Kaput revisited

Geoff Travis und Rough Trade Records: Die Kunst des guten Geschmacks

Electricity (Photo: Thomas Venker)

Rough Trade strikes back! Wenn alte Legenden wieder aus der Kommode gekrochen kommen, ist in der Regel Vorsicht geboten – was gibt es Schlimmeres als sich jugendlich gebärdende Altrocker. Wie schön, dass es auch Ausnahmen wie Geoff Travis gibt. Der Mann ist soeben 50 geworden, widmet sich seit über einem Vierteljahrhundert der Rettung des guten Geschmacks in der Popmusik und geht mit seinem wiederbelebten Rough-Trade-Label nach dem Erfolg der von ihm entdeckten Strokes und vielen Ups und Downs jetzt noch einmal in die Vollen. Mit dem neuen Geschäftspartner Sanctuary Records im Rücken wagt er den Versuch, an alte Tage anzuknüpfen, als Rough Trade mit Bands wie den Swell Maps, Raincoats, Young Marble Giants, Pop Group, The Fall, Pere Ubu, Smiths, Wire, Go-Betweens oder Red Krayols als Synonym für intelligente Musik zwischen Avantgarde, New Wave und Punk galt.

Mit neuen Acts wie den Moldy Peaches, British Sea Power, Beachwood Sparks, Hope Sandoval, Desert Hearts, Jeffrey Lewis, A.R.E. Weapons und vielen anderen ist er auf einem sehr guten Weg. Außerdem leitet Travis seit 1983 noch das WEA-Sublabel Blanco Y Negro, auf dem unter anderem Everything But The Girl oder The Jesus and Mary Chain ihre letzten Platten veröffentlichten und zuletzt die sehr schönen Alben von Mull Historical Society und David Kitt erschienen. Und als wenn das alles nicht genug wäre, kümmert er sich mit Glen Johnson um die Belange des Rough-Trade-Schwesterlabels Tugboat, das sich mit Acts wie Low, Life Without Buildings oder Sodastream viele Freunde machen konnte.

Dieses Interview wurde ursprünglich von Markus Naegele 2002 für das mittlerweile eingestellte INTRO Magazin geführt und erscheint heute im Rahmen unserer „Kaput Revisited“-Reihe. Gute Gespräche verlieren nie an Bedeutung, im Gegenteil, sie wachsen und erhalten stetig neue Bedeutungszusammenhänge. 

London I  (Photo: Thomas Venker)

Wenn dich Leute nach deinem Beruf fragen, was erzählst du ihnen?

Geoff Travis: Das weiß ich selbst nie so genau. Am einfachsten ist, wenn ich mich als Manager vorstelle; mit dem Begriff können die meisten etwas anfangen. Also sage ich: „Ich bin der Manager von Pulp.“ – „Wie bitte?“ kommt es dann oft zurück. „Das ist die Band von Jarvis Cocker.“ Das ist dann meist verständlich. Im Grunde bin ich ein Geschäftsführer einer Musikfirma. Ich habe auch nichts dagegen, wenn man mich als A&R-Manager bezeichnet, als A&R im klassischen Sinne.

Würdest du dich als Musikverrückten bezeichnen, als Abhängigen?

Geoff Travis: Oh ja, definitiv. Ich bin schon seit langer, langer Zeit abhängig. Allerdings bin ich kein Sammler. Ich würde niemals $ 500 für irgendeine rare Toy-Dolls-Single ausgeben. Ich habe eine Menge Platten, aber die habe ich verstreut stehen, die meisten bei meinem Bruder. Meine Frau hat es nicht so gerne, wenn ich mit größeren Plattenbergen nach Hause komme. Zu Hause habe ich auch nur so einen kleinen altmodischen Plattenspieler mit eingebauten Boxen stehen. Ich würde niemals mit meiner Plattensammlung prahlen, sie in chronologischer Reihenfolge sortieren, mit Schutzhüllen versehen und so weiter. Das heißt aber noch lange nicht, dass ich nicht gerne Musik höre, im Gegenteil: Ich höre viel und bin für alles offen – insofern bin ich schon ein Musikabhängiger. Das begann schon früh bei mir. Ich hatte einen Cousin in Kanada, dessen Vater etwas Kriminelles tat. Er schickte seinen Sohn zu uns nach England, um bei uns zu wohnen. Und dieser Cousin brachte eine Menge Platten mit sich – Buddy Holly, Everly Brothers, Freddie Cannon, später Elvis; all diese klassischen amerikanischen Rock’n’Roll-Platten. Ich muss damals noch sehr jung gewesen sein, aber irgendwie bin ich drauf angesprungen.

1976 hast du dann den Rough-Trade-Plattenladen in London eröffnet. Wie kam es dazu?

Geoff Travis: Ich hatte immer schon Platten gekauft, aber als ich damals durch die ame trampte, gab es auf den Hauptstraßen überall diese Thrift Stores mit altem, billigen Gerümpel. Und plötzlich hatte ich da mehrere hundert Platten in meinem Gepäck. In San Francisco sammelte ich das ganze Zeug, und als die Platten da in so einer langen Reihe am Boden aufgereiht waren, sagte jemand: „Warum schickst du die Platten nicht per Post nach England und startest damit einen Plattenladen? Tragen kannst du die eh nicht mehr.“ Das schien mir irgendwie einleuchtend. Also machte ich mit dem Secondhand-Zeug einen Laden auf. Zusätzlich kaufte ich im Großhandel zu Einkaufspreisen neue Ware, und schließlich übernahm ich noch den Bestand eines Ladens in Cambridge, der pleite machte. So hatte ich ein gutes Startfutter.

Warst du zu dem Zeitpunkt schon stärker in der Punkszene verwurzelt, oder kam das für dich erst später?

Geoff Travis: Es war eigentlich Pre-Punk, so drei, vier Monate, bevor Punk dann wirklich durchbrach. Wir hatten ein sehr breit gefächertes Sortiment damals: Soul, Tim Buckley oder Nick Drake, aber auch die New York Dolls, was ungewöhnlich war. Ich fand etwa 200 Kopien ihres ersten Albums in einem Lagerhaus in Manchester, das war eine kleine Sensation.

Du hast von Anfang an viel Wert auf einen guten Geschmack gelegt …

Geoff Travis: Ja, ich kannte mich ziemlich gut aus. Ich wuchs in London in den mittleren bis späten 60ern auf. Nach der Schule gingen wir oft nachmittags zu Konzerten. Ich sah The Who im Marquee. Jeden Sonntag gab’s im Roundhouse von 15.30 bis 23.30 Uhr Konzerte, acht Stunden Livemusik. Ich ging da treu hin wie andere zur Kirche. Das war meine musikalische Erziehung. Ich gab mein ganzes Geld für Musik aus – ich rauchte nicht, ich trank nicht, also konnte ich mir viele Platten leisten.

Wie sieht für dich ein guter Plattenladen aus?

Geoff Travis: Zunächst einmal muss er natürlich gute Musik haben. Es sollte ein Laden sein, in dem die Verkäufer gewillt sind, dich zu beraten, dich nicht herablassend zu behandeln und dir Sachen vorzuspielen, wenn du dich nicht so gut auskennst. Darüber hinaus sollte man die Möglichkeit haben, Musik anhören zu können, ohne den Zwang zu verspüren, etwas kaufen zu müssen. Meine Vision von Rough Trade Records als Plattenladen war das Äquivalent zum City Lights Bookstore in San Francisco. Dort gab es nicht nur die üblichen Bücher, sondern auch Gedichtbändchen und vieles mehr. Im Keller konnte man Kaffee trinken und dabei ungestört die Bücher lesen. Außerdem hingen da echte Poeten herum; der Laden wurde von Lawrence Ferlinghetti persönlich geführt, und du konntest dich von ihm beraten lassen. Diesen Zugang, diese Entmystifizierung fand ich großartig. Das ist meine Vorstellung von einem guten Plattenladen, nicht einfach nur eine Kette, in der die Angestellten sich nicht auskennen.

Rough Trade wurde schnell zu einem Treffpunkt der Szene. Warst du dir dessen bewusst?

Geoff Travis: Ja. Die Fanzine-Kultur war extrem wichtig für die Punkbewegung, und wir waren einer der wenigen Läden, die sie verkauften. Als etwa die Macher vom Sniffing Glue Fanzine uns fragten, ob wir nicht ihr Heft vertreiben könnten, haben wir nicht lange gezaudert und es verkauft. Oder London’s Burning von Jon Sage, der sich später in Jon Savage umbenannte und ein bekannter Musikkritiker wurde. Oder Adrian Thrills mit seinem 48 Thrills, das augenscheinlich von The Clash inspiriert war. Es war so eine linke Haltung, wie man sie sonst nur in Buchläden fand.

Es gab von Anfang an auch eine starke Verbindung zwischen Reggae und Punk …

Geoff Travis: Unser Laden lag in Ladbroke Grove, einer westindischen Wohngegend. Wir wollten keine schnöden Touristen sein, also führten wir auch die Platten, die die Bewohner der Gegend hörten. So kamen wir zu unseren Reggae-Platten, vor allem jamaikanische Vorveröffentlichungen. Das war eine tolle Sache, durch die ich viel gelernt habe. Wenn man diese Schwarzmuster kauft, hat man keinerlei Infos zu den Platten. Die Scheiben kamen häufig über irgendwelche Verwandte der Musiker nach England und wurden dann privat verkauft: Du gehst also zu irgendjemand Fremden – häufig Schwarze – in die Wohnung, die da so eine Kiste mit Platten aus Jamaika mitgebracht haben, die sie dir verkaufen wollen. Die Sache ist die: Sie wissen genau, dass du nicht Schwarz bist, also wollen sie dir den ganzen Mist andrehen. Es ist wie ein Spiel, eine Auktion. Du hast 15 Sekunden, und dann musst du dich entscheiden. Es gibt kein Sicherheitsnetz, keinen doppelten Boden. Du musst sofort erkennen, ob eine Platte was taugt oder nicht: Die ist gut, die nicht, zackzack. Das war eine unglaublich gute Ausbildung …

… auch für deine A&R-Tätigkeit?

Geoff Travis: Absolut, total. Ich würde sogar behaupten, dass ich mir aufgrund der damaligen Erfahrungen nach 10 bis 15 Sekunden so sicher war, dass The Strokes wirklich so eine gute Band sind. Die andere Lektion, die mich diese Erfahrungen gelehrt hat, ist, dass man auf sich selbst hören sollte. Es war wie Blinde Kuh, weil man keinerlei Zusatzinfos oder dergleichen hatte.

London II  (Photo: Thomas Venker)

Siehst du heutzutage eine relevante kulturelle Vermischung, wie sie damals zwischen Reggae und Punk stattfand, oder ist heute sowieso schon alles vermischt und verwässert?

Geoff Travis: World Music ist heutzutage so fest integriert in den Popkontext wie nie zuvor. Ein bekannter Rock’n’Roll-Kritiker wie Charlie Gillett moderiert auf Radio London eine Live-Radiosendung, die ausschließlich World Music spielt. Oder denk an den ganzen Kuba-Boom. Es wurde noch nie so viel unterschiedliche Musik veröffentlicht wie heute, was ich gut finde, denn es bleibt kulturell doch immer etwas hängen. Die Sache mit Reggae und Punk war damals aber auch die, dass es anfangs einfach zu wenig Punk-Scheiben gab, die man im Club als DJ auflegen konnte. Reggae lag da auf der Hand, zumal The Clash früh „Police & Thieves“ coverten und John Lydon mit den Reggae-Musikern abhing. Es ist allerdings ein großer Mythos, dass die Punks alle auf Reggae abfuhren. Das Punk-Publikum war doch eher intolerant. Ich kann mich gut daran erinnern, dass ich öfter mit Bierflaschen beworfen wurde, wenn ich Reggae auflegte. Aswad wurde im Roundhouse mit Flaschen beworfen, als er Eddie & The Hot Rods supportete. Andererseits war Flaschenwerfen und Spucken damals auch ein Ausdruck dafür, Spaß zu haben.

Warst du damals denn selbst ein amtlicher Punk mit Lederjacke und Sicherheitsnadel?

Geoff Travis:  Nein, überhaupt nicht. Ich war eher so eine Art Jimi-Hendrix-Sub-Hippie. Ich war auch viel zu schüchtern, um in solchen Bondage-Klamotten rumzulaufen oder mir die Nase zu piercen. Meine Mutter hätte das nicht gemocht.

Der Laden und das entstehende Netzwerk mit Label und Vertrieb war ja eine höchst politische Geschichte – ihr habt den Majors Paroli geboten, in einer Art Kollektiv gearbeitet, und eure Bands hatten einen auffallend hohen Frauenanteil. Wart ihr euch dessen bewusst?

Geoff Travis: Es war in jedem Falle eine sehr bewusste Entscheidung. Als ich Marx las und was er über die Kontrolle der Produktionsmittel schrieb, wusste ich, dass ich den Vertrieb unserer Platten nicht fremden Händen überlassen wollte, so einfach war das. Außerdem frustrierte es mich, dass man in den Mainstream-Läden keine linke Literatur kaufe konnte. Die musste man sich in den kleinen Läden besorgen, was für die Zielgruppe in Ordnung war, aber es ärgerte mich, dass wichtige feministische Magazine in den Mainstream-Läden nicht angeboten wurden. Später änderte sich das dann, wobei man auch hier wieder diskutieren könnte, ob das gut war oder nicht. Es war ganz augenscheinlich so, dass die Personen, die darüber entschieden, welche Art von Kultur den Leuten angeboten wurde, aus einer ganz gewissen politischen Ecke kamen. Uns war auch wichtig, das Verhältnis zwischen Musiker und Plattenfirma auf ein anderes Level zu stellen. Wir wollten nicht mehr die Verhältnisse von 1950, in denen Musiker wie Leibeigene behandelt wurden.

Wie reagierten die Major-Labels darauf?

Geoff Travis:  Ich glaube ehrlich gesagt, dass die ganz froh waren, dass wir aufräumten und all diese großartigen Bands entdeckten, die sie dann später mit ihren dicken Brieftaschen wegkaufen konnten. Zum Glück widerstanden einige der besten Gruppen den Versuchungen des Geldes und blieben independent. Eine Band wie Joy Division bzw. später New Order – auch wenn sie jetzt bei einem Major sind – konnte meiner Überzeugung nach so lange erfolgreich überleben, weil sie diese Independent-Kultur hautnah erlebte. Wenn man genauer hinschaut, wird man feststellen, dass es nicht viele Bands gibt, die auf Major-Labels lange durchhalten. Die Diskussion Indie vs. Major ist darüber hinaus aber eine höchst komplexe Debatte, die nicht einfach mit gut und böse zu umreißen ist, aber die Welt der Independents ist sicherlich eine sehr viel aufregendere.

Hattest du damals – in der Hochphase von Punk und New Wave – überhaupt die Zeit, dieses kreative Durcheinander, das sich um euch herum abspielte, bewusst zu erleben?

Geoff Travis:  Ich habe in jedem Fall viele aufregende Konzerte gesehen in dieser Zeit: The Clash oder Subway Sect. Es war aber nicht so, dass man umherlief und das als geschichtsträchtige Ereignisse wahrnahm. Wir hatten genug mit unseren eigenen Sachen zu tun. Der Laden entwickelte sich ungemein schnell. 1978 kamen das Label und der Vertrieb dazu, daran angeschlossen eine eigene Booking-Agentur und mit The Catalogue ein eigenes Magazin.

Hattest du nicht Sorge, dass das alles viel zu schnell wächst, das jegliche Kontrolle verloren geht?

Geoff Travis:  Es ging wirklich rapide aufwärts, aber es lief eigentlich sehr gut, bis es Jahre später wirklich zu groß wurde und viele neue Leute in die Firma kamen, die ich nicht kannte. Erst zu spät erkannte ich, dass wir uns übernommen hatten. 1989 ging dann alles schnell bergab. Ich glaube auch, dass es ein Fehler war, diesen Kollektivgedanken aufzugeben, aber er war bei unserer Größe nicht mehr zu halten.

Glaubst du denn heute noch an diese DIY- und Learning-by-doing-Philosophie?

Geoff Travis:  Ich denke schon. Ich habe immer ein schlechtes Gefühl, wenn ich mich mit sogenannten Profis umgebe. Zu viele von denen können nur schön reden und verkaufen dir mit ihren blumigen Worten heiße Luft. Das erinnert mich immer an so Studiocracks, die mit irgendwelchen Zahlen und Parametern argumentieren statt auf die Musik zu achten.

Was war das Ziel des Cartel-Vertriebssystems, das ihr 1978 parallel zur Labelgründung mit sechs anderen Indie-Vertrieben ins Leben rieft?

Geoff Travis:  Es ging darum, ein Vertriebssystem aufzubauen, das in der Lage war, größere Mengen an Platten an den gesamten Independent-Sektor zu verkaufen. Und das gelang uns auch sehr gut. Wir hatten große Seller wie New Order, Joy Division, Pigbag, M/A/R/R/S – damit hatten wir fantastische Erfolge. Wir mussten den Musikern eben auch etwas bieten, schließlich wollten wir sie bei den Indies halten, sie von unserem Profit-Share-Split und unserer kreativen Zusammenarbeit überzeugen. Wir konnten sie ja schlecht ködern, indem wir ihnen eine groovy Zeit versprachen, aber dafür eben wenig Plattenverkäufe.

Aber wenn das System doch so gut funktionierte, wieso konntest du dann die großen Acts für Rough Trade nicht halten?

Geoff Travis:  Viele von denen, die uns verließen – z. B. Stiff Little Fingers, Aztec Camera oder Scritti Politti -, wollten in dem Stil promotet werden, wie es die Majors taten. Sie wollten teure Videos und teure Studios und sehen, was ihnen das Leben so zu bieten hatte, also haben wir sie gehen lassen. Bis zu The Smiths schlossen wir mit keinem Act einen längerfristigen Vertrag, es ging immer nur von Album zu Album. Bis auf die Stiff Little Fingers verließen uns alle Bands in Freundschaft. Sie hatten sich mit Chrysalis geeinigt, wollten aber noch, dass Mayo Thompson und ich ihr Album produzieren. Also gingen wir zur Probe und hörten uns die neuen Songs an, aber wir sagten J.J., dass wir die Songs nicht sonderlich gut fänden, also warfen sie uns raus. Sie hatten ihr bestes Pulver bereits auf dem ersten Album verschossen, insofern ließen wir sie ohne Reue ziehen.

Wie wichtig war der Zeitfaktor damals? Die Platten erschienen häufig wie im Zeitraffer innerhalb weniger Wochen oder Monate. Heute dauert es oft Jahre, bis ein Album fertig ist und zur Veröffentlichung freigegeben wird.

Geoff Travis:  Das hatte so was von den Sixties, als die Kinks oder Stones fünf, sechs Singles im Jahr rausbrachten. Das war doch aufregend. Musik muss eine gewisse Aussage haben …

… und veröffentlicht werden, wenn sie frisch ist …

Geoff Travis:  … Genau, denk nur an „The Ballad Of John & Yoko“ oder „Give Peace A Chance“. Heute brauchen wir sechs bis acht Wochen, bis eine Platte raus ist, was mir immer noch viel zu lange dauert.

Marketing und Timing scheinen eben häufig einen höheren Stellenwert einzunehmen als die Musik an sich.

Geoff Travis:  Ja, leider. Da heißt es dann: „Wir brauchen einen fetten Seller im letzten Quartal.“ Und schon liegt das Album ein halbes Jahr auf Eis.

Wie bringt man da wieder Bewegung in die eingerostete Maschine?

Geoff Travis:  Letztes Jahr war mit den Strokes und White Stripes für mich musikalisch gesehen das spannendste Jahr seit langem. Das waren amerikanische Bands, und ich gehe davon aus, dass die britischen Bands darauf reagieren werden, wie sie es immer getan haben, was ich als große Chance sehe. Es läuft im Kulturbetrieb doch immer so ab, dass einer ein Statement macht und ein anderer darauf reagiert. Ich bin optimistisch, dass wir deshalb nächstes Jahr eine Menge großartiger Bands erleben werden.

Meinst du denn, dass man so eine Begeisterung oder einen Hype wie bei den Strokes unter den heutigen Medienbedingungen noch länger aufrecht erhalten kann?

Geoff Travis:  Ich glaube zunächst einmal nicht, dass die Strokes ein Hype sind. Die Begeisterung kann natürlich nur anhalten, wenn die Musik entsprechend ist, aber da mache ich mir keine Sorgen.

Aber das Spiel zwischen Medien und Plattenfirma bestimmt doch letztlich, wie es weitergeht, oder?

Geoff Travis:  Ganz ehrlich: Wir ignorieren die Medien und machen gute Platten. Natürlich freuen wir uns, wenn die Medien sie mögen, aber man sollte sich da nicht abhängig machen, sonst bist du verloren. Zum Glück mag man unsere Platten in der Regel.

London III  (Photo: Thomas Venker)

Warst du von Anfang an mit dem A&R-Bereich bei Rough Trade betraut, und wie hast du deine Acts gefunden?

Geoff Travis:  Ja, das war immer meine Aufgabe. Die Art und Weise, wie ich Bands gesignt habe, war immer sehr unterschiedlich. Der einfachste Weg, den auch die Smiths besungen haben, ist natürlich „Let Them Come To You“. So war es bei den Smiths, sie kamen in unsere Lagerhalle und drückten mir ein Tape von „Hand In Glove“ in die Hand. Bei den Young Marble Giants war es so, dass sie zwei Songs auf einer Compilation eines kleinen Cafés in Cardiff veröffentlicht hatten, die mir gefielen, also machte ich mich auf die Suche. Oder Jon Savage schwärmte mir damals von Cabaret Voltaire vor, und ich besorgte mir ein Tape. Es hat was von Detektivarbeit, wenn man auf Spurensuche geht. Das sind die besten Momente, wenn man Leute aufspürt und ihnen anbietet, ob man nicht was zusammen machen wolle.

Über die A&R-Arbeit hast du einmal gesagt, dass man von Anfang an weiß, ob eine Band erfolgreich sein kann oder nicht. Wie meinst du das, und was sind Anzeichen für einen potentiellen Erfolg?

Geoff Travis:  Es hat viel mit Instinkt zu tun. Manchmal sieht man eine Band, die in gewisser Weise perfekt ist. Manchmal sieht man eine Band mit vielen Stärken, aber auch einigen Schwächen. Ich will mir nicht anmaßen, jeden Erfolg vorhersagen zu können, aber häufig entwickelt man doch ein gewisses Gefühl, das hier etwas Besonderes passiert.

Wie sieht deine Beziehung zu den Musikern aus? Pflegst du eine enge, freundschaftliche Partnerschaft mit ihnen, oder steht die Geschäftsbeziehung im Mittelpunkt?

Geoff Travis:  Ich glaube schon, dass ich mit den meisten Bands eine gute, freundschaftliche Beziehung habe, aber es ist mir ehrlich gesagt am liebsten, wenn ich mich in ihre Arbeit so wenig wie nötig einmischen muss und sie einfach tolle Platten abliefern. Ich mag es nicht, wenn A&R-Leute sich aufspielen und erzählen, was sie Tolles zu einem Album beigetragen haben. Sie überschätzen sich so gnadenlos, und das ist ein fundamentaler Fehler. Wer wichtig ist, das sind die Musiker. Ich glaube schon, dass man mit den Bands über die Musik reden sollte, aber eben auf einer erwachsenen Ebene, auf einem hohen Niveau. Hierzu müssen die Musiker dem A&R und seinen Vorstellungen aber vor allem vertrauen und ihn ernst nehmen.

Bei welchen Bands warst du dir sicher, dass es klappen würde, und es ist nichts draus geworden?

Geoff Travis:  Ich versuche, nicht in solchen Kategorien zu denken, weil man so seine Fanmeinung übergeht, nur noch unter Marketinggesichtspunkten entscheidet und seinen Geschmack sabotiert.

Aber du musst doch auch an solche Dinge wie bestmögliches Marketing und Verkaufsstrategien denken, wenn du jetzt den Neustart von Rough Trade lancierst.

Geoff Travis:  Wenn wir die Bands unter Vertrag haben, dann müssen wir uns natürlich Gedanken über die beste Vermarktungsstrategie machen, aber nicht in dem Moment, in dem ich darüber entscheide, ob ich eine Band signe. Das ist wie bei der Ehe, da weißt du auch noch nicht, wie’s später ausgehen wird. Da geht es erst einmal um die große Liebe.

Wenn man sich die Diskografie anschaut, dann sieht man, dass ihr in den ersten Jahren von 1979 bis 1981 eine Unmenge Platten fast am Stück veröffentlicht habt, die heute als wegweisende Klassiker gelten. Würdest du diese Zeit als den Höhepunkt von Rough Trade bezeichnen?

Geoff Travis:  Ich weiß nicht. Über Klassiker wird ja immer erst in der Zukunft geurteilt, insofern hoffe ich nicht, dass unsere beste Zeit schon vorüber ist. Wenn ich das glauben würde, hätte ich Rough Trade nicht noch einmal neu ins Leben gerufen. Ich glaube, das Strokes-Album zählt zum Besten, was es je auf Rough Trade gab, und wird in 20 Jahren als eines der großen Debütalben der Rockgeschichte gesehen. Ich hoffe, dass ich noch so einige Entdeckungen in der Größenordnung hinbekomme.

Wie bist du auf die Strokes eigentlich aufmerksam geworden?

Geoff Travis:  Es war so: Ein Typ namens Matt Hickey arbeitete als Booker in der Mercury Lounge, einem der besten Clubs in Amerika. Ihn lernte ich über Frank Reilly kennen, einen alten Freund und bekannten Konzertagenten für u. a. Patti Smith. Eines Tages rief mich Matt aus New York an und sagte, er habe da was, das ich mir anhören solle. Er spielte mir „The Modern Age“ übers Telefon vor, und nach zehn Sekunden, den ersten paar Akkorden, war mir klar, dass das großartig war. Also fragte ich ihn, ob ich das veröffentlichen könne. Er sprach mit den Strokes, und die waren außer sich, dass sich jemand für ihr Demo interessierte. Sie hatten es noch nicht einmal rumgeschickt. Jedenfalls bekamen sie diesen Gig in der Mercury Lounge, und ich setzte mich mit Jeannette [Lee] ins Flugzeug nach New York. Wir waren begeistert und boten ihnen unsere Zusammenarbeit an. Wir sagten: „Wir wollen eine Single und eine EP machen, und dann bringen wir euch nach England und zeigen euch, was wir dort leisten können.“ Also buchten wir ihnen eine UK-Tour und veröffentlichten die EP. Nick Valensi sagte mir, dass er ernstlich geschockt gewesen sei, denn sie hatten nichts erwartet, und als sie dann ihren ersten Auftritt in Portsmouth absolvierten, war der Laden knackevoll und die Leute flippten völlig aus.

Und so ging’s dann weiter. Hättest du die Strokes seinerzeit in der Mercury Lounge gesehen, wärst du aber schon damals von ihrer Klasse überzeugt gewesen. Die amerikanischen A&R-Leute pennten ganz einfach, oder sie waren damit beschäftigt, die nächsten Limp Bizkit aufzutreiben. Oftmals arbeiten die Majors leider nach der Devise: Ist irgendwas erfolgreich, hole ich mir eine Kopie und hoffe, dass sie ähnlich erfolgreich wird. Wir vertrauen lieber auf den Grundsatz, dass sich die Kultur immer weiterentwickelt und in Schüben vorwärtsbewegt. Insofern kümmern wir uns lieber darum, was als Nächstes passieren wird. Das mag riskanter sein, aber wir mögen es so. Die Geschichte mit den Strokes hatte viel mit Glück zu tun. Sie gab uns aber den Schub, wirklich noch einmal von vorne zu beginnen. Leider waren unsere Strukturen noch nicht so weit, dass wir die Strokes langfristig an Rough Trade binden konnten und so gingen sie zur BMG. Das Album erschien in England dann aber doch noch bei uns, weil die Strokes meinten, dass sie uns das schulden.

Welche anderen Bands aus dem neuen Rough-Trade-Fundus haben neben den Strokes deiner Meinung nach das gewisse Etwas, um aus dieser eher kleinen Independent-Nische herauszubrechen?

Geoff Travis:  Ich mag alle Bands auf ihre Art und Weise, aber ich bin mir durchaus bewusst, dass einige Bands ihre Grenzen haben, was Erfolg angeht. Von British Sea Power erwarte ich viel. Oder ein neues Signing mit einer Band namens The Libertines, die in der klassischen Tradition von Bands wie den Kinks, Smiths oder den Strokes steht.

In Greil Marcus‘ Buch „Im faschistischen Badezimmer“ wirst du zitiert, dass du Rough Trade nicht als Teil der Musikindustrie sähest. Was meinst du damit?

Geoff Travis: Ich meine das in dem Sinn, dass ich nicht interessiert bin an den Spielchen, die so gespielt werden. Wenn ich daran denke, welche Summen mit Künstlern wie Mariah Carey nutzlos zum Fenster rausgeschmissen werden, dann macht mich das schon ein wenig traurig. Stell dir vor, was für tolle Alben man mit dem Geld hätte produzieren können. Es ist eine Schande, es ist ein Verbrechen an der Musik. Und das ist einer meiner Hauptkritikpunkte an die Majors: dass sie so wahnsinnig viel Geld verschwenden, ohne dass man das Gefühl hat, sie wüssten wirklich, was sie da tun. Sie setzen mal eben auf dieses Pferd und dann auf ein anderes. Unsere Philosophie ist eine andere: Wir setzen auf all unsere Pferde und sehen zu, dass sie in ihren Bahnen funktionieren.

Ein anderes Zitat von Marcus aus demselben Buch: „Die größten Gefahren für Rough Trade liegen auf der Hand: Manierismus, Solipsismus, moralisches Überlegenheitsgefühl, Snobismus – die klassische Sackgasse einer Avantgarde …“ Ist da was dran?

Geoff Travis:  Ich glaube, dass sein Kommentar in Bezug auf Avantgarde-Musik sehr zutreffend ist, aber nicht wirklich auf Rough Trade zutrifft. Wir mögen populäre Musik. Mein Lieblingsalbum des letzten Jahres neben The Strokes war Missy Elliott. Wenn ich die Chance gehabt hätte, das zu veröffentlichen, dann hätte ich das sofort gemacht. Es geht mir also nicht darum, dass Rough-Trade-Platten einen gewissen Indie-Sound haben müssen. Ich hätte auch „When Doves Cry“ von Prince sofort veröffentlicht. Greil hat aber völlig recht, dass man generell in solchen Nischen Gefahr läuft, zu einer Art Free-Jazz-Label zu verkommen, das meint, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Meine Auffassung von Kultur ist, dass sie die Menschen auch erreichen muss. Es bringt wenig, wenn man ein Genie ist, einen aber keiner mag. Irgendwas stimmt dann einfach nicht. Insofern sind wir uns durchaus bewusst, dass wir nicht zu Snobs verkommen oder uns als Elite fühlen dürfen.

In den frühen 80ern gab es eine Menge kreativen Austausch zwischen den Rough-Trade-Bands. Man ging zusammen auf Tour, produzierte gegenseitig und musizierte miteinander. Ist so ein Zusammengehörigkeitsgefühl bei den neuen Acts wieder zu spüren?

Geoff Travis:  Ich denke schon, wenn ich mir z.B. dieses Anti-Folk-Movement um die Moldy Peaches anschaue. Das Erste, was sie mir sagten, war nicht, wie toll sie sind, sondern, dass ich mir unbedingt Jeffrey Lewis anhören müsse und ein paar andere Acts auch noch. Diese Einstellung bewundere ich. Auf so etwas würde man bei einem George Michael wohl lange warten müssen. Ich glaube, dass es schon den Wunsch nach so etwas wie einer Community gibt. Oftmals werden solche Szenen natürlich auch künstlich von den Medien herbeigeredet, obwohl die Bands nichts miteinander zu tun haben, so wie damals in der sogenannten Liverpool-Szene, in der eigentlich nur jeder den anderen ausstechen wollte.

Wenn du an die Zeit mit den Smiths zurückdenkst, an was denkst du dann zuerst? Das muss ja so ähnlich gewesen sein wie jetzt mit den Strokes?

Geoff Travis:  In gewisser Weise war es ähnlich. Wir wussten, dass wir eine sehr gute Band hatten, dass sie allerdings so groß und einflussreich werden würde, hatten wir dann doch nicht erwartet. Was ich an ihnen besonders bewunderte, war die Schnelligkeit, mit der sie arbeiteten. Sie waren enorm. Wenn sie an einem Dienstagabend spontan zu einer John-Peel-Session eingeladen wurden, dann schrieben sie noch am Montagabend schnell einen neuen Song. Das hat mich fasziniert, zumal dabei immer noch gute Songs zustande kamen. Sie hatten zu Rough-Trade-Zeiten auch nie einen Manager. Morrissey kümmerte sich komplett um diese Belange – das Image, die Plattencover, Interviews. Das ging lange Zeit sehr gut, auch wenn es oft fast schon manische Züge hatte.

Könntest du dir denn vorstellen, jetzt wieder ein neues Morrissey-Album auf Rough Trade zu veröffentlichen?

Geoff Travis:  Das ist eine gute Frage, auf die ich keine klare Antwort geben kann – ich glaube aber, ich würde es nicht tun. Ich würde es nur tun, wenn das Album wirklich so gut wie ein Smiths-Album wäre, und das kann ich mir ganz ehrlich nicht vorstellen, obwohl er sicher noch imstande ist, gute Songs zu schreiben. Aber ich denke, alles hat seine Zeit und seinen Platz, und ich fände es eher gefährlich. Es sähe auch nach einer merkwürdigen Geste aus, oder?

Du siehst Rough Trade also nicht wie viele andere Labels als Reanimationsbecken für alte Helden?

Geoff Travis:  Es ist in jedem Fall kein Friedhof für alte Rough-Trade-Haudegen. Die Aufnahmen müssten dann schon so gut sein wie die alten Werke. Wenn Morrissey mir ein Tape mit zehn neuen großartigen Stücken schicken würde, dann müsste ich aber wohl ernstlich in mich gehen.
Rough Trade hat immer viele Singles und EPs veröffentlicht und tut das jetzt auch wieder. Virgin startet gerade eine EP-Serie. Ist das kleine, kurze Format wieder auf dem Vormarsch?
Im Rock’n’Roll ging es immer um 7-Inches und Singles. Das beste Beispiel waren The Who: Ihre Singles waren perfekt, die Alben kamen da nie ran. Ihr bestes Album ist für mich ihr Best-of-Album. Ich halte Singles für essentiell, es wäre schlimm, wenn das Format aussterben würde.

Es war ein ironischer Nackenschlag, dass Rough Trade 1991 Konkurs ging, ausgerechnet in „the year that punk broke“, wie es in dem Film über Nirvana, Sonic Youth & Co. hieß. Wie hast du dich gefühlt?

Geoff Travis:  Es war ein Alptraum, eine schlimme Zeit, ein Desaster. Es war das Resultat von vielen Fehlern. Wir waren zu groß geworden und hatten die falschen Leute in den falschen Positionen, es ist eine traurige Geschichte. Wir haben alles verloren, selbst unseren Backkatalog.

Die Rechte an dem Labelnamen wurden an One Little Indian verkauft, was passierte weiter?

Geoff Travis:  Ich machte unter dem Labelnamen Trade 2 eine Weile aus den Büros von One Little Indian weiter, gab das aber nach einem Jahr auf, weil es keinen Spaß machte. Wir hatten nicht die Freiheiten, zu tun, was wir wollten. Ein paar Jahre tat sich nicht viel, und sie benutzten auch das Label Rough Trade nicht wirklich, außer für ein paar Singles. Also machte ich vor einem Jahr zum 25. Jubiläum des Rough Trade Shops noch einmal einen Anlauf, weil mich immer wieder Leute ansprachen. Ich kaufte die Namensrechte zurück.

Was ist mit dem Backkatalog?

Geoff Travis:  Leider nichts zu machen, die Rechte sind weg. Viele Sachen wurden von verschiedenen Labels wiederveröffentlicht. Mute brachte die alten Cabaret-Voltaire- und Throbbing-Gristle-Alben noch einmal raus, Virgin veröffentlichte das Scritti-Politti-Album wieder, Stiff Little Fingers sind jetzt bei der EMI. Vieles ist also lieferbar, die Singles leider nicht.

Was für Konsequenzen hast du aus dieser Geschichte für die zukünftige Arbeit mit Rough Trade gezogen?

Geoff Travis:  Der Hauptunterschied besteht zunächst einmal darin, dass wir jetzt mit Sanctuary einen Partner haben, der sich um die finanziellen, rechtlichen und buchhalterischen Dinge kümmert, in der Hoffnung, dass sie diesen Teil gut erledigen. Der Umstand, dass sie das bereits seit einiger Zeit sehr solide und erfolgreich machen, gibt mir ein gutes Gefühl.

Als Rough den Bach runtergingen, hattest du schon die Geschichte mit Blanco Y Negro laufen, richtig?

Geoff Travis:  Das begann sogar bereits 1983. Mike Always vom Cherry-Red-Label war dort damals mit seiner Situation unzufrieden, und ich schlug ihm vor, gemeinsam ein neues Label zu gründen. Ich dachte natürlich an ein Indie-Label, aber er wollte ein Label mit einem größeren Budget-Rahmen, also ließ ich mich darauf ein. Wir gingen zu Warner und verlangten ein Label. Die sagten bloß: „Klar, kein Thema.“ Als erstes veröffentlichten wir das Everything-But-The-Girl-Album, das sich gleich eine Million Mal verkaufte. Im Jahr darauf stieg Mike aus, und seither leite ich das Label. Der Vorteil des Labels liegt auf der Hand: Geld. So konnte ich mir The Jesus and Mary Chain leisten.

… die vorher ja auf Creation waren, einem anderen legendären Indie-Label, das vor wenigen Jahren dicht gemacht wurde. Alan McGee versucht seit einiger Zeit, mit dem Poptones-Label an alte Erfolge anzuknüpfen – bisher trotz einer wahren Flut an Veröffentlichungen mit wenig Erfolg. Es ist schon wieder die Rede von Stellenabbau und Reduzierung. Was hältst du von seinem Konzept, vor allem von seiner Idee eines Weblabels?

Geoff Travis:  Er hatte ja einige große Geldgeber, die sich kürzlich verabschiedet haben, d. h., ihm fehlt jetzt das finanzielle Backing, aber ich glaube, er wird weitermachen. Ironischerweise hat er ausgerechnet jetzt mit den Hives seinen ersten Top-10-Hit. Er hat anfangs eine unheimliche Menge an Platten veröffentlicht, einige sehr gute und interessante, einige weniger gelungen. Ich habe das Gefühl, dass er sich jetzt auf wenige gute Bands konzentriert. Seine Idee mit dem Weblabel habe ich noch nicht so ganz durchblickt, aber wir brauchen Leute wie ihn.

Einige Bands, die jetzt auf Blanco Y Negro veröffentlichen, hatten ihren Start auf Rough Trade, z. B. Mull Historical Society oder David Kitt. Wie wird das weitergehen?

Geoff Travis: Wir waren einfach noch nicht so weit, um ihre Album-Release im großen Stil auf Rough Trade rauszubringen, aber in Zukunft werden wir sicher versuchen, solche Talente bei Rough Trade zu halten. Wenn sie bei Warner gedroppt werden, steht ihnen bei Rough Trade jedenfalls die Tür offen. Ich halte gerade David Kitt für einen sensationellen Songwriter.
Neben Rough Trade gibt es ja auch noch das Tugboat-Label. Wie bist du dort engagiert?
Ich arbeite dort mit Glen Johnson zusammen, der Tugboat 1998 startete und auch die Hauptarbeit leistet. Er holte auch Low an Bord, die demnächst wahrscheinlich zu Rough Trade überwechseln. Die Grenzen zwischen Tugboat und Rough Trade verschwimmen sowieso zunehmend.

Wie sieht es mit der Medienlandschaft für Independent-Musik aus in England?

Geoff Travis:  Es ist hart geworden. Von den drei Weeklies ist nur noch der NME übrig geblieben und auch der hat schwer zu kämpfen. Als es noch Sounds und Melody Maker gab, spürte man viel mehr Vibrationen und Bewegung. Heute gibt es das Q, Mojo oder Kerrang, eher gemächliche Monatsmagazine. Ich halte mich, so gut es geht, aus den Medien raus und suche nicht ihre Nähe. Was mich am meisten an den Medien ärgert, ist, dass sie die Platten oft nicht wirklich aufmerksam anhören, sondern einfach nur ihre vorgefertigten Meinungen bestätigen. Aber, mein Gott, so läuft das Spiel eben. Was mir mehr Sorge macht, ist die Radiolandschaft: Radio 1 wird von einem Mann kontrolliert, der wenig Interesse an neuer Independent-Musik hat. Und ohne Airplay auf Radio 1 ist es fast unmöglich, in die Charts zu kommen. Radio 2 spielen immerhin die Super Furry Animals oder Spiritualized, aber sie gehören definitiv auch auf Radio 1. Da gibt es so eine ungesunde Zweiklassengesellschaft zwischen Mainstream und Independent-Musik. Da muss was passieren. Im Fernsehen sieht es ähnlich aus. MTV spielt, was es schon immer spielte, leider sehr wenig neue Musik. Und The Box bringt fast nur HipHop und R’n’B. Es ist also nicht einfach, sich Gehör zu verschaffen. Das Resultat ist, dass eine Menge Hypes um Bands entstehen, die noch keiner gehört hat – das ist nicht gut.

Welche Rolle spielt John Peel in der Rough-Trade-Geschichte?

Geoff Travis: John Peel war für uns sehr wichtig. Er ist eine der wenigen unbestechlichen Größen in der Radiolandschaft, er spielt, was immer er will. Ich kenne ihn nicht sonderlich gut, wir sind uns ein paar Mal über den Weg gelaufen, und er war immer sehr freundlich. Jedenfalls wissen wir, was der andere so tut. Er hat vielen unserer Bands die Möglichkeit zu seinen John-Peel-Sessions gegeben, was ich ihm hoch anrechne. Manchmal scheint er obskure Sachen nur aus dem Grund zu spielen, weil sie eben obskur sind, aber was soll’s. Immerhin spielt es einer. Für mich war er bereits als Kind enorm wichtig, denn ich hörte seine Radiosendungen, die er von einem Piratensender in der Nordsee aus moderierte. Die Sendung hieß „The Perfumed Garden“ und wurde jeden Freitagabend von 22-24 Uhr ausgestrahlt. Da hörte ich zum ersten Mal die Doors mit „Five To One“, das hat mich um den Schlaf gebracht.

Welche Erinnerungen hast du an Epic Soundtracks? Er arbeitete ja auch einmal eine Zeitlang im Laden, und sein erstes Soloalbum erschien auf Rough Trade.

Geoff Travis:  Ich kenne nicht die genauen Ursachen seines Todes. Ich weiß nur, dass er auf Prozac war. Und Prozac hat die Angewohnheit, dass es manchen Leuten in ihrer Depression hilft, manche noch tiefer hineinzieht. Epic hatte immer einen ziemlich depressiven Charakter, aber wer weiß. Es war in jedem Fall eine Tragödie. Man konnte kaum einen größeren Musikliebhaber treffen als ihn.

Welche Veröffentlichungen auf Rough Trade würdest du im Nachhinein als deine persönlichen Highlights bezeichnen?

Scritti Politti – The Sweetest Girl (7-Inch)
The Smiths – This Charming Man (7-Inch)
Cabaret Voltaire – Nag Nag Nag (7-Inch)
The Fall – How I Wrote Elastic Man (7-Inch)
The Sundays – Reading, Writing And Arithmetic (Lp)
Augustus Pablo – Pablo Meets Mr. Bassie (7-Inch)
James Blood Ulmer – Glad To Be An American (Lp)
The Raincoats – The Raincoats (Lp)
Young Marble Giants – Colossal Youth (Lp)

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