Kaput Revisited: Boys Noize, Marcel Dettmann, Paul Kalkbrenner & Modeselektor – Das "Techno"-Salongespräch

Boys Noize, Marcel Dettmann, Paul Kalkbrenner & Modeselektor: Kaffee, Zigaretten und Techno


Seit 1988 die legendäre Compilation „Techno! The New Dance Sound Of Detroit“ erschien, hat Techno weite Wege zurückgelegt und es dabei wie kaum eine andere Musikrichtung geschafft, sich immer wieder neu zu erfinden. Im Herbst 2011 baten Thomas Venker und Sebastian Ingenhoff für das Kulturmagazin Intro fünf der wichtigsten Szene-Repräsentanten aus Europas Techno-Hauptstadt Berlin zu einem Gespräch über den Status quo der Clubkultur an den runden Tisch: Marcel Dettmann, Paul Kalkbrenner, Gernot Bronsert und Sebastian Szary von Modeselektor  sowie Alex Ridha aka Boys Noize.


Lasst uns ganz am Anfang beginnen: Wie seid ihr zum ersten Mal mit Techno in Berührung gekommen?

Alex Ridha: Die ersten Berührungspunkte mit Techno hatte ich durch meinen Job im Plattenladen Underground Solution in Hamburg. Das war so 1996/97. Damals konnte ich mit Techno noch gar nicht sonderlich viel anfangen. Das war die Zeit, als alles ganz schnell und schranzig war. Erst allmählich bin ich dann auch auf so Underground-Resistance-Sachen gestoßen.

Paul Kalkbrenner: Bei mir war es so um 1990. Mein Bruder und ich kamen gerade aus dem Ferienlager und hörten das erste Mal Technotronic. Da war ich vielleicht dreizehn. Damals fing das auch langsam mit dem Ausgehen an. Wir stammen ja aus Lichtenberg, das war dann so Ostberliner Jugendclub-Style. Da lief samstags von sechs Uhr abends bis Mitternacht eben Techno. Berlin-Mitte war für uns damals noch ganz weit weg.

Gernot Bronsert: Bei mir fing es auch mit Technotronic an, so in der siebten oder achten Klasse. Szary und ich gingen auf die gleiche Schule. Später gab es in den alten Zementwerken dann die ersten Underground-Partys. Da hat Szary aufgelegt und war der coole DJ. Ich war damals noch der kleene Hansi und hab ihm immer auf die Finger geguckt, dann aber irgendwann selbst angefangen mit dem Auflegen. Mein erster Plattenladen war Hardwax. Damals noch auf der Reichenberger Straße. Die erste richtige Technoplatte war ein Derrick-May-Remix von „Sueno Latino“ – May hat die Idee zu dem Remix von Manuel Göttsching geklaut, von „E2-E4“, dieser Schachspielkomposition. Das war so kurz nach dem Mauerfall. Das war das erste Mal, dass ich Musik gehört hatte, von der ich nicht genau wusste, was es ist. Das Stück war wirklich revolutionär. Danach ging es mit der elektronischen Musik eigentlich nur noch bergab.

Paul Kalkbrenner

Paul: Der Plattenladen war ja immer so ein Territorium, in dem man sich auch erst einmal durchsetzen musste. Gerade, als man so jung war. Es gab immer die Cracks, die direkt hinter die Theke gegangen sind und ihre dreißig Platten in die Hand gedrückt bekommen haben. Und man selbst stand erst mal unsicher da herum und hatte die Hände in den Taschen.

Gernot: Ich weiß noch, als ich zum ersten Mal im Hardwax Tanith gesehen habe. Der Typ stand da in seinen Camouflagehosen und kam mir unglaublich riesig vor. Damals kursierte ja dieses eine Bild von ihm auf dem Panzer, wo er mit einem Totenkopf posierte. Der sah aus wie ein Voodoopriester aus der Technohölle. Aber als ich ihn dann reden hörte, dachte ich nur: „Gott, der ist ja total lieb.“ Da ist dieses böse Image schon ein bisschen abgebröckelt.

Marcel Dettmann: Es gab ja auch diese ganzen unterschiedlichen Gruppierungen. Ich war der Synthiepop-Typ mit Lederjacke und weißer Jeans. Irgendwann kam dann Industrial dazu: Front 242, Nitzer Ebb und so Zeug. Der erste Club, in dem ich gelandet bin, war das Linientreu am Zoo, das waren EBM-Partys. Aber richtig einschneidend war das erste Mal im Tresor. Da war ich vielleicht vierzehn, fünfzehn. Ich weiß noch, wie ich das erste Mal da reinkam, und da stand tatsächlich so ein Indianer mitten auf der Tanzfläche.

Gernot: Der E-Werk-Indianer! Klar, kennt jeder, der war legendär.

Marcel: Ab da ging es für mich mit Techno richtig los. Wir hatten ja auch einen Plattenladen in Fürstenwalde, das ist eine halbe Stunde von Berlin. Der hat uns dann immer Platten bestellt. Ich hatte nie CDs oder so. Das war für uns nach der Wende auch überhaupt nicht relevant. Ich habe immer alles auf Schallplatte gehabt.
Gernot: CD war uncool. Neben HipHop ist Techno ja die Musikrichtung, für die Vinyl als Medium unglaublich wichtig war. Du musstest eben mit Turntables umgehen können. Man stand im Tresor die ganze Zeit neben dem Mischpult und hat gespottet, was der DJ so macht. Ich weiß noch, als ich mal Hazel B im E-Werk gesehen habe. Die sah eh schon so krass aus mit ihrer Glatze, diese kleine Frau mit ihrem harten Brettersound. Ich hab dann nur auf die Nadel gestarrt und gedacht: „Wahnsinn, dieses kleine Millimeterding ist tatsächlich imstande, einen solchen Krach zu machen. Das will ich auch können.“

Paul: Ab 1997 kam dann so der Neustart, oder? Loveparade mit 1,4 Millionen Besuchern, die Großen hatten alles abgegrast. Dann ging es erst richtig los mit Techno, wie wir ihn heute kennen. Plötzlich kamen ganz viele neue Leute hoch, und in Berlin ging tatsächlich wieder was.
Gernot: Stimmt, so Ende der Neunziger war die erste große Technoblase geplatzt. Das war die Zeit, wo wir auch selbst angefangen haben, Partys zu machen. Szary und ich haben zusammen mit der Pfadfinderei jeden Donnerstag „Labstyle“ im Kurvenstar gemacht, da waren vielleicht so 150 Leute. Später sind wir dann ins WMF umgezogen, und dann ging es plötzlich richtig ab.

Alex Ridha

Alex: Ich bin da echt ein bisschen neidisch, in Hamburg gab es gar nicht so gute Technoclubs. Hamburg war eigentlich immer eher housig. Obwohl man den Berlin-Sound natürlich schon mitbekommen hat. Und den Frankfurt-Sound.

Paul: Es gab ja in ganz vielen Städten eine richtig vitale Szene. In München mit DJ Hell, Köln mit den Kompakt-Leuten. Es ging ja nicht nur in Berlin ab.

Gernot: Mit diesem ganzen langen exzessiven Feiern und so weiter, das ging ja streng genommen erst Anfang der Nullerjahre los. Auf einmal gab es wieder Tracks, die elf Minuten lang waren. Ich glaube, das ist ja auch das Großartige an dieser Musik: Techno hat es geschafft, sich über die Jahre hinweg immer wieder neu zu erfinden. Und so gemischt und bunt, wie er jetzt ist, war es noch nie.

Marcel: Ich würde aber schon behaupten, dass früher tendenziell mehr experimentiert worden ist, gerade von Seiten der DJs. Die haben mal einen Electrotrack gespielt, dann Techno, dann einen Housetrack, einen Discotrack …
Paul: Stimmt schon, heute wird eher Wasserdichtes an Wasserdichtes gereiht. Minimier das Risiko. Das Gefühl habe ich leider auch ein bisschen.

Ihr habt es gerade angesprochen: Im Laufe der letzten Jahre hat sich eine neue Berliner Ausgehkultur entwickelt. Es gibt endlose Afterhours, unglaublich viele Feiertouristen, und die Technokathedrale Berghain gilt gewissermaßen als ihr Sehnsuchtsort. Marcel, dein Name ist natürlich eng mit dem Club verwoben, und du stehst für sehr lange, ausufernde Sets. Inwieweit hat denn der Club selbst dein Auflegen geprägt?

Marcel: Für mich ist das Berghain einfach die perfekte Symbiose. Ich könnte mir den Club in keiner anderen Stadt vorstellen. Genau so empfinde ich das auch, wenn ich da spiele, das ist immer 100%. Es ist einfach etwas komplett anderes, als wenn ich in einer anderen Stadt in einem anderen Laden spiele. Und klar, die Dauer der Sets ist natürlich etwas Besonderes.

Paul: Das Berghain hat ja gewissermaßen die Idee der Afterhour entweiht, weil es einfach kein Ende gibt. Früher musste man die Afterhour noch als solche deklarieren, heute geht man eben sonntagnachmittags ganz normal ins Berghain. Die Sache mit dem Easyjetset entspricht deswegen dem Lauf der Dinge. Früher haben die Touristen gesagt: „Geil, ich habe eine Woche frei und fliege nach Mallorca.“ Heute sagen sie eben: „Nee, ick will nach Berlin.“

Gernot: Es gibt aber neben den Touris auch noch echte Berliner im Berghain. Die gehen halt nur anders aus. Die gehen mit ihrer Familie samstags schön essen, dann um zwölf schlafen und erst am nächsten Mittag ins Berghain. Da wird dann zum Brunch der erste Wodka Red Bull getrunken.

Marcel: Ich fange um neun Uhr morgens an – ab elf wird’s dann bummsvoll, das ist wirklich Wahnsinn – und spiele bis abends zum „Tatort“.

Sebastian Szary: Das ist wahrscheinlich ein typisches Berlin-Ding. In anderen Städten ist es ja wieder komplett anders. In Dublin gehst du um elf Uhr abends in den Club und bist um zwei wieder im Hotel. Die Leute schießen sich dann eben bis zwei total ab. Ich finde das auch toll, weil es so kompakt ist.

Marcel: Aber wenn du zehn oder elf Stunden spielst, hast du natürlich eine ganz andere Welle. Du hast deine 250 Platten dabei und fängst einfach an und spielst. Du brauchst meistens erst mal eine Stunde, um reinzukommen, und irgendwann läuft es, und plötzlich guckst du hoch, und es ist 20 Uhr. Du bist wie in einem Film. In Italien spielst du zwei Stunden und musst in der Zeit alles verpacken. Du musst viel schneller dieses Euphorielevel erreichen. Das geht natürlich auch, ist aber viel schwieriger. Von daher hat das Berghain natürlich mein Auflegen und auch die von mir produzierte Musik enorm geprägt.

Gernot: Das ist bei uns schon komplett anders: Wenn wir mit Modeselektor live spielen, ist eine Stunde und fünfzehn Minuten schon hart an der Grenze. Ich bin da eher für die kurze und schmerzhafte Variante.

Marcel: Als DJ zehn Stunden zu spielen ist natürlich auch enorm anstrengend. Deshalb ist bei mir montags immer Ruhetag. Wie beim Friseur.

Alex: Ich spiele ja eher vor jüngeren Leuten. Man merkt leider schon, dass da ein bisschen diese Kultur fehlt. Die kennen diese Acht-Stunden-Sets gar nicht mehr, die könnten damit gar nicht richtig umgehen.

Gernot: Mittlerweile hat es sich ja auch durchgesetzt, dass die Kids YouTube-Videos filmen. Die filmen natürlich immer die Highlights, da, wo gedived wird, wo sich ausgezogen wird, der Schampus fliegt und alles kaputt gemacht wird. Entsprechend verhalten die sich auch auf den Konzerten. Dann hast du irgendwelche Kids in Texas, die Modeselektor noch nie gesehen haben, die wollen das natürlich auch so wie in den Videos erleben und verhalten sich dann eben auch so.

Alex: Klar stellt das die Idee von Techno auf den Kopf. Am Anfang war es ja erst einmal egal, wer auf der Bühne stand, es ging in erster Linie um die Musik. Man hört Musik, man verliert sich darin.

Marcel: Du musst die Leute da natürlich auch ranführen.

Paul: Bei mir ist es ja eher so ein Zwischending. Ich spiele zwar live, aber in der Regel schon über vier Stunden.

Marcel: Wie machst du das eigentlich mit dem Aufs-Klo-Gehen? Stück laufen lassen, Bass raus und dann weg?

Paul: Nö, ich gehe einfach von der Bühne und mach die Musik aus. Das ist ja das Schöne: Ich kann dann wiederkommen, und die Leute klatschen halt. Wie bei einem normalen Konzert.

Ihr habt ja alle mittlerweile ein gewisses Standing erreicht. Was man nicht nur an euren DJ- und Livebookings und der Resonanz auf die Platten sehen kann, sondern auch an der Unmenge von Anfragen für Fremdproduktionen und Remixe. Ist es nicht absurd, ans Telefon zu gehen und plötzlich alte Helden aus der Kindheit am Hörer zu haben?

Alex: Klar, es war schon krass, als 2006 plötzlich Depeche Mode einen Remix angefragt haben. Das war auch der Moment, wo ich dachte: „Fett, jetzt passiert irgendwas, das ich nicht mehr so richtig unter Kontrolle habe.“ Das war absurd. Da kommen wir natürlich zurück zu diesem Technogedanken. Der bestand eben darin, tausend Platten zu pressen, die man nur im Plattenladen findet. Keine Promo. Kein Gesicht dahinter. So hat das ja bei uns allen angefangen. Dass man seine Musik erst mal nur für andere DJs oder sich selbst macht.

Szary: Man wollte ja nicht mal seine Fresse auf dem Cover der Platte haben. Es ging ja schon prinzipiell um eine bewusste Gesichtslosigkeit.
Alex: Das hat dann aber irgendwann ganz neue Dimensionen erreicht, die man nicht mehr kontrollieren konnte, vor allem durch das Internet. Früher konnte ich meine Platten spielen, und die kannte man in der Regel nicht. Natürlich gab es immer schon irgendwelche Clubhits, aber die hat man als DJ ja bewusst nicht gespielt. Jetzt ist durch YouTube und so weiter alles zugänglich geworden, die Leute sind nicht mehr so leicht zu überraschen.

Marcel: Stimmt, früher hat man Tapes gehört und Stücke gehabt, von denen man absolut keine Ahnung hatte, was das war. Die hat man dann vielleicht durch Zufall zehn Jahre später irgendwo im Secondhandladen gefunden.

Alex: Aber um noch mal zurückzukommen auf diese Remixnummer mit den Superstars: Ich bin da ja nie groß abgehoben. Außerdem hatte ich besonders in Deutschland nie sonderlich großen Erfolg. Du kannst vermutlich jedes beliebige deutschsprachige Magazin aufschlagen und würdest nie irgendwo ein Boysnoize-Records-Release auf Platz 1 der Charts finden – deswegen hatte ich eh schon immer so eine „Mir alles egal“-Haltung, was hier abgeht.

Szary: Boysie ist halt unser Mann in Amerika. Paul, was ist eigentlich mit dir und Amerika?

Paul: Das ist gerade so im Entstehungsprozess. Man hört ja auch in ganz vielen Popproduktionen, dass der 4/4-Beat langsam Einzug hält. Das Problem in den USA ist nur, dass man dort als elektronischer Act immer competen muss mit Leuten wie ATB und Paul Van Dyk. Die verstehen nicht so ganz, dass nicht alles mit 4/4-Beat dasselbe ist.

Alex: Aber selbst die Leute aus Detroit haben in den USA ja nie in großen Rahmen gespielt, das lief immer nur auf so einer Underground-Ebene ab. Die haben sich ja zum Teil gewundert, was hier in Europa los war.

Gernot: Aber auf diese Unterscheidungen gibt man doch eh nicht viel, oder? Ich finde es gerade in unserem Bereich wichtig, Experimente zu wagen und sich erst mal einen Teufel drum zu scheren, wie das auf den großen Bühnen ankommt. Wir hatten schon so viele Shows, wo wir die Leute wirklich gespalten haben. Aber die 50 Prozent, die es gut fanden, die kamen eben auch zu den nächsten Gigs wieder. Darauf muss man bauen. Ich find es schon enorm wichtig, dass man nicht in so eine reine Dienstleister-Mentalität verfällt.

Paul: Na ja, aber du bist ja irgendwie schon Dienstleister. In dem Moment, wo du nach zwei Stunden Spaßhaben von der Bühne kommst, und jemand steckt dir einen Umschlag mit Geld zu, bist du eben Dienstleister. Ich kann ja auch schwer auf die Bühne gehen und sagen: „Sky And Sand“ spiele ich heute nicht.

Sebastian Ingenhoff & Thomas Venker

Wo du es schon ansprichst: Für dich ist es vermutlich auch ein bisschen nervig, dass du immer mit diesem einen Track identifiziert wirst, oder?

Paul: Es tut noch nicht so weh, dass man denkt: „Ich kann das Stück nicht mehr hören.“ Ich hatte ja sogar noch ein paar ähnliche Stücke auf der Festplatte, auf denen Fritz [Kalkbrenner, Pauls Bruder und Sänger von „Sky And Sand“] gesungen hat. Ich glaube, wir hätten relativ schnell eine ähnliche Single auf den Markt werfen können, aber genau das wollten wir eben nicht. Jedenfalls wird jetzt erst mal ein paar Jahre lang in meinen Produktionen nicht mehr gesungen. Ich würde eigentlich lieber ein Album machen, das so klingt wie mein „Self“-Album von vor sieben Jahren. Ich profitiere natürlich gerade ein bisschen davon, machen zu können, was ich will. Die Erwartungshaltung der Leute ist da erst einmal egal.

Gernot: Es ist ja die Aufgabe des Künstlers, im Studio diesen Druck ausblenden zu können. Ich krieg das zum Beispiel oft bei Apparat mit, wenn der eine Platte macht und knapp an einer Psychotherapie vorbeischlittert. Weil der das natürlich sehr ernst nimmt und wahnsinnige Ansprüche an sich selbst hat.

Alex: Ich arbeite gerade an einem Track, der relativ untypisch für mich ist, der eigentlich mehr an Detroit und Robert Hood orientiert ist. Der soll sogar auf R&S Records kommen. Wo ich mich dann aber auch ertappe und denke: „Ist das wirklich noch Boys Noize? Ist das nicht zu viel Loop? Ist das denn das, was die Leute mit meinem Namen verbinden?“ Aber klar, vermutlich sollte man sich von solchen Gedanken frei machen können.

Paul: Man hat ja nach so vielen Jahren Muckemachen auch irgendwann seinen Fundus, sein Archiv, aus dem man sich bedient. Und man hat natürlich auch ein Hobby verloren – Musik als Hobby, das gibt es einfach nicht mehr.

Sprechen wir mal über den Status quo der Techno-Szene. Neben den – nennen wir es mal – Abräumern wie euch gibt es ja noch die B- und C-Liga, also jene große Menge an DJs und Produzenten, für die es immer schwieriger wird, die sich mit weniger Bookings und in ihrer Liga fallenden Gagen auseinandersetzen müssen. Von den sinkenden Einnahmen durch Platten mal ganz abgesehen …

Gernot: Ich glaube, wir vier haben da alle den richtigen und modernen Weg eingeschlagen: Wir machen es selbst. Paul und wir sind ja zeitgleich von unserem ehemaligen Label BPitch Control weggegangen, einfach, um anders arbeiten zu können. Um flexibler zu sein, schneller zu sein. Alex hat es gleich von Anfang an richtig gemacht und sein Label so genannt, wie er heißt. Beim Berghain ist es ja nichts anderes, das ist alles eine Crew, die konzentriert ihre Leute pusht.

Alex: Was ich aber bei vielen jungen Künstlern vermisse, ist einfach der Versuch, etwas anderes zu machen. Gerade bei Techno ging es doch immer um Do-It-Yourself, darum, total frei zu sein von allem. Erst mal darauf zu scheißen, was die Leute denken und wer die Platte eventuell gut finden wird. Wenn ich heute auf Beatport bin, klingt aber vieles gleich. Alles nach dem gleichen 08/15-Rezept. Es gibt einfach zu viel belanglose Musik in dem Segment.

Paul: Das bringt eben die Demokratisierung der Produktionsmittel mit sich. Beats zusammenschneidern und auflegen kann ja mittlerweile angeblich jeder, dadurch steigt aber nicht gerade die Qualität der Produktionen. Wenn du nichts zu berichten hast, kommt halt in der Regel Mist dabei raus.
Gerade zu den Hochzeiten von Minimal war es ja so, dass Leute hervorgebracht wurden, die meinten, sie hätten jetzt eine Lebensversicherung abgeschlossen und könnten für immer damit durchkommen, für immer Künstler …

Paul: Da kickt halt einfach irgendwann die Realität rein, wenn es plötzlich nicht mehr läuft. Und zwar ganz hart.

Gernot: Man kann das vielleicht so ausdrücken: Es gibt Züge, die fahren. Dann gibt es ganz viele, die versuchen darauf aufzuspringen. Und dann gibt es eben welche, die sitzen in der Lok. Die gucken, wo es langgeht. Die haben natürlich eine wahnsinnige Verantwortung und fahren ein hohes Risiko, können aber letztendlich auch entscheiden, wo der Weg hingeht. Ich glaube, es ist egal, ob du Ableton Live hast oder das teuerste Studio der Welt – es wird immer darum gehen, wie man an die Sache herangeht und was man draus macht.


Die Protagonisten

Marce Dettmann

Marcel Dettmann
… wurde 1977 in Fürstenwalde geboren. Nachdem ein Freund ein Mixtape von ihm im Berghain-Vorgänger Ostgut abgegeben hatte, legte er Ende der Neunziger das erste Mal dort auf. Dettmann stieg schnell zum Resident auf und prägt mit seinen tiefgängigen Sets seither den Sound des Berghain wie kaum ein anderer DJ. 2010 veröffentlichte er sein erstes eigenes Album.

Boys Noize
… wurde 1982 in Hamburg als Alex Ridha geboren. Startete seine DJ-Laufbahn 1998 als Kid Alex – das Projekt endete 2004 mit dem Boys-Noize-Debüt auf DJ Hells International-Gigolo-Label. 2005 gründete er schließlich sein eigenes Label Boysnoize Records, wo er mit der eigenen Single „Optik / He-Man“ debütierte. Es folgten zwei eigene Alben und unzählige Remix- und Produzentenjobs für Künstler wie N*E*R*D, Chilly Gonzales, David Lynch oder Snoop Dogg. Boys Noize wird vor allem im Ausland viel gebucht.

Modeselektor
Gernot Bronsert, geboren 1978, und Sebastian Szary, geboren 1975, kennen sich bereits seit Ostberliner Schultagen. Veröffentlichten zunächst unter dem Namen Fundamental Knowledge, dann folgte die Umbenennung in Modeselektor. Anfang der Nullerjahre wurden die beiden von Ellen Allien für ihr Label BPitch Control gesignt. 2005 dann das Release des Debütalbums „Hello Mom“. Modeselektor begeistern seither nicht nur Technofans, sondern gelten auch in Dubstep-Kreisen als wegweisend. Durften sogar schon Radiohead auf Welttour begleiten.

Paul Kalkbrenner
… wurde 1977 in Leipzig geboren. Produziert seit 1999 eigene Musik und kann auf zahlreiche Veröffentlichungen auf dem Label BPitch Control zurückblicken. 2008 wurde er durch die Darstellung des fiktiven, durch Drogenprobleme gezeichneten Technoproduzenten Ikarus in Hannes Stöhrs Film „Berlin Calling“ zum internationalen Superstar. Der von ihm komponierte Soundtrack verkaufte sich allein in Deutschland weit über 100.000 Mal.


Der Beitrag wurde ursprünglich für die April 2011 Ausgabe von Intro produziert, die “Techno” gewidmet war.

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