leiter – überworfen hat. Auf dessen Werk folgte „Das Buch ä“ von Stefan Üblacker, das sich allein dadurch auszeichnet, circa 200 Millionen Seiten zu haben [in Wahrheit sind es immerhin biblische 928, Anm.] – und selbst bei diesem Wälzer wüsste ich auch mit Redakteursaugen nicht, wo ich einen Satz rausnehmen sollte. Das Thema Die Ärzte ist einfach unfassbar groß.

Hast du dich bedrängt gefühlt von der bloßen Faktenlage?

Das kann man wohl sagen. Ich weiß nicht, wie das bei dir ist, aber ich habe – schon immer – eine große Ehrfurcht vor „dem Produkt“. Wenn ich bei meiner Mutter mal wieder meine „Clever und Smart“-Comics aus der Kindheit durchblättern würde, dann wäre da kein Knick zu finden und so bringe ich es sicher nicht übers Herz, in einem Buch rumzukritzeln. Die Folge davon ist, dass ich zum Beispiel bei „Das Buch ä“ mit Post-Its gearbeitet habe. Daraus schauten dann zum Schluss fast alle Post-Its heraus, die jemals hergestellt wurden.

Liegt das an den Ärzten oder an deiner Akribie?

Das liegt an Die Ärzte! Man mag sie finden, wie man will, aber es ist halt nie banal, was sie machen. Alles ist durchdacht und es stecken tausend tolle Ideen drinnen. Also in dem Sinne, wie ich mal in einer Überschrift Jens Friebe zitierte „Tausend geile Sachen!“ Und hey, was gibt es Schöneres als tausend geile Sachen?

1000 und eine geile Sache?

Bei Die Ärzte wäre es genau das! Immer noch einen draufsetzen. Ihre Platte „Hell“ ist ja auch 181 Gramm schweren Vinyl erschienen.

Wirklich? Der Standard, mit dem immer alle Vinyl-Ottos getriggert werden, ist ja „180 Gramm“. Dachte, weil das die Obergrenze ist.

Nicht für Die Ärzte!

Hast Du dich beim Schreiben an Deiner journalistischen Arbeit orientiert, oder ist ein Buchtext dann doch nicht mit einem Artikel im Musikexpress zu vergleichen?

Ich hatte im Exposé schon einzelne Themen und Etappen herausgearbeitet und die bin ich dann in Kapitelform angegangen. Letztlich hatte so jeder Abschnitt die Länge von einer Titelgeschichte in einem großen Magazin, so habe ich mir das einteilen können. Allerdings hatte ich eines vollkommen unterschätzt, man überarbeitet so ein Buch letztlich permanent, das heißt, ich habe das Geschriebene immer wieder gelesen und immer fällt einem noch was auf, es muss was raus, es muss was rein, meistens natürlich eher was rein – und das ging bei mir so, bis noch einen Tag vor Druckabgabe. Das Finetuning war absolut irre und hat mich mit Abstand die meiste Zeit gekostet. Wohingegen das Schreiben über eine Band, über die man einfach auch viel weiß, das empfand ich gar nicht schwer.

Du arbeitest tagsüber schon mit Texten über Pop, musstest du also mit der Arbeit am Buch noch deine ganze Freizeit zuparken? Du hattest erwähnt, dass du für den Schreibprozess letztlich nicht viel Zeit hattest.

Wir sprechen hier wirklich über eine sehr verrückte Zeit. Ich musste das Buch ausschließlich nachts schreiben. Ich habe zwei kleine Kinder, die stehen meist so um sechs auf. Das hieß, ich habe mir den Wecker auf zwei Uhr nachts gestellt und geschrieben, bis die wach wurden. Denn wenn dem so ist, herrscht Tohuwabohu, bis es in den Kindergarten geht, dann wartet schon mein Dayjob und nachmittags sind die Kleinen wieder da. Da stand mir also gar kein anderer Zeitplan zur Verfügung.

Das klingt ehrlich gesagt völlig wahnsinnig.

Nach den zwei Wochen, in denen ich das so betrieben habe, da kam ich dann schon auf dem Zahnfleisch angekrochen. Man darf allerdings auch nicht unterschätzen, wie befriedigend es ist, sowas dann tatsächlich zu bewältigen. Aber unter uns gesagt, es war natürlich trotzdem viel zu viel.

Du bist halt noch ein junger Mann. Andere raven tagelang im Club, während du in der Zeit ein halbes Buch fertig bekommst.

Ich bin eher extrem gut selbstorganisiert, ich bin eine Art lebende Exceltabelle.

War das schon immer so?

Ja, ich habe noch nie etwas schleifen lassen. Selbst in meinen ärgsten Rave-Jahren nicht – ich kann sehr exzessiv sein, mich aber trotzdem immer auf mich selbst verlassen.

Dann nun mal zum Sujet selbst: Wenn du nur einen Arzt retten könntest vor den Nazis, welcher der Drei wäre das – und warum Rod? Nein, das ist nur ein Gag. Sag Du!

Das ist eigentlich nicht zu beantworten … gerade bei Bela und Farin muss man ganz klar konstatieren, die bedingen einander. In dem Phänomen Die Ärzte sind sie zu einer Wesensheit verschmolzen, für mich funktionieren sie daher auch erst zusammen so richtig. Der Strandjunge und der Gruftie – von dieser Konstellation geht Spannung aus, ich kann dementsprechend ihren Solowerken weit weniger abgewinnen, auch wenn es dort natürlich einiges zu entdecken gibt. Die Ärzte leben von der ständigen Reibung dieser Charaktere, der Reiz dieser Band besteht also zwischen diesen beiden Personen und nicht in einer davon.

Wann hat deine Faszination für Die Ärzte begonnen?

Es ist erstmal einfach Teenager-Musik und in dieser Phase hat es auch mich massiv erwischt. Aber was sich auch über diese Zeit hinaus gehalten hat, dass es in dieser Band immer was zu finden gibt. Sie ist immer mutig und auf sie ist, ja, Verlass. Denn trotz allem Quatsch, allen Umwegen, aller verrückten Ideen strahlen sie eine Identität aus, die unumstößlich wirkt. Zu Werbedeals wird immer „Nein“ gesagt, nicht auf Preisverleihungen und nicht zu „Wetten dass…?“ gegangen, dann werden die absonderlichsten Stücke auch schon mal zu Singles erkoren, wie der 47-Sekunden-Song „Yoko Ono“, es werden aufwändigste, völlig bekloppte Verpackungsideen durchgezogen und natürlich auch: Sie erlauben es sich, als Band nicht auf Social Media zu sein. Man merkt, sie sind einem sehr ursprünglichen Punkgedanke verpflichtet und ziehen Grenzen. Bloß innerhalb dieser Grenzen ist unfassbar viel möglich – und es läuft nie Gefahr, aufgesetzt zu wirken. Die Ärzte sind immer authentisch, in dem was sie gerade tun. Und sie demonstrieren: Man kann es im Musikbetrieb auch schaffen, wenn man auf alle Regeln und Gesetzmäßigkeiten scheißt.

Hast du sie denn in deiner Rolle als Journalist genau dafür auch mal gehasst? Was ich meine, der Redakteur hat eine Idee und denkt, dieses besondere Interview oder Thema müsste man unbedingt mal mit den Ärzten machen – und dann aber sagen sie einem fast alles umgehend ab, was sie sich nicht selbst ausgedacht haben.

Nein, ich verstehe sie einfach zu gut, um ihnen da böse sein zu wollen. Natürlich macht es dir deinen Berufsalltag schwieriger, wenn du kein Fotoshooting mit jemand haben kannst. Wer das nicht weiß, Die-Ärzte-Bilder kommen immer nur aus deren Hauptquartier, da kannst als Magazin also nie eine eigene Bildersprache entwickeln und bekommst alles fast komplett vorgekaut. Allerdings muss man wissen, sie haben gerade früher sehr viel schlechte Erfahrung mit der Presse gemacht. Die Bravo hatte in den Achtzigern eine Hetzkampagne gegen die Band laufen, wo sie versucht haben, Farin Urlaub als Frauenschläger hinzustellen. Außerdem darf man nicht verschweigen, dass Die Ärzte durchaus verrückte Ideen für oder auch mit Medien entwerfen. Zum letzten Album „Dunkel“ haben sie für den Musikexpress und fürs Visions-Magazin sich so Flexidiscs ausgedacht, die den jeweiligen Heften beilagen – jeweils mit exklusiven Aufnahmen. Das spricht für einen Kooperationswillen, sie wollen nur eben selbst involviert sein und sich nichts aufdrücken lassen. Wer wollte ihnen das übel nehmen?

Ich habe selbst auch schon von dieser sehr speziellen Politik profitiert. 1995 oder so, kurz nach der Reunion, habe ich in der Mehrzweckhalle von Neu-Isenburg ein Interview für mein damaliges Fanzine [„Die Spielhölle“] bekommen. Da hätten sicher die Hessenschau und der Spiegel gern einen Slot gehabt, aber Die Ärzte haben aus Überzeugung DIY-Heinis aus der Punkszene vorgezogen. Das rechne ich ihnen wahnsinnig hoch an.

Die Ärzte kriegen ja auch alles mit, die verfolgen, was über sie geschrieben wird. Insofern hätte es auch sein können, dass sie bei meinem Buch, wenn es ihnen nicht gefallen hätte, öffentlich gesagt hätten „Und der Ratte haben wir noch Interviews gegeben und jetzt schreibt der so einen Scheiß über uns – boykottiert den Dreck!“ oder so.

Weißt du denn, wie sie „Die Ärzte 100 Seiten“ aufgenommen haben?

Ja, mir wurde aus dem Die-Ärzte-Hauptquartier gesteckt, dass es für gut befunden wurde und ich habe gesehen, dass sie auch in ihren Newsletter genommen haben, was mich natürlich sehr freut. Ich habe es mir also nicht verscherzt. Uff! Sie ertragen eben auch sanfte Kritik und brauchen nicht nur reine Hurra-Berichterstattung.

Guter Punkt. Bist du denn als Fan, der du ja bei den Ärzten bist, nicht auch gerade besonders kritisch? Mir geht das bei Tocotronic so, die haben mich immer so fasziniert, dass ich ihr Sein wahnsinnig überformte und daher allerdings auch oft unzufrieden mit ihnen bin. Ich denke dann, nein, das müsst ihr doch so machen, das müsste so klingen etc. Völlige Anmaßung aber von diesem Blick kann ich mich als exzessiver Fan nicht trennen. Geht dir das bei den Ärzten auch so oder erscheint dir einfach alles gleich herausragend?

Das wäre doch ziemlich fragwürdig, wenn man alles von einer Band gleich geil fände. Es gibt durchaus ganze Alben, mit denen ich nie warm geworden bin, „auch“ gehört dazu und „Geräusch“ – und „Runter mit den Spendierhosen, Unsichtbarer“ hat zwar diesen großartigen Plattentitel und den überragenden Song „Rock’n’Roll Übermensch“, aber dazu auch etliche nicht so starke Stücke. Doch du kannst nicht 40 Jahre lang bei so einem großen Output immer mit jedem Ton oder jeder Zeile ganz vorne sein, dafür gibt es dann eben andere Sachen, auch spätere, die derart fantastisch sind, dass sie das völlig wieder ausgleichen.

In deinem Buch finden sich auch Interviews mit Bela und Farin. Wie hast du sie dabei erlebt?

Diese Gespräche fand ich sehr bezeichnend, mit Bela B. war zum Beispiel eine halbe Stunde Interviewzeit über das Die-Ärzte-Label anberaumt worden, doch als es losging, war er unglaublich engagiert, so dass die halbe Stunde rum war, ohne dass ich überhaupt eine Frage stellen konnte. Als ich ihm das sagte, meinte er, dann machen wir einfach weiter – und nach zwei Stunden war ich es dann, der sagen musste, Du, ich muss jetzt meine Kinder von der Kita abholen. Also de facto habe ich das Interview beendet. Aber da sieht man, dass sich Die Ärzte eben leisten, alles so zu machen, wie es ihnen selbst beliebt. Sie schotten sich erstmal ab, aber wenn man ihnen dann begegnet, sind sie durchaus sehr nahbar. Hier in Berlin sieht man sie auch oft Konzerten, die stehen dann bei Bilderbuch oder Wanda und gucken sich das an. Die Ärzte sind selbst immer Fans geblieben.

Interview: Linus Volkmann

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