Week of Surprise im Stadtgarten, Klub JAKI, Christuskirche, Galerie Martina Kaiser

“Ein unaufgeregteres Verhältnis zur Zeit”

Sofia Jernberg (Jon Edergren)


Die “Night of Surprise” gehört zu den Klassiker-Events der Kölner Musikszene. In 12+x Stunden kann man hier soviel erleben wie sonst nur an einem ganzen Festivalwochenende. Pandemie bedingt ist ein so sehr auf dem sich treibenlassen basierendes Livekonzept jedoch schwierig umzusetzen, so dass aus der einen Nacht in diesem Jahr eine Woche wird: die “Week of Surprise”.

Mit dabei sind zwischen dem 11. und 16. Oktober u.a. Peter Evans & Elias Stemeseder, Sofia Jernberg & Alexander Hawkins, Julien Desprez´ Abacaxi, Fred Frith & Lotte Anker sowie DJ Marcelle und Kampire.

Der Kurator Thomas Gläßer hat uns im Vorfeld ein paar Fragen beantwortet. 

 

Thomas Gläßer

Thomas, zunächst möchte ich ich an diesem speziellen Punkt der Pandemiegeschichte, wo ja langsam Konzertorte und Clubs wieder zu einer (neuen) Normalität (zurück)finden, fragen, wie du die letzten anderthalb Jahre erlebt hast, sowohl persönlich als auch was dein kulturelles Agieren betrifft?

Im Grunde habe ich das Runterfahren, wie viele Kolleg*innen und Musiker*innen, mit denen ich gesprochen habe, als beinahe wohltuend und auch als sehr beeindruckend erlebt: Ich war in den ersten Lockdown-Monaten in Berlin – und noch nie habe ich die Stadt so sehr als undefinierte Landschaft erlebt, weil die sozialen und kulturellen Energieströme so stark reduziert waren. Ich habe die Unterbrechung, die Verunsicherung vieler Menschen, auch die Solidarität und Vorsicht im Umgang miteinander in den ersten Wochen als sehr ermutigend empfunden und gestaunt, wieviel synchrones kollektives Handeln in einem Moment, der wirklich als reale Krise empfunden wird, möglich ist.

In einer zweiten Phase war ich dann etwas enttäuscht, dass die Kunst- und Kulturszene nicht noch mehr aus der Ausnahmesituation gemacht hat. Ich hatte irgendwie offensichtlich den unterschwelligen Glauben, dass die besondere Situation besondere kreative Energien freisetzen würde und noch mehr Menschen, gerade Kulturschaffende, sich an einer Neuverhandlung der Prämissen des gesellschaftlichen Zusammenlebens beteiligen würden, aber vielleicht ist dieser Zug, trotz der starken Sehnsucht nach Normalität auch noch nicht abgefahren und die Veränderbarkeit gesellschaftlicher Konventionen und Rahmungen, die wir vor allem in den ersten Krisenmonaten erlebt haben, bleibt als Erinnerung und Potential aufrufbar.

Und in den letzten Monaten habe ich stark wahrgenommen, wie erschöpft viele Menschen davon sind, dass viele alltägliche Formen sozialer Resonanz so lange nicht alltäglich verfügbar waren. Ich bin gespannt, wie die Dinge sich jetzt weiterbewegen werden und hoffe im Grunde auf neue Gestaltungsprozesse in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen, auch in der Kultur.

Die alljährliche”Night of Surprise“ ist ein Fixpunkt im Programm des Stadtgartens – eine Nacht der absoluten Überforderung im positiven Sinne, bei der man aufgepuscht von Performance zu Performance stolpert sozusagen. Nun wird die Nacht in diesem Jahr als Woche zelebriert und zur „Week of Surprise“, mit dem Nebeneffekt, dass man eben nicht mehr alles verdichtet und Seite an Seite präsentiert bekommt, sondern als einzelne Positionen im konzentrierteren Wirkungskosmos. Inwieweit hat das deine kuratorische Arbeit beeinflusst?

Du triffst hier einen interessanten Punkt, denn auch wenn es musikalisch zwischen der “Week of Surprise” und der “Night of Surprise” große Schnittmengen geben wird, werden sich die beiden Veranstaltungen auf der Erlebnisebene nur entfernt ähneln: Das entgrenzte, labyrinthische Moment der “Night of Surprise” kann sich in der zeitlich und räumlich entzerrten Form der “Week of Surprise” kaum einstellen, selbst dann nicht, wenn man jeden Tag kommt und sich die musikalischen Eindrücke akkumulieren und überblenden. Als Publikum würde mir das diesjährige Festival trotzdem so am meisten Freude machen: Jeden Tag wiederkommen und eine neue musikalische Erfahrungsschicht hinzufügen. Musik hinterlässt auf so vielen Ebene Eindrücke, die oft noch tage- oder wochenlang weiterschwingen – und so kann man vielleicht auch über mehrere Tage in einen kleinen dionysischen Sog geraten.

Zu Deiner Frage zurück: Beim Programmieren der diesjährigen Ausgabe haben mich mehrere Dinge gereizt: Erstens, dass man in diesem Jahr – so man möchte – wirklich jedes einzelne der achtzehn Konzerte vollständig erleben kann, ohne gleichzeitig etwas anderes zu verpassen. Sozusagen ein dekomprimiertes Programm.
Zweitens ist das Programm ingesamt konzertanter und auch kontemplativer, und setzt damit Akzente, die in einer normalen “Night of Surprise” mit ihrem teilweise wandelnden und auch nicht immer andächtigen Publikum so nicht möglich wären. Die beiden Nebenspielstätten Christuskirche und die Galerie Martina Kaiser sind dabei als Räume für sehr konzentrierte, subtile Musiken konzipiert, die oft tief und auf feine und feinste Art in die Klangmöglichkeiten des Raumes und der Instrumente hineinlauschen – u.a. sind dort die beeindruckend differenzierte Solocello-Musik von Judith Hamann, das erste Instrumentalstück der französischen Minimal-Avantgardistin Eliane Radigue und Thomas Ankersmit mit einer Analog Synthesizer-Hommage an die großartige Klang-Künstlerin Maryanne Amacher zu hören.
Und drittens knüpft das Programm an verschiedenen Stellen an die Festival 2014 bis 2019 an, in dem ich einige Musiker*innen, die einen besonders tiefen Eindruck hinterlassen haben erneut eingeladen habe – u.a. Stian Westerhus, DJ Marcelle, Thomas Ankersmit, Sofia Jernberg oder Gavsborg von der experimentellen jamaikanischen Production Crew Equiknoxx.

Ich bin im Grunde sehr froh, nach den letzten eineinhalb Jahren nicht unvermittelt zum alten Format zurückzukehren, sondern sozusagen tief Luft zu holen und das Festival als Raum für ein genaueres Hinhören, für Kontemplation, Erinnerung und eine Bewegung ins Offene anlegen zu können. Ich bin gespannt, wie das Publikum darauf reagiert.

Zunächst mal ein Kompiment zum wirklich sehr spannenden Lineup der Woche. Als Co-Kurator der Monheim Triennale freue ich mich natürlich mit Sofia Jernberg und Stian Westerhus gleich 2 Künstler:innen unseres Lineups vertreten zu sehen. Warst du denn in Monheim präsent und hast sie dort erlebt?

Tatsächlich war ich im Juli für einen Abend bei dem Prequel-Festival der Triennale in Monheim und habe dort das Konzert von Stian Westerhus gehört und auch viele der anderen tollen Musiker*innen getroffen, die – wenn ich es richtig verstanden habe – auch die im nächsten Jahr dann hoffentlich voll aufgeblühte erste richtige Ausgabe der Monheim Triennale prägen werden. Es ist spannend, dass hier gerade eine neue strahlkräftige Spielfläche für aufregende und moderne Musik jenseits einfacher Genrezuordnungen oder Kategorien entsteht – zumal Monheim den Musiker*innen Raum für Kollaborationen anbietet und damit einer anderen Logik folgt als der konventionelle Festivalbetrieb. Etliche Musiker*innen, die zur Triennale eingeladen sind, durfte ich im Rahmen von “Reconstructing Song” oder der “Night of Surprise” in den letzten Jahren persönlich kennenlernen und bin außerordentlich gespannt, was sie 2022 in Monheim präsentieren werden.

Fred Frith & Lotte Anker

Betrachtet man das Programm der “Night of Surprise“ so fällt auf, dass du nicht nur Einzelpositionen gebucht hast, sondern es oft um gemeinsame Auftritte von Musiker:innen geht. Was kannst du uns zu den diversen Konstellationen sagen?

Der Eindruck trügt möglicherweise ein wenig: Es spielen in diesem Jahr zwar viele herausragend besetzte Duos bei der “Week of Surprise”, die Musiker*innen spielen aber in etlichen Fällen schon seit Jahren oder Jahrzehnten zusammen – wie die bereits genannte Vokalistin Sofia Jernberg mit dem Pianisten Alexander Hawkins, der herausragende Baglama-Spieler Kemal Dinc mit der Sängerin Yadigar Kocer oder der Avantagarde-Gitarrist Fred Frith mit der Saxophonistin Lotte Anker. Auch hier kommt ein unaufgeregteres Verhältnis zur Zeit zum Ausdruck – ich sehe in diesen Zusammenarbeiten eine Ausdauer und den Umgang mit der Herausforderung, im intimen Zusammenspiel immer wieder neue Qualitäten, Ideen und Energien zu entdecken. Der ebenfalls bereits genannte Stian Westerhus, der als musikalischer Alchemist zwischen Instrument, Stimme und Elektronik bekannt geworden ist, experimentiert mit der Sängerin Maja Ratkje zum Beispiel mit einem extrem reduzierten akustischen Set-Up: Mit Stimme, Akustikgitarre und Harmonium entstehen intensive, fast filmische Songs.

Neben den Konzerten lebt die “Night of Surprise“-Reihe auch stark von ihrer Clubseite. Diese wird diesmal von Künstler:innen wie DJ Marcelle und Zozo sowie DJ Kampire (aus dem Nyege-Nyege) bespielt, die gemeinsam mit lokalen DJs wie DJ Brom und den Residents des Tom Tom Clubs auflegen werden. Für dich derzeit die spannendsten Positionen für elektronische Musik?

Ehrlich gesagt haben wir uns hier einfach überlegt, wer nach den dürren Monaten eine wirklich gute, warmherzige, wilde und musikalisch attraktive Party rocken kann – auch das muss man ja erst wieder lernen!

kampire

“Week of Surprise”
11.-16.10.2021
Stadtgarten, Klub JAKI, Christuskirche, Galerie Martina Kaiser

Mit dabei sind unter anderem Peter Evans & Elias Stemeseder, Sofia Jernberg & Alexander Hawkins, Julien Desprez´ Abacaxi, Now My Life is Sweet Like Cinnamon,”Elemental II” von Eliane Radigue (played by Kasper T. Toeplitz), Of Cabbages and Kings, die Installation “Creating Reality” (Siegfried Koepf & Bernhard Haerpfer), Fred Frith & Lotte Anker in einer Begegnung mit lokalen Improvisator*innen, DJ Marcelle, Kampire, Judith Haman “Shaking Studies” / “Music for Cello and Humming” uvm.

 

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