50 Jahre Hippies
Signe Tole Anderson 1941 – 2016
Paul Kantner 1941 – 2016
Dan Hicks 1941 – 2016
Ihnen standen alle Türen offen. So mag man meinen. Elvis hatte die Vorarbeit geleistet, ebenso das Blues- und Folk-Revival, der junge Dylan und vor allem die Euphorie der Detroiter Soul Musik, ach, und natürlich die Beatles und Stones. War doch alles da, 1964. Doch das ist lediglich die Welt im Blick zurück; der Blick, welcher alles schon erklärt und in Zusammenhang gebracht vorfindet. Tatsächlich scheint es doch vielmehr, als habe es nichtmal Rahmen für die Türen gegeben. Nichts stand offen – oder eben alles, und so wurden sie die Hippies.
Allein die Assoziationen zu jener Bezeichnung ließen sie im Schatten des Mythos “Punk” aus der Wahrnehmung tröpfeln. Eine fein geordnete Welt: Falsch und Richtig. Irgendwann im 60er Revival, welches die 80er prägte und im Vergleich zu heutigen Revivals enorm detailverliebt, ja verbissen und im steten Gedanken eines kulturellen (oder auch nur coolen) Vorsprungs zelebriert wurde, kamen sie zurück. Es war ihnen gar ein strukturelles Revival vergönnt, nicht mit Retro-Sounds, sondern dem brandneuen Acid House im zweiten Summer of Love 1988. Wann war eigentlich der erste?
Während in vielfacher Form den Leuten seitens alternder Pophistoriker (wie mir) die Gelegenheit gegeben wird, zu lernen, dass Punk vor 40 Jahren (ach du Schreck! Die Zeit…) begann, erinnert lediglich ein dünnes Buch von Frank Schäfer („1966 – Das Jahr, in dem die Welt ihr Bewusstsein erweiterte“) an den Sommer der Liebe anno 1966. Dabei wäre dies doch das wirklich runde Jubiläumsdatum. Ich glaube, es liegt gar nicht daran, dass man mittels der Distanzierung vom Hippietum immer noch fade Distinktionsgewinne einfahren kann oder man im Dienste des “offiziellen” Summer of Love anno 1967 noch ein Jahr wartet, denn Punk ging auch erst 1977 durch die Decke und wird heuer gefeiert.
Ich glaube, es liegt an etwas Anderem: am Tod. Doch als an einem Tag die Jefferson Airplane Mitglieder Signe Tole Anderson und Paul Kantner starben, zeigte sich mein Facebook ziemlich ungerührt, wenige Tage darauf, zum Tode des ehemaligen Charlatan und späteren Leader der Hot Licks, Dan Hicks, kondolierten zumindest die Sophisticateten des Songwritings. Auch sie meist geprägt von den feinen Verästelungen jenes einstigen 60er Revivals. Klar, anderswo sprachen Freunde, Begleiter und Zeitgenossen:
A HAIKU FOR THE GREAT MAN
DAN HICKS slides stage left
shuffling off his mortal coil
to sweet bye and byes.
(Wavy G.)
HAIKU FOR PAUL KANTNER
So long Paul Kantner.
Farewell author of anthems.
Now sleep in the stars.
(Wavy G.)
Gar nicht unwahrscheinlich, dass sich hier schon die Trennlinien im Ästhetischen manifestieren. Dabei könnte Wavy Gravy, der Autor dieser Haikus, welcher einst im Zuge der improvisierten Notfallverpflegung auf dem Woodstock Festival “What we have in mind is breakfast in bed for 400.000 people” verkündete, nicht präziser sein. 17 exakte Silben als Charaktervignette jener Typen, die er lange vor jener überdimensionierten Jugendherberge kennenlernte, nämlich mitten im nervösen oder vielleicht auch ganz entspannten Aufbruch einer Generation. Hugh Romney, den Blues Star B.B. King in Wavy Gravy umtaufte und der sich einst als “Nobody” für das Präsidentenamt empfahl, wurde vor wenigen Wochen 80.
Hatten wir noch Fragen an Signe Tole Anderson, Paul Kantner und Dan Hicks?
Also mir würden welche einfallen. Mit etwas Rechercheglück finde ich sie irgendwo, in alten Zeitschriften oder Büchern, gestellt und beantwortet. Aber was der Blick in die Literatur offenbart, ist erst einmal eine recht dünne Datenlage.
Eines scheint klar: die Welt der Folkies an der Westküste anno 1964 war so offen und ungeklärt, wie durch ein Nervengeflecht an persönlichen Bänden verknüpft: Irgendwie kannte jeder jemanden, der wohl auch was konnte und es bedurfte nur der nicht unwahrscheinlichen Begegnung zum atemlosen Pläne-Schmieden. Schon funkten die initialen Impulse.
Der Stimulus hieß oft genug: Rockband gründen. Und das war so bekloppt wie nur was. Die Quellen berichten von einer Überheblichkeit der Folkies gegenüber dem Rock’n’Roll, diesem Kinderkram. Und wenn vielleicht die Eltern schon Bohemiens waren oder das Geld mit dem Unterrichten der ausgefeiltesten Blueslicks verdient wurde, dann hieß diese silly Entscheidung erstmal auch: Verrat. Ja, so muss man es sich vorstellen. Wer heute vom Indie-Folk zu Dubstep oder R&B wechselt, der wählt nur eine andere Tür, doch wie diese Rockmusik klingen könnte, war seinerzeit völlig unbekannt, Terra Incognita, der Siedler erwacht und sucht das gelobte Land in einem Übungsraum, Black Box Music wäre vielleicht der treffende Terminus.
Der soeben erwähnte und zitierte Wavy Gravy war übrigens Teil eines nicht unerheblichen Trails, der in der ersten Hälfte der 60er aus der Bohemia des New Yorker East Village, wo er sich bereits einen Namen gemacht hatte, gen Westen zog. Denn in Los Angeles und Frisco, da soll es das Gold des “Alles ist Möglich” geben! Tatsächlich erscheint jener Prozess, welcher Velvet Underground von einer Folk-Rock Band zu jenem Phänomen werden ließ, als dass wir sie kennen, vielmehr verwandt mit aktuellen künstlerischen Entscheidungsprozessen, ihr massgeblicher Modus: Ausschluss – “Das geht nicht, jenes auch nicht und so auf keinen Fall, wie peinlich wäre das denn?”.
Doch die Charlatans und Jefferson Airplane sahen was ging, ein Kaleidoskop der Möglichkeiten, ach Quatsch, ein Universum! Dabei erweisen sich die Charlatans als Variante der Velvet Underground Idee, wenn nicht gar als Vorwegnahme des Prinzips Roxy Music: Ein kunstaffiner Designer, der zarte Schönling George Hunter kreiert sich eine Band, Instrumente beherrscht er keine, singen kann er nicht, aber er hat Ideen. Bald steht da eine Truppe, aufgereiht in Enterprise-artigen futuristischen Anzügen, doch Hunter fühlt, das ist noch zu normal, wie all die anderen Bands im corporate Style, mit einer originellen Idee und nach einer kleinen lokalen Hitsingle zum Scheitern verurteilt. Hunter will nicht scheitern, er will Legende. Er bekommt sie, aber dafür nicht mal einen lokalen Hit.
Wie Science Fiction klingt die Erzählung von all den seltsamen Typen, von reichen Bohemiens, die einen alten Wild West Saloon in einer Kleinstadt im weiteren Umfeld von San Francisco stilgetreu renovieren, von einer Szene in Klamotten aus dem 19. Jahrhundert, die sie im Laden von George Hunters bestem Freund erwerben, von dem abstrakt expressionistischen Maler, der seine Kunst in Bewegung bringen will und Farben auf Overheadprojektoren zerfliessen lässt, während ein Anderer herausfindet, wie sich Ton und Licht synchronisieren lassen und ein Dritter das tollste LSD synthetisiert. Und ja, wie der Jazz Drummer Dan Hicks, waren viele, die diese Typen an der Uni sahen, extrem fasziniert – extrem heißt: sie wollten Teil davon sein, was auch immer es war.
All dies geschah 1965, zwei Jahre später spielen die Charlatans auf einem Truck unter dem Banner “Summer of Love“ im Golden Gate Park, umweht von ihrem Virginia City Mythos und schon am Ende einer Ära. Das Jahr 1966, ohne große mediale Aufmerksamkeit, dafür mit einer in vielem autarken Szene aus den seltsamsten Typen, gerät ins Zentrum der Perspektive, das “Human Be-In” im Golden Gate Park am 14. Januar 1967 als sein winterlicher Höhepunkt, nicht etwa, wie es eine andere Geschichtsschreibung will, sein Anfang. Als die Charlatans endlich 1968 eine LP einspielen konnten, war Hicks schon fort, doch sein Solo-Schaffen mit den “Hot Licks” erscheint als die konsequente Weiterführung der Bandidee im Retro-Craze.
Andere verdienten 1966 längst mit der Musik Geld. Marty Balin wird in San Francisco den Club Matrix eröffnen, doch vor allem träumt er 1965 von einer eigenen Band, eine, die gleich den Byrds aus Folk Rockmusik machen würde. Balin hatte bereits in der West Side Story getanzt und zwei Teeny Pop Singles eingespielt, nun sang er mit einer Folk Band, doch er suchte etwas Neues, wofür die Worte oder gar Klassifikationen fehlten. Es ist die Besonderheit jener Zeit, dass sie Künstlern mit solch maßlosen Ansinnen die historische Chance bot, ihre Träume umzusetzen. Nichts war fertig, lose Enden überall und Acid… Balins Idee einer neuen Band war von Trip Erfahrungen befeuert und bald sollte er einen Gitarristen aus Los Angeles kennenlernen, der bereit war, die Reise anzutreten. Paul Kantner war just nach San Francisco gezogen, hatte die Szene um Ken Kesey und ihre Acid Tests erfahren und die Zukunft gesehen. Die Beiden rekrutieren weitere Freunde. Im Folk Club Drinking Gourd hören sie die kürzlich von Portland an die Westküste gezogene Signe Tole. Ihre kraftvolle Stimme, den niedlichen Zopf-Look konterkarierend, wird zum ersten Markenzeichen der Jefferson Airplane, wenn sie mit dem himmlisch jubilierenden Balin so verführerisch zusammenklingt. Um Schönheit geht’s.
Auch das geschah 1965 und noch mehr, ein Mann mit großem schwarzen Hut und violettem Samtcape behauptet, ein paar unveröffentlichte Dylan Stücke zu besitzen. Der Ex Ballett Tänzer und Literaturagent Matthew Katz macht sich mit Marty Balin bekannt, bald ist er Manager der Airplane. Eher gleich einem Entrepreneur, denn dem Svengali, der er gern gewesen wäre, so erscheint er in seinem Tanz durch die Szene, so bleibt er nicht lange bei der Band, doch seine Streits mit Signe Toles Ehemann John Anderson, einem der Lightshow-Männer des Matrix, begründen eine sehr unfriedliche Eskalation. Als 1966 das erste Album der Jefferson Airplane erscheint, hören wir Signe Toles Gesang, doch sie ist kein Bandmitglied mehr. Interner Streit wird durch alle Harmoniegesänge hindurch stets die Stimmung der Airplane bestimmen, Fraktionen bilden sich und jene aus der neuen Sängerin Grace Slick und ihrem Freund Paul Kantner prägt die Hochphase der Gruppe. “Er schrieb den Soundtrack zum Hippie Gefühl”, konnte man bei Spiegel Online nachlesen. Das stimmt so nicht, eher stand er am Rand, denn mit Kantner und Slick fand die Politik ihren Weg in die Songs der Airplane. Dort, wo Slick feministisch argumentierte, war sie brilliant, dort wo Kantner als Chronist wirkte, traf er den Nerv. Programmatische Vordenker waren beide nicht. Doch ohne politische Statements sind und bleiben die Hippies eben für deutsche Historiker undenkbar.
Dabei schien es doch vielmehr eine Hippie Strategie, nicht verortbar zu sein. Man hielt sich raus oder hielt sich kryptisch. Politische Aktivisten agierten unweit in Berkeley, die Politik der Haight Ashbury war eine Lokale. Wohl im guten Glauben, die Revolution eh zu leben. Das bewahrte sie auch in mancher Hinsicht. Wie falsch Kantner und Slick in ihrer Verehrung des chinesischen Kommunismus lagen, mussten sie dann spätestens angesichts des Tian’anmen-Massakers im Jahr der Bandreunion 1989 lernen.
Vergesst mal die 68er, sie hatten Kraft und Wirkung, sowie ihre Last und Mythen, stets begleitet von Mengen an Fachliteratur, welche den Weg in die Zukunft genau beschrieb. Sie waren, was sie in einer schweigenden Gesellschaft voll trauernder Nationalsozialisten sein konnten (darunter Väter, von denen manche mehr übernahmen, als sie sich klar machten). Ein Kampf gegen das Gestern im Heute, um eine Gesellschaft zu schaffen, die sich ihrer Vergangenheit stellt, um Wandel zu ermöglichen. Sie kämpften bar Alternativen. Die Hippies mussten nichts dergleichen, waren einfach dem American Dream entlaufen und hatten die Zukunft im Sinn. Sie beriefen sich für ihre neue Welt nur auf eine Menge hemmungs- und haltlos interpretierte Literatur von mythologischen Texten aus Indien über aktuelle Science Fiction Bücher bis zu den Beat Poets, von denen einige 1966 auch vor Ort waren. Dass ihr Traum das gesamte Jahr 1966 lang eine gelebte soziale Utopie generierte, ist so wundersam wie beeindruckend zugleich. Vielleicht bedurfte es den subtileren Verletzungen einer sonnenbeschienenen, verwöhnten Generation, die ihre soziale Utopie innerhalb von drei Jahren an die eigene Popularität (also die eigene Popkultur) verloren, so dass ihr medialer Erfolg bereits die kalten Schatten des Altamont Festivals und der Mordexzessen der Manson Family ankündigte.
Doch denken wir heute mal an Anderson, Kantner und Hicks anno 1966, sie sind es wert, denn was sie erlebten mag neidisch machen. Es gab da eine eine offene Tür, jene Hintertüre, welche den Marginalisierten den Weg ins Zentrum ermöglichte, für ein paar Jahre hielt die spannendste Musik dieses Tür offen. Für Freaks, Spinner, genialistische Visionäre und jene, die einfach ein anderes Leben wollten. Einige dieser Typen waren großartig begabt, hatten wahnwitzige Ideen oder einfach Mut. Die Räume für diese anderen Leben werden Jahr für Jahr enger. Vielleicht müssen wir einander bestärken und in ihren Hoffnungen anmaßend scheinende Hymnen singen, vielleicht im für die Karriere falschen Moment “Nein” sagen, ohne Gram und Groll oder seltsam tanzend, die feinsten Kapriolen schlagend, uns selbst erschrecken, aber in den tollsten Klamotten (jene, die nur den anderen als Verkleidung erscheinen). Dann werden wir sie nicht ganz vergessen, die Hippies von vor 50 Jahren.
Epilog: 1967 folgte auf das Human Be-In der weltweite Ruhm, Tom Wolfe schrieb in „The electric cool aid acid test“ wie im Laufe des Jahres die Szene überrannt wurde, die von den „Diggers“ ausgegebenen Free Meals machten nicht mehr alle satt und spätestens nach dem Monterey Festival fuhren die Touristenbusse durch das Haight Ashbury Viertel. Am 6. Oktober trugen sich einige Szene Aktivisten in einer Prozession selbst zu Grabe: “Death of Hippie”.
Signe Tole (oder Toly) Anderson war schwanger als sie die letzten, versöhnlichen und irre guten Konzerte mit Jefferson Airplane spielte. Sie wollte der Sache treu bleiben, misstraute dem Star-Versprechen und tauchte erst viel später in diversen Reunion Projekten wieder auf, ihre Stimme noch lebendig und kraftvoll, wie auch auf den letzten Privataufnahmen aus dem Jahr 2011, die man bei Youtube sehen kann.
Ohne Dan Hicks veröffentlichen The Charlatans eine großartige LP, doch viele Fans schätzen die frühen, nun mittlerweile mehrmals reissueten Aufnahmen noch mehr. Leider blieb ihnen ein Hit verwehrt. Die Charlatans fanden in den letzten drei Jahrzehnten, unter der Beteiligung von Hicks, immer wieder mal zusammen, zuletzt 2015 um ihr 50. Jubiläum im Red Dog Saloon zu begehen. Von ihnen wie von Dan Hicks & his Hot Licks mag jeder aufgenommene Ton zum Besten gehören, was sich in einer Plattensammlung finden lässt.
Gleiches gilt für fast alles von Jefferson Airplane und ihren vielen Seiten- und Solo-Projekte bis Mitte der 70er. Leider hat es mit der Freundschaft untereinander jenseits der alten Fraktionen nie so recht geklappt. Doch wenn Paul Kantner mit seinem Jefferson Starship in den 90ern durch die Welt zog, sah er aus, wie ein Dschungelkämpfer, der in seinem einsamen Unterstand das Ende des Krieges verpasst hat, immer noch bereit für die große Science Fiction Revolution, von der seine Hymnen so wundervoll schwärmten.
Und Wavy Gravy? Er kannte alle, war überall dabei, besuchte mit seiner „Hog Farm“ sogar mal Hippies in (of all places) Nürnberg, kandidierte als “Nobody” (“Nobody keeps all promises“) für das Präsidentenamt, schrieb seine Memoiren (“Something good for a change”) und kümmert sich seit langem um Kinder aus prekären Verhältnissen. Er hält die Flagge hoch. Mag er bei bester Gesundheit 120 werden – mindestens.