Die dämliche Doppelmoral der Antisemiten
In den Auseinandersetzungen rund um den Krieg in Gaza greifen Emotionalisierung und Regression um sich. Doch wo schlechte Argumente und Doppelmoral akzeptiert werden, haben Propaganda und Hetze ein leichtes Spiel. Eine Intervention von Julia Pustet mit Memes von ruth__lol.
In den letzten Jahren hat die Linke selten großzügig weggesehen, wenn es um Verfehlungen in den eigenen Reihen ging. Tone Policing, also das Zurechtweisen von Menschen, die sich im Ton, in der Wortwahl oder im Auftreten vergriffen hatten, gehörte zum selbstverständlichen Debatten-Repertoire, das Beharren auf Sprachpolitiken nahm bisweilen esoterische Züge an: Erhitzt diskutierte man darüber, wie man nun am inklusivsten genderte, stritt darum, ob nun Sprache Wirklichkeit schaffe oder Wirklichkeit doch eher Sprache oder ob da sogar Dialektik am Werk sei, rätselte, was die Worte und Akronyme, die man sich selbst ausgedacht hatte, nun eigentlich bedeuteten, erfand vorsichtshalber Worte, die noch ein wenig inklusiver, noch ein wenig sicherer waren als die, die man schon hatte. Dass man niemanden verletzen, ausschließen oder triggern wollte und dass Sprache ein mächtiges und wirksames Instrument sei, daran bestand kein Zweifel.
Umso auffälliger ist es da, dass viele Linke derzeit über Sprache und Begriffe sprechen wie die Thorstens, gegen die man einst in Kommentarspalten in den Krieg zog. Bestes Beispiel ist der Begriff der “Intifada”: Während in der Linken stets völlig unumstritten war, dass etwa das N-Wort eben nicht “einfach nur schwarz” bedeutet und das Hakenkreuz nicht einfach nur ein uraltes Sonnensymbol ist, sondern beide von ihrer historischen Aufladung nicht getrennt werden können, wird beim Wort “Intifada” auf einmal scheinheilig-empört darauf verwiesen, dass es dem Wortsinne nach ja nichts anderes bedeute als “Aufstand, Abschütteln” – antisemitisch meine man das selbstverständlich nicht. Was Jochen aus Pinneberg indes “eigentlich” meinen will, wenn er das N-Wort sagt, ist freilich völlig egal, schließlich ist er nicht von der Gewalt(geschichte) betroffen, die sich im Begriff immer wieder reproduziert. Sein infantiles Bestehen darauf, die Bedeutung eines Wortes selbst festlegen zu dürfen, entblößt sich als ein Akt des regressiven Trotzes: Er verteidigt das Wort nicht, weil es niemanden verletzt, sondern weil es jemanden verletzen soll – ob er sich das nun eingesteht oder nicht. Mit “Intifada”, einem Wort, das historisch nicht von gezielten Attentaten gegen Juden und Jüdinnen zu trennen ist, verhält es sich nicht anders, und dennoch werden Studierende und Protestierende auf ganzer Welt zu beleidigten Bettinas, die sich ein geliebtes Wort nicht nehmen lassen – ungeachtet der Tatsache, dass jüdische Menschen in Israel und im Rest der Welt damit antisemitische Mordanschläge durch islamistische Terrormilizen verbinden. Auch, dass die zweite Intifada nicht von einem ultrareligiösen und entmenschlichenden Märtyrerkult zu trennen ist, der zur Folge hatte, dass viele palästinensische Kinder, demagogisch aufgepeitscht und zu Märtyrern instrumentalisiert, als Selbstmordattentäter starben, scheint westliche Linke kaum zu irritieren.
Vom Verlust linker Prinzipien
Die darin erkennbare, immer auch rassistisch eingefärbte Doppelmoral zieht sich derzeit in verschiedensten Formen durch diejenigen Teile der Linken, die in einer oberflächlichen und manichäischen Palästina-Solidarität endlich ein Ventil für ihre antisemitischen Ressentiments gefunden zu haben scheinen. Viele der wichtigsten Praktiken, auf die sich die Linke in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten geeinigt hat – von “Betroffenen zuhören” über “inklusive Orte schaffen” bis hin zu Kritik an Tokenisierung und Cultural Appropriation sowie zum Umgang mit Tätern in den eigenen Reihen – werden seit dem 7. Oktober bereitwillig über den Haufen geworfen: Frauen- und queerfeindliche Vergewaltiger werden zu Genossen romantisiert, Juden und Jüdinnen, die auf Antisemitismus hinweisen, werden entweder ignoriert oder wider aller gegenteiligen Indizien zu Rechten erklärt. Helen Fares ließ sich gar in einem Reel von einem Juden bestätigen, nicht antisemitisch zu sein – ganz, als hätte man jemals akzeptiert, wenn eine weiße Person eine rassismusbetroffene Person vor die Kamera gezerrt hätte, um sich von Rassismusvorwürfen reinzuwaschen – und schreckte dabei nicht davor zurück, dessen intergenerationales Trauma zu instrumentalisieren, um ihrer eigenen Mitteilungsabsicht mehr Gewicht zu geben. Dass der Collab-Partner ihres Videos, die ultra-antizionistische “Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost”, mehrfach die Gewalt des 7. Oktobers relativiert hat und mitnichten für die Mehrheit der Juden und Jüdinnen spricht, fällt dabei genauso unter den Tisch wie die Tatsache, dass Fares damit genau kommuniziert, welche Juden und Jüdinnen in ihrer Gunst stehen und wessen Traumata zählen – und wessen eben nicht.
Die Liste der Beispiele für antisemitische Doppelmoral ließe sich ins Endlose verlängern: Da sind die nichtjüdischen Aktivist:innen, denen ein Judenfetisch unterstellt wird, während Annikas in Kuffiyes und Studi-Aktivist:innen, die im Versuch, Antisemitismusvorwürfe abzuwehren, ungelenke Pessach-Seder feiern, nicht einmal in die Nähe eines Cultural-Appropriation-Vorwurfs gerückt werden. Da sind die elitären Ivi-League-Studierenden, die inmitten von Identifizierungs-Meltdowns von einer drohenden humanitären Katastrophe in besetzten Uni-Räumlichkeiten fantasieren, ohne daraufhin aufgefordert zu werden, doch bitte ihre Privilegien zu checken und ihren Blick von sich selbst zurück auf die wirklichen Opfer des Krieges zu lenken. Und da sind die Linken, die jüdische Menschen öffentlich lächerlich machen: Als etwa Hannah Veiler, Präsidentin der jüdischen Studierendenunion, im Freitag von ihrer Angst im Zusammenhang mit den häufig antisemitisch aufgeladenen Uniprotesten sprach, legte ein deutsch-israelischer Autor nahe, ihre Angst sei im Grunde unbegründet und bloß politisch geschürt worden – schließlich sei außer Lahav Shapira bislang noch kein einziger jüdischer Student ins Krankenhaus geprügelt worden. Dass es auf einer antisemitismuskritischen Veranstaltung an der Uni Bonn zu einem physischen Angriff durch einen propalästinensischen Aktivisten gekommen war, dass während diverser Uniproteste jene roten Dreiecke gesprüht worden waren, mit denen die völlig offen antisemitische Hamas ihre Feinde markiert, dass Israel in den Augen vieler Aktivist:innen nicht einfach kritisiert, sondern vernichtet werden soll, dass aus den aktivistischen Umfeldern der Uniproteste wiederholt Zionisten mit Faschisten gleichgesetzt wurden und körperliche Übergriffe von vereinzelten Aktivist:innen zum legitimen Mittel im Kampf gegen Zionisten erklärt wurden, blieb unbeachtet. Wo Linke sonst panisch nach eventuell ausschließenden Subtexten verschiedener Zeichen und Begriffe gesucht hatten, wurde das Prinzip nun umgedreht: Solange ein Zeichen theoretisch auch etwas anderes bedeuten kann, wie das rote Dreieck etwa auch bloß für das Dreieck in der palästinensischen Fahne stehen könne, ist es plötzlich von jedem üblen Verdacht freigesprochen. Wo in linken Begriffspolitiken lange im Zweifel gegen den Angeklagten galt, heißt es heute, wo immer es um Antisemitismusvorwürfe geht, im Zweifel für den Angeklagten. Schmerzhaft augenfällig wurde im oben genannten Fall, dass das Relativieren und Abwiegeln der Ängste von Angehörigen bedrohter Minderheiten in der Linken offenbar salonfähig geworden ist.
Von Zionazis und Genozidleugnern
In der Verwendung des Zionismus-Begriffs hat längst eine Verschmelzung stattgefunden, die ultrarechte Zionisten unterschiedslos neben Linke stellt, die auf dem Existenzrechts Israels bestehen und für eine friedliche Koexistenz eintreten, und die beiden den Faschismus-Stempel aufdrückt. Moderate, differenzierte oder auch nur ambivalente Stimmen werden umweglos mit dem politischen Feind identifiziert, dem man – als ginge es eben um Neonazis – keine inhaltliche Diskussion oder Auseinandersetzung schuldet, sondern vernichtend gegenübersteht. Einschüchterungen, Doxing, Cybermobbing, Übergriffe und Drohungen gegen Personen, die sich öffentlich gegen Antisemitismus positionieren, sind längst keine Einzelfälle mehr, sondern folgen ineinander verzahnten Strategien, die eine totalitäre Tendenz erkennen lassen. Um sich dabei selbst von Antisemitismus-Vorwürfen reinzuwaschen, hat man diverse Methoden entwickelt, die offenbar ihre gewünschte Wirkung nicht verfehlen: Neben Tokenisierung jüdischer antizionistischer Einzelpersonen und dem der Logik der Tokenisierung nach notwendig gewordenen Silencen linker, zionistischer Jüdinnen und Juden gehören dazu auch Umdrehungen des Antisemitismus-Begriffs, die diesen analytisch komplett entleeren. Eine dieser Umdrehungen besteht in der mittlerweile häufig vertretenen Behauptung, wer israelbezogenen Antisemitismus benenne, sei Antisemit, da er Juden mit Israel gleichsetze – eine Behauptung, die auf der Verwechslung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen beruht, einfacher ausgedrückt: Sicherlich bezieht sich nicht jeder Jude (positiv) auf Israel und sicherlich wäre es antisemitisch, Juden und Jüdinnen für die Politik Israels verantwortlich zu machen. Letzteres geschieht schließlich seit Monaten regelmäßig aus dem Umfeld propalästinensischer Proteste heraus, in deren Kontext es bereits zu Schändungen von Shoah-Mahnmalen kam. Ein Ende des israelischen Staats würde jedoch unter den gegebenen Umständen auf eine Vertreibung von Millionen Juden und Jüdinnen hinauslaufen – und diese Verknüpfung zu benennen, ist freilich nicht antisemitisch. Eine weitere Methode der Begriffsumdrehung besteht in einer selektiv-identitätspolitischen Eindampfung, die jede inhaltliche Kritik an jüdischen Einzelpersonen antisemitisch nennt. Ein antizionistischer Journalist etwa stellte die Kritik, mit der sich Judith Butler nach deren relativierenden Äußerungen über den 7. Oktober konfrontiert sah, unter Antisemitismusverdacht, weil Butler jüdisch sei. Auch dass eine antizionistische amerikanische Jüdin, die Olaf Scholz auf eine Veranstaltung aus direkter Nähe angebrüllt hatte, von Sicherheitskräften weggetragen wurde, wurde von vielen Kommentator:innen als antisemitisch gelesen – obwohl selbige Aktivistin mehrfach durch Äußerungen aufgefallen war, die nach allen gängigen Definitionen von JDA bis IHRA als antisemitisch gelten, und es auch Nichtjuden kaum möglich wäre, hochrangige Politiker ungestört aus nächster Nähe anzubrüllen.
Die Vergehen der als Feinde markierten Menschen bestehen indes häufig nur darin, auch Hamas in die Verantwortung für das Leid in Gaza nehmen zu wollen und auf den autoritären, misogynen, queerfeindlichen und antisemitischen Kern islamistischer Terrorbanden hinzuweisen. Wer von einem Krieg, vielleicht auch von Kriegsverbrechen spricht statt von einem Genozid, wer die Regierung Israels scharf kritisiert, ohne aber die Vernichtung des israelischen Staats zu fordern, wer darauf hinweist, dass die Geschichte des Zionismus nicht ohne die Geschichte der Flucht vor eliminatorischem Antisemitismus und der Shoah geschrieben werden kann, wer das Richten den Richter:innen überlassen will und die Bewertung einzelner Militäroperationen den Spezialist:innen, wer Empathie für mehr als eine Seite hat oder gar konstatiert, dass es mehr als zwei Seiten gäbe, der wird einer so irrationalen wie emotionalisierten Engführung folgend ins Eck der Genozidversteher, Zionazis und Faschisten gestellt. Und das hierdurch entstandene System der Angst funktioniert: Wer etwa als Künstler:in oder Autor:in in der Öffentlichkeit steht oder einfach nur Veranstaltungen zu Antisemitismus oder Islamismus besucht, muss sich heute genau überlegen, wie er:sie sich äußert oder ob er:sie sich zu erkennen gibt. Denn die Shitstormdynamiken sind häufig enthemmt, die Beispiele für autoritäre Backlashes häufen sich und auch unter linken Journalist:innen und Aktivist:innen gilt es mittlerweile als gemeinhin akzeptiert, Bilder von linken “Zionisten” unverpixelt ins Internet zu stellen und diese damit als Feind:innen zu markieren – eine Methode, die einmal für die Bekämpfung von Neonazis reserviert war.
“Bruder, wenn du nur noch schwarz und weiß siehst, solltest du dich kurz hinlegen” (Ruth_lol)
Den Menschen, die in Gaza unter einem brutalen Krieg leiden, den Hinterbliebenen, Verwundeten und Traumatisierten, den Friedenssuchenden und den Demonstrierenden in Israel hilft der antisemitisch aufgeladene und im Grunde unpolitische Hass vieler westlicher Aktivist:innen natürlich wenig – im Gegenteil, die Glorifizierung oder zumindest Apologie von Hamas, Hezbollah und den Huthi, die diese gut für sich zu nutzen wissen, bietet dem Islamismus immer weiter Nährboden und bedeutet eine Entsolidarisierung mit dessen Opfern. Darunter zählen indes nicht nur Juden und Jüdinnen, sondern auch – nur um eine Auswahl zu nennen – Yemenis, kritische Iraner:innen, Kurd:innen, Ezid:innen und all diejenigen, die nicht ins Weltbild antiliberaler Ideologien passen, darunter Queers, Frauen, Andersdenkende, Freiheitsliebende. Die Opfer der Hamas werden neben Juden und Jüdinnen immer auch die Palästinenser:innen sein. Der Weg zu friedlicher Koexistenz führt deshalb über die Unterstützung der fortschrittlichsten Kräfte in der Region, und nicht über das Schüren weiterer projektiver Vernichtungsfantasien. All das ist im Grunde einfach zu verstehen und wurde oft gesagt. Der autoritäre Hass indes, den die antisemitischen Aktivist:innen gegen ihre politischen Gegner:innen einsetzen, zeigt seine Wirkung sicherlich auch nach innen: Gerade jüngere Menschen, die vielleicht erst seit wenigen Monaten politisches Interesse haben, erste Demoerfahrungen gesammelt haben und sich mit einer riesigen Fülle an Fakten, Fake News, Propaganda, Deutungsmodellen und Akteuren konfrontiert sehen, haben schließlich selten genug Orientierung, Mut und Selbstbewusstsein, um ihren neuen Polit-Koryphäen zu widersprechen – erst recht nicht, wenn sie erlebt haben, wie diese auf Widerspruch reagieren. Was durch die kollektive Ignoranz gegen noch die einleuchtendsten Argumente indes unweigerlich einsetzt, ist ein Effekt der Gewöhnung an das Dumme und Irrationale, das zusätzlichen Auftrieb durch den in der Linken verbreiteten Fetisch des “Einfachen”, “Authentischen” und “Ehrlichen” erhält. Einfach, authentisch und ehrlich ist jedoch nur eines: Anzuerkennen, dass die Realität nicht nur schwarz und weiß und gut und böse ist. Die daraus zwangsweise resultierenden Widersprüche und Ambivalenzen auszuhalten. Und trotzdem und gerade deshalb menschlich und universal empathisch zu bleiben.
Text: Julia Pustet (Instagram)
Memes: ruth__lol (Instagram)