Talking Musikjournalismus: Lars Fleischmann

Lars Fleischmann: “Ich schreibe nur für die Organe, die ich selbst lese – und niemals für Springer”

Lars Fleischmann

Kannst du dich an den ersten musikjournalistischen Text erinnern, den du gelesen hast? 

Lars Fleischmann: Der Begriff Musikjournalismus hat sich in den letzten Jahrzehnten gleich mehrfach gewandelt und verweist an verschiedenen Stellen auf höchst unterschiedliche Praktiken; was nur eine Einführung dafür sein soll, dass mein erstes musikjournalistisches Erlebnis ganz sicher ein Artikel in der Bravo war. Wobei ich schon mit sechs meinen ersten Artikel zur Boyband New Kids On The Block in der Mickey Maus gelesen habe.
Nehmen wir diese beiden Organe aus irgendwelchen Gründen raus, dann wird es ziemlich sicher irgendein Artikel über Die Ärzte gewesen sein. Vermutlich zur Platte “13”. Mir ist davon aber nichts mehr in Erinnerung geblieben – höchstens der Verweis auf die beiden ehemaligen Bassisten Sani und Hagen, die mir bis dahin kein Begriff waren.
Man darf nicht vergessen: Musikjournalismus hat damals auch bei Viva und Viva 2 stattgefunden. Der Text kam zuerst aus dem Fernseher und dann erst vom Blatt Papier – für mich zumindest.

Gibt es ein Schlüsselerlebnis, das in dir den Wunsch geweckt hat, selbst musikjournalistisch zu arbeiten?

Ich kann, nicht ohne eine Prise eitlen Stolzes, darauf verweisen, dass ich ausgewählt wurde: Linus Volkmann hat mich 2013 bei einer Lesung im King Georg als Moderator gesehen und kurz danach angefragt, ob ich nicht auch musikjournalistisch tätig werden möchte. Bis dahin habe ich eher, und vor allen Dingen abseits der Öffentlichkeit, über Theater und Kunst geschrieben.

Was reizt dich am Format Musikjournalismus? Was zeichnet für dich guten Musikjournalismus aus?

Die Antwort, die ich jetzt gebe, ist nur ein Zwischenstand, ein aktueller Einblick, der Status Quo, der sich jederzeit auch wieder ändern kann: Musikjournalismus scheint stärker als andere Formen der Kritik (im Bezug jetzt auf Kulturproduktion und -produkte) in der Lage zu sein als eine Art Meta-Kritik aufzutreten, die andere Formen (Kunst-, Theater-, Literatur-, Filmkritik etc.) zu inkorporieren und sich beizeiten dieser Formen interdisziplinär anzunehmen, sie zu modifizieren oder als bloßes Vehikel “zu missbrauchen”.
Jedenfalls können Musikleute meist besser über andere Gattungen schreiben als andersrum.
Das bedeutet aber auch, dass guter Musikjournalismus einer sein muss, der sich in den anderen Gattungen auch auskennt – und da auch die PS auf die Straße bekommt.

Gibt es einen Lieblingsbeitrag (von anderen Musikjournalist:innen)?

Es ist vermutlich wohlfeil, weil eh schon hundertfach gewürdigt, aber es ist wohl “Ich hab meinen Hass, der hält mich warm” von Dietmar Dath: So locker und beschwingt, so fantastisch und konkret, so genau und doch vollkommen in der Rezeptionsekstase aufgegangen … ich könnte ewig weiterschreiben, warum diese Slayer-Rezension (und ich habe so gut wie gar nichts mit Slayer am Hut) Musikkritik par excellence ist.

Dieselbe Frage auch für dich selbst: welchen Beitrag aus deinem Werkskatalog ordnest du aktuell als deinen wichtigsten ein? 

Eine fast schon obszöne Frage. Wie soll man darauf antworten? Für mich persönlich – und das ist vollkommen abstrahiert von einer professionellen Ebene zu betrachten –, sind zwei Interviews, die ich relativ zeitnah für kaput geführt habe, vergleichsweise wichtig: Eines mit Die Heiterkeit, ein anderes mit Paul Pötsch von Trümmer.
Hier habe ich auf Grund der Umstände (Großes Vertrauen der Künstler*innen durch eine gewisse Nähe zu den Interviewten) und gleichzeitig persönlichen Schicksalsschlägen, die mein Seelenleben zu der Zeit bestimmten, zwei Artikel fabrizieren können, die eigentlich unmöglich sein sollten. Viel Wahrheit, wenig Dichtung, was mich wieder ans Schreiben hat glauben lassen.
Professionell betrachtet ist wohl obligatorisch, dass ich einen politischen Text wählen: Mein Artikel in der taz zu Nazi-Rap aus Deutschland in Folge des Terroranschlags von Halle.

 

Gibt es einen unveröffentlichten Beitrag von dir, den du schon immer gerne mal publizieren wolltest, es sich aber nicht ergeben hat? Kaput biete sich im Rahmen der Serie gerne dafür an. 😊

Es gibt einige Ideen, die ich gerne verfolgen würde, die aber eine kostspielige Recherche bedürften, aber keine unvollendeten Artikel.
Da habe ich mehr Texte, Flugschriften, Romane zu Non-Musikthemen im Regal.

Deine 3 Lieblings-Musikjournalist:innen?

Jan Wigger – Bis jetzt ungewürdigt, war seine Abgehört-Kolumne in den 00er Jahren für mich ein ganz wichtiger Ort zur eigenen Weiterbildung und zur Etablierung dessen, was man Geschmack nennt.

Dietmar Dath – Anders als sein Spex-“Kollege” mit den gleichen Initialen schafft es Dath bis heute, vom Großen ins Kleine zu wechseln, um dort wieder verdammt Großes zu finden. Außerdem komme ich selbst ursprünglich aus dem MINT-Bereich und empfinde eine (über-)natürliche Connection über physikalisch-chemische-mathematische Zugänge zur Welt.

Clara Drechsler – Heute noch lese ich alte Spex-Ausgaben und frage mich, wie man mit so viel Haltung, Witz und Großmäuligkeit schreiben kann und konnte. Und sie hat einige der wichtigsten Stilblüten der Musikgeschichte hervorgebracht.

Honourable Mentions: Martin Büsser und Tim Stüttgen – akademisch-geschult, links, Pop als Ware und gleichzeitig als Obsession verstehend. Eigentlich könnten beide auch in den Top 3 stehen. Sie haben mir auch sehr viel beigebracht über Pop, Musik, Avantgarde, Queerness, Subversivität und Politik.

Du bist selbst seit den 2010er Jahren als Autor aktiv. Was sind die einschneidendsten Veränderungen in deinem persönlichen Berufsprofil über diesen Zeitraum?

Ich habe neben der Musik zuerst über Filme geschrieben, dann über Literatur und heute über Kunst. Jedes Mal ging damit eine Neuorientierung einher und eine Veränderung der Arbeitsbedingungen. Der größte Schritt war jedenfalls als ich vor zwei Jahren meine Brotjobberei aufgegeben habe und voll auf das langsam dahinsiechende Feld Kulturjournalismus (mit Haltung und politisch links verortet) gesetzt habe.

Und über den eigenen Horizont hinaus: wie empfindest du den Status Quo des Biotops Musikjournalismus im Jahr 2024 im Vergleich zu früher?

Ich habe gerade selbst dahinsiechend als Vokabel benutzt, dafür muss ich mir jetzt auf die Finger hauen. Diese Schwarzmalerei ist nämlich das größte Problem der Szene. Immer wird schon bald alles sterben und in sich zusammenbrechen – und das schon seit 20 Jahren!
Wir wollen alle vom Schreiben leben, das ist klar, aber es herrscht eine Anspruchshaltung, die ich nicht nachvollziehen kann. Da wird schon fast trotzig wie ein Dreijähriger postuliert: Ich möchte aber dreimal im Jahr verreisen und außerdem dreimal die Woche im Grill Royal essen können. Wenn man sich aber damit abfindet, dass es vielleicht vorerst ausreicht, seine Miete und Essen zu zahlen, dann wird Musikjournalismus zu einem ganz normalen Arbeitsfeld – was der Sache ganz gut steht.

Ein weiteres Problem: Eine Schein-Professionalisierung, die in den letzten Jahren stattgefunden hat. Da fordern selbst die kleinsten Newcomer-Bands eine Einsicht in den Artikel noch bevor sie überhaupt mit einem geredet haben; da erzählen abgehalfterte Label-Manager permanent von Themen (damit sind Künstler*innen gemeint), die entwickelt, gepitcht und skaliert werden müssen; die Marketingsprache hat sich verdammt breit gemacht.
Dieses pseudo-intelligente Schwätzen gepaart mit einem großen Protektionismus gegenüber dem “Produkt” führt immer häufiger zu einer Aushöhlung der Inhalte.

(Wie) kann man Musikjournalismus in das Storytelling von TikTok und Instagram überführen?

Falsche Frage! A) Passiert das doch schon längst und B) Gibt es Inhalte, die nicht heruntergebrochen, vereinfacht, popularisiert oder schnell veröffentlicht werden können. Das ist auch okay so. Es sollte eigentlich eher selbstbewusst das Gegenteil angestrebt werden: Wieder dichter, intelligenter, besser schreiben.

Stichwort Karriere. Ab wann war Musikjournalismus für dich eine Berufsoption?

2022

Bereust du die Berufswahl manchmal?

Nein, ganz im Gegenteil: Ich bin stolz darauf, dass ich Musikjournalist (und Kunstkritiker) bin, ohne je große Kompromisse oder gar Zugeständnisse machen zu müssen. Ich schreibe nur für die Organe, die ich selbst lese – und niemals für Springer.

Letzter musikjournalistischer Beitrag, der dir so richtig gut gefallen hat. (gerne mit Link)

Alex Samuels Artikel zu Subkultur in Palermo.

 

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