Popkulturthema Nummer 1: Der Tod

“Wenn das der Führer wüsste, Oma!”

30. Januar 2019,

“Wenn Großmutter hier als Textfigur auftaucht, dann ist das auch mein Wunsch – wonach eigentlich? Eine posthume Gabe, sicherlich, ein Liebesbeweis vielleicht, der Wunsch, etwas festzuhalten womöglich. Der Tod soll sie nicht ganz bekommen, und mich auch nicht; nicht, was zwischen uns war, diesen Teil von mir, der mit ihr zu verschwinden droht.”
In diesem ganz besonderen Text teilt der Buchautor Jasper Nicolaisen Gedanken zu einem sehr persönlichen Verlust. Schmerzlich, tröstlich, ehrlich.


Vor einem Jahr ist meine Großmutter ist gestorben. Das ist ein privates Unglück – für mich. Für sie ist es etwas, das ich als Lebender, als Enkel nicht beschreiben kann. Ich bin mir sicher, dass sie erleichtert war, dass viele Schmerzen ein Ende hatten. Ich weiß, dass sie sich gesorgt hat, ob alle gut versorgt wären und ob alles richtig weiter ginge. Alles andere sind nur die Fantasien eines Typen im mittleren Alter, der beim Gedanken an die Oma wieder Kind ist. Ob sie etwas bereut hat, ob sie gerne noch weiter gelebt hätte – woher soll ich das wissen? Meine Sorgen sind Familie, Arbeit und das nagende Gefühl, tatsächlich noch dieses Kind zu sein, das die Oma gekannt hat, nur dass ich jetzt für andere da sein muss.
Es macht mich traurig, dass ich sie nie gefragt habe, wie sie zu all dem steht. Aber noch trauriger macht es mich, dass es niemals einen Raum gegeben hätte, in dem diese Fragen gestellt und beantwortet hätten werden können. Nicht zwischen uns, nicht unserer Familie und vielleicht nie zwischen Oma und Enkel, zwischen den Alten und den Jungen.
Mehr noch als die Zeit, stelle ich mir vor, verstellt Körperliches die Verständigung. Wie kann jemand, der nicht mehr gut gehen, nicht mehr gut sehen kann, der Pillen für fast alles bekommt, dem die Gelenke, der Rücken, die Knie schmerzen, dem die Gegenwart kaum noch im Gedächtnis bleibt, dem die Welt und wie alles darin heißt entgleitet, wie kann so jemand sich mit jemandem verständigen, der es als gegeben hinnimmt, dass Körper und Verstand mitspielen, während die Probleme aus dem Draußen kommen und nach Antwort verlangen?
Ihr Tod ist also ein privates Unglück und etwas kaum zu Beschreibendes, jedenfalls nichts, was in geschriebener Form und an der Öffentlichkeit Platz hätte. Meine Großmutter war keine öffentliche Figur und hätte es auch abgelehnt, eine zu werden. Sie wollte auch nach dem Tod, wie man im wortkargen Norddeutschland sagt, kein „Gedöns“. Wenn es aber, hielt sie fest, nach ihrem Tod eine kleine Zusammenkunft gäbe – etwas, was ihr keineswegs sicher zu sein schien – , dann möge dort bitte auch ein Imbiss gereicht werden. Das war alles. Sie wünschte sich, verbrannt und ins Meer gestreut zu werden.
Wenn sie hier als Textfigur auftaucht, dann ist also auch das nur mein Wunsch – wonach eigentlich? Eine posthume Gabe, sicherlich, ein Liebesbeweis vielleicht, der Wunsch, etwas festzuhalten womöglich. Der Tod soll sie nicht ganz bekommen, und mich auch nicht; nicht, was zwischen uns war, diesen Teil von mir, der mit ihr zu verschwinden droht. Das Behauptenwollen: die Oma hat nicht umsonst mitgeholfen, einen großzuziehen, der die Magie der Kunst hat, die doch stärker sein soll als der Tod.
Warum soll aufgeschrieben sein? Mir liegt nichts an einer Lebensbeschreibung, die sie nicht gewollt hätte und die von keinerlei Interesse für die Welt wäre. Meine Großmutter war, wie gesagt, keine öffentliche Figur, und sie hat, so weit ich weiß, auch im Privaten nichts geleistet, was die Öffentlichkeit jetzt noch erfahren muss, gleichgültig, wie viel sie für mich getan haben mag.
Sie war keine öffentliche Figur. Im Gegensatz zu meinem Großvater, der politisch aktiv war, im Finanzsektor, Bundesverdienstkreuz, und im Lexikon bereits mit Textunsterblichkeit versehen. Sie war Jahrzehnte geschieden, in einer Zeit, als das noch nicht der Normalfall war, am wenigsten für die Frau. Sie wurde geboren, als der zweite Weltkrieg noch nicht ganz begonnen hatte. Es blieben aus der Kindheit spannende und lustige Geschichten über im Wald gesammelte Nahrungsmittel und toll tief fliegende Flieger. Es bleib der Irrsinn des Nahrungshortens, des Schimmelabkratzens, des Das-ist-doch-noch-gut. Ich war froh, dass meine Großmutter in den diät- und aerobicbewegten Zeiten meiner Mutter das Kochen mit Fett nach wie vor für etwas Gutes hielt.
Es kam aus der Kindheit der Schrecken, der ehrliche Schrecken, dass die plötzlich verschwundenen Nachbarn doch nicht einfach ausgewandert waren. Alle Enkel bekamen die Kinokarten für „Schindlers Liste“ bezahlt. Wir sollten uns das bloß ansehen. Sie könnte das auf keinen Fall. Nach langem Überlegen wusste sie, dass das Geschäft der Verschwundenen jemand anders bekommen hatte.
Nach der Scheidung blieb ihr das Haus, in dem die Vergangenheit sich stapelte und so durcheinander blieb, wie sie sich auch abgespielt hatte. Wäre meine Großmutter eine öffentliche Person gewesen, hätte es eine begehbare Installation sein können. Es gibt solche Spiele mit Erinnerung, Materialität und Archiven. Der Künstler in der Familie blieb aber der alte Opa meines Großvaters, der achtbar Blumen, Landschaften, Porträts gemacht hatte, die noch aus dem Keller leuchteten. Es sollte auch Generationen davor noch einen Holzschnitzer und Orgelbauer gegeben haben.
Das Lebendighalten der vergangenen Ordnungen und ihre Ausstellung war für meine Großmutter einfach nur das Leben, keine Kunst. Es gab viele Schallplatten mit Musik, die in den Fünfzigerjahren neu war. Der Fernseher, der Knatterkasten, lief nur, wenn das Wetter schlecht genug war. Die Computer würden uns alle die Arbeit wegnehmen, war eine große Angst.
Als ich selber recht ratlos Vater wurde, betrat ich den Archivraum meiner Großmutter noch einmal neu. Sie berichtete mir freimütig, dass ihre Kinder deutlich vor Schuleintritt Abende allein zu Haus verbracht hätten – Repräsentationspflichten in der Politik riefen. Es war damals nicht so mit den Kindern. Das war ein schöner Moment, als wir uns da in der Vergangenheit trafen, die uns beiden noch so geläufig war – anders, als die oft schwierige Gegenwart, in der wir beide noch immer nicht und schon nicht mehr wussten, wie man zu den Dingen sagen sollte. Unbekümmert von den Mutterpflichten, die sie, wie an diesem Abend zu spüren war, unbequem gefunden hatte, ohne eine Alternative zu kennen, aber, wie alles, erledigt hatte, erzählte sie mir Fieses von den Verwandten und kicherte in sich hinein. Es hat seine Vorteile, wenn man mehr weiß, als alle anderen.
Meine Großmutter lebte ein ganz normales Leben im zwanzigsten Jahrhundert, weder besonders gut noch besonders schlecht. Sie war vielleicht typisch für Frauenlebensläufe dieser Zeit, und dass sie das selbst nie so gesehen hätte, gehört auch dazu.
Zur Repräsentationsfigur taugt sie dennoch nicht. Jede andere wäre genau so gut oder genau so schlecht geeignet, wenn sich jemand die Mühe machte – oder eitel genug wäre – ihr Leben auf das hin zu beschreiben, was sich verallgemeinern lässt.
Warum soll sie dennoch hier auftauchen?
Mir fällt als Grund nur der Wille ein. Mehr als die Kunstwerke des Opa-Opas, mehr als das öffentliche Wirken meines Großvaters und mehr als das Echo einer mit Schnitzereien verzierten Orgel des Vorfahren hat mich als Autor der Wille meiner Großmutter getragen. Die zusammengepressten Lippen, das vorgereckte Kinn. Eine muss die Dinge ansehen und aufbewahren, den Schimmel abkratzen und sie für gut befinden. Allen Krankheiten und selbst dem letzten Infarkt noch zu Trotz heißt es weitermachen. Wenn das der Führer wüsste, welche Wege seine Durchhalteparolen bis zu mir gegangen sind!
Für die Kunst, für das Schreiben, zählt die Sturheit mehr als jede Inspiration. Wort für Wort für Wort entsteht ein Text. Ich kenne unendlich viele Leute mit Ideen. Ich höre zu, denke mir meinen Teil und sammle, sammle für das Haus in meinem Kopf. Ein großer Autor der vergangenen Geister und der ungeordneten Häuser, Neil Gaiman, sagte einmal in seinen Ratschlägen an Menschen, die schreiben wollen, dass später niemand mehr wissen würde, ob ein Kapitel entstanden sei, weil man gerade Lust darauf gehabt oder sich abgequält habe. Man müsse es einfach schreiben. Gaiman hat meine Großmutter wahrscheinlich nicht gekannt, aber ich bin mir fast sicher, dass er eine Oma wie sie gehabt haben muss.
Meine Großmutter ist unbeeindruckt vom Tod immer wieder aufgestanden und jetzt endgültig lieben geblieben. Es wird ihr nicht gefallen, aber sie wird das Beste daraus machen. Ich bin am Ende angelangt. Keiner soll sagen, dass wir es nicht versucht hätten.

TEXT Jasper Nicolaisen

Selbstporträt des Autoren

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