Filmfestival Cologne – Nachbericht

“We`re going to be ok, right?”

Natürlich war es in diesem Jahr ein etwas anderes Filmfestival Cologne. Ausgerechnet die Jubiläumsausgabe (30 Jahre!) fand unter den bekannten erschwerten Bedingungen statt. Kein Hindernis für den rasenden kaput-Filmreporter Dirk Böhme, der sich auf diesen Höhepunkt des Jahres immer freut wie ein Kind. Nur diesmal eben mit FFP2-Maske.

Dass das FFCGN 2020 überhaupt vor Ort und IN ECHT stattfinden konnte, ist den strengen Hygienemaßnahmen zu verdanken, die die Festivalleitung erfreulicherweise auch über die ganze Woche hervorragend durchorganisierte. Zumal das erste und hoffentlich letzte Corona-FFCGN auch Vorteile mit sich brachte: Als Zuschauer*in war man nicht gezwungen, sich lange vor Filmbeginn in eine Schlange zu drängeln, um einen guten Sitzplatz zu bekommen. Sobald man im Saal Platz genommen hatte, konnte man außerdem sicher sein, dass die Nebenplätze unbesetzt bleiben würden. Für Kinoneurotiker wie mich, die sich schon über leichtes Popcorngeraschel aufregen, ein Traum.

Das Filmprogramm war 2020 natürlich lange nicht so spektakulär wie vor allem im letzten Jahr, als Meisterwerke wie „Parasite“ oder „Portrait einer jungen Frau in Flammen“ gezeigt werden konnten. Aber warum sollte es Köln hier besser gehen als allen anderen Festivals in diesem Pandemiejahr? Die meisten großen Premieren sind ja verlegt nach 2021.

Unter den zehn Filmen, die ich mir dieses Jahr in sechs Tagen gegönnt habe, waren nur wenige echte Ausfälle: Den koreanischen Gangsterfilm BEASTS CLAWING AT STRAWS (Kim Yong-hoon) hat man schneller wieder vergessen als man „öde Pulp Fiction-Kopie“ sagen kann. NINE DAYS (Edson Oda) möchte ein philosophisches Drama sein, statt der behaupteten visuellen Kraft bleibt aber nur ein recht geschwätziges Kammerspiel mit unausgegorenen Charakteren und Plot. Und dem französischen Jugendfilmchen GAGARINE (Fanny Liatard, Jérémy Trouilh) ist zwar zugute zu halten, dass es eine andere Perspektive einnimmt als andere bekannte Banlieu-Dramen. Aber mehr als aufdringliche Weltraummetaphern und am Ende sogar übler Kitsch haben sie dann leider doch nicht zu bieten.

Im Mittelfeld: Das mexikanische Sozialdrama KOKOLOKO (Gerardo Naranjo) setzte auf improvisierte Szenen, viel Sex und brutale Gewalt in 16mm-Bildern. Ein bisschen mehr erzählerische Stringenz und ein Plan im Schneideraum (der Film ist mindestens 20m Minuten zu lang) hätte ihm aber sicher gutgetan.
Im polnischen Beitrag SWEAT (Magnus von Horn) muss sich eine Fitness-Influencerin der Erwartungshaltung ihrer Fans ebenso erwehren wie der Ignoranz ihrer Familie. Ein Stalker lässt sie dann endgültig an ihrem Job zweifeln. Tight inszeniert und sehenswert vor allem wegen der hervorragenden Hauptdarstellerin Magdalena Koleśnik.
SHIRLEY (Josephine Decker), eine Momentaufnahme aus dem Leben der alkoholkranken Horrorschriftstellerin Shirley Jackson, ist ein weiteres Schauspielvehikel für die vielbeschäftigte Elizabeth Moss, die sich hier mit Michael Stuhlbarg ein beeindruckendes Hassliebe-Duell liefern darf. Deckers auf Verstörung setzende Regie war mir, wie schon in ihrem Vorgängerfilm „Madeline’s Madeline“, aber etwas zu anstrengend und gelegentlich HURZ.

Mit PROXIMA (Alice Winocour) wurde das FFCGN schön eröffnet: Die beste Eva Green aller Zeiten als Astronautin, die sich nicht nur in einem harten Bootcamp für ihre Mars-Mission ausbilden lassen und dabei gegen männliche Vorurteile (Klasserolle für Matt Dillon) durchsetzen muss, sondern auch den unerträglichen Schmerz über die Trennung von ihrer geliebten Tochter zu überwinden hat. Eine interessante feministische Perspektive, spannend und bewegend erzählt.

Ganz sicher nur für Fans (aber sorry, ich bin halt einer) ist die Dokumentation FREAKSCENE – THE STORY OF DINOSAUR JR (Philipp Reichenheim). Die Geschichte einer der wichtigsten Indierockbands der letzten 40 Jahre wird mit den üblichen Mitteln (chronologisch, Live-Videos, Promi-Interviews) heruntererzählt, aber mir schon nach 20 Sekunden das Wasser in die Augen zu treiben, weil er einfach mit dem titelgebenden Jahrhundertsong in voller Länge eröffnet, muss ein Film ja auch erstmal schaffen. Dass die drei Bandmitglieder J Mascis, Lou Barlow und Murph eigentlich bis heute kaum Spaß zusammen haben, sondern immer nur auf der Bühne Lärm machen möchten und deshalb als „dysfunktionale Familie“ (Barlow) weitermachen, ist die irgendwie auch etwas wehmütige Botschaft einer tollen Musikbiografie.

Nach dem Hollywood-Ausflug „Jackie“ kehrt Pablo Larraín mit EMA in seine chilenische Heimat zurück und portraitiert in wuchtigen Bildern und unterstützt von heftiger Bassmusik und einem guten Soundtrack (von Nicolas Jaar) eine Tänzerin mit radikalem Freiheitsdrang. Ema erkämpft sich ihren kleinen Sohn zurück, tanzt mit ihren Freundinnen zu Reggaeton und genießt heißen Sex mit wechselnden Partner*innen. Dass sie auch noch mit einem Flammenwerfer durch die Straßen zieht, ist vielleicht etwas zu viel der Symbolik, aber Larraín hatte halt offenbar Bock auf einen wilden, modernen Film, der die konservative Elite Chiles (zu der übrigens auch seine Eltern gehören) vor den Kopf stoßen soll. Gut für uns, gut fürs Kino!

Mein Lieblingsfilm des diesjährigen Festivals kam, wenig überraschend, von Kelly Reichardt. Die Autorenfilmerin hat sowieso noch nie einen schlechten Film gedreht, und mit FIRST COW zeigt sie uns zwei Heldenfiguren des Jahres 1820, die gar nicht den Männlichkeitsklischees des Wilden Westens entsprechen. Ein Bäcker und ein Tagedieb tun sich zusammen, um im noch kaum erschlossenen Oregon mit heißem, fettigem Gebäck Geld zu verdienen. Da sie aber dafür nachts heimlich die einzige Kuh vor Ort melken müssen, ist das Geschäftsmodell hochriskant und natürlich nicht von Dauer. Eine Männerfreundschaft der etwas anderen Art, gleichsam poetisch wie realistisch inszeniert und, eher ungewöhnlich für Reichardt, trotz aller Melancholie auch immer wieder mit leisem Humor.
Ein Film, der nachwirkt, weil er eine 200 Jahre alte Geschichte ganz modern erzählt, als Überlebenskampf netter Menschen in einer groben, geistig unterentwickelten Gesellschaft. Wer kann sich damit nicht identifizieren?
Dirk Böhme

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