Sarasin, Philipp (2021). 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp.

1977 oder 1979? – Willkommen in der Zukunft der Vergangenheit

„Take a walk through the land of shadows
Take a walk through the peaceful meadows
Don’t look so disappointed
It isn’t what you hoped for. Is it?

There’s a party in my mind
And I hope it never stops
I’m stuck here in this seat
I might not stand.”

Everything is very quit
Everyone has gone to sleep
I`m wide awake on memories
These memories can’t wait.”
(Talking Heads, 1979)

Was hat die Diskussion in der linken Szene zum „Heißen Herbst“ der Rote Armee Fraktion eventuell mit dem Wissenschaftsstreit über egoistischen Gene und künstliche Befruchtung zu tun oder gar mit der Eröffnung des Centre Pompidou in Paris und der Veröffentlichung von Donna Summers Hit „I Feel Love“? Handelt es sich dabei lediglich um eine zufällige zeitliche Koinzidenz oder ist vielmehr im Jahre 1977 ein paradigmatischer Wechsel festzustellen, der sich an diesen Ereignissen und vielen anderen in ganz unterschiedlichen Bereichen ablesen lässt?
Letztgenannte Auffassung vertritt Philipp Sarasin in seiner unlängst erschienen und höchst lesenswerten Veröffentlichung „1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“. Bevor ich auf diese näher eingehe, möchte ich die Gelegenheit der Buchbesprechung nutzen, um auf eine weitere Publikation hinweisen, welche Sarasins These bestens zu ergänzen vermag.

Strange Rebels 

Bereits vor einigen Jahren kaufte ich in Berlin das Buch „Strange Rebels. 1979 And The Birth Of The 21st Century“. Dessen Autor Christian Caryl macht darin an höchst unterschiedlichen Figuren einen politischen Paradigmenwechsel fest, der seiner Meinung nach zugleich einen epochalen Einschnitt bedeutet. Dabei steht Magret Thatcher für die Hinwendung zum wirtschaftlichen Neoliberalismus, der im britischen Fall allerdings mit politischem Konservatismus und einer Betonung alter Werte einherging. Dass dazu auch das Bekenntnis zur starken Nation zählte, machte spätestens der Falklandkrieg des Jahres 1982 deutlich. In der kommunistischen Volksrepublik China hatte sich bereits 1977 Deng Xiaoping in den internen Machtkämpfen nach dem Tode des einstigen Revolutionsführer Mao Tse Tung durchsetzen können. In der Folgezeit brachte vor allem Deng, der das Reich der Mitte auf jenen wirtschaftlichen Reformkurs, der es rund 30 Jahre später an die Spitze der kapitalistischen Weltwirtschaft katapultierte. In der Zwischenzeit war das Mutterland der kommunistischen Revolution, die Sowjetunion, bereits untergegangen und mit ihr der nahezu der gesamte einstige Ostblock. Dazu beigetragen hatte ein anderer, der zugegebenermaßen wahrlich seltsamen Rebellen Caryls, der 1979 neu gewählte Papst Johannes Paul II.. Denn der Besuch des polnischstämmigen Vertreter Christ auf Erden in seiner Heimat hinter dem seinerzeit noch existierenden Vorhang, so der Autor, vermochte der Oppositionsbewegung und der Gewerkschaftsbewegung Solidarnosc neue Kraft im Kampf gegen staatliche Repressionen zu geben. Während Moskau es in Polen 1981 den einheimischen Militärs überließ, das Kriegsrecht zu verhängen, waren bereits gegen Ende des Jahres 1979 sowjetische Truppen in Afghanistan einmarschiert, um die dortige kommunistische Regierung zu stützen. Die nachfolgende Niederlage war ein weiterer wichtiger Faktor, der zum Ende der kommunistischen Diktatur in der Sowjetunion und dem nachfolgenden Auseinanderbrechen des Vielvölkerstaates beigetragen hatte.

Die hochgerüstete Rote Armee hatte ihren Afghanistankrieg gegen die Mudschaheddin verlorenen, selbst ernannte Gotteskrieger, die aus der Deckung der Berge heraus mit Guerilla-Taktik agierten. Diese wurden zwar von den USA mit Waffen beliefert, verfügten vor allem aber auch über eine Ideologie, die den eigenen Tod für die Sache Allahs lohnenswert erschienen ließ, den Islamismus. Diese rückwärtsgewandte religiös-politische Agenda beseelte auch Ayatollah Khomeni, der im benachbarten Iran 1979 den von den USA unterstützten Schah erfolgreich von der Macht vertrieben hatte. Der von Khomeni und seinen Mitstreitern geschaffene Gottesstaat konnte sich in dem sich anschließenden Golfkrieg gegen den Irak behaupten, unter anderem durch den massenhaften Einsatz jugendlicher Märtyrer. Fortan unterstütze der Iran gezielt terroristische Aktionen im Zuge eines zunehmend globalen Kampfes der radikalen Islamisten gegen den Westen. Auch wenn innerhalb der islamistischen Internationale erhebliche, zumeist konfessionell begründete Verwerfungen herrschen, ist man sich einig in zentralen Punkten, der antiwestlichen, antimodernen und antisemitischen Zielsetzung sowie der Wahl der mörderischen Mittel.

Aber, was eint denn nun überhaupt die erwähnten, höchst unterschiedlichen „Strange Rebels“, zumal diese sich ja längst nicht alle der Gewalt bedienen? Die Ablehnung des fortschrittsorientierten und säkularen Gesellschaftsmodells der Aufklärung und des sozialdemokratisch oder sozialistisch inspirierten Wohlfahrtsstaates, der zumindest auch als Organisator der Wirtschaft agiert, so die Antwort von Christian Caryl. Vieles von dem, was er 2014 analysierte, ist heute, sieben Jahre später noch deutlicher geworden. Großbritannien strebt mit dem Brexit den eigentlich nicht gangbaren Weg zurück in seine eigene glorreiche Vergangenheit an, destabilisiert damit aber zugleich die Vision eines geeinten und gesellschaftspolitisch fortschrittlich orientierten Europas erheblich. China ist Diktatur geblieben und nur noch pro forma kommunistisch, darüber hinaus zu einer zunehmend imperialistisch agierenden Weltmacht geworden. Die afghanischen Gotteskrieger haben mittlerweile auch der bisherigen Weltmacht Nr.1, den USA, unlängst eine höchst empfindliche Niederlage bereitet. Deren politische Langzeitfolgen werden erheblich- so ist zu befürchten, zumindest, wenn man nicht einen undifferenzierten Antiamerikanismus pflegt. Bei all dem spielt, darin ist Caryl durchaus zu folgen, das Jahr 1979 eine zentrale Rolle.

Von Befreiung, Kulturmaschinen und dem Ende des Sozialstaats

Philip Sarasin setzt nun den auch von ihm attestierten epochalen Einschnitt in „1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart“ offensichtlich zwei Jahre früher an. Dieses Epochenjahr bettet er allerdings, wie er eingangs ausführt, in einen zeitlichen Rahmen, der von der Ölkrise des Jahres 1973 und zeitgleichen ersten Hinweisen auf das Ende des industriell basierten Wachstums sowie einer drohenden ökologischen Katastrophe bis hin zu eben jenem besagten 1979 reicht. Das Jahr 1977 erscheint dabei als besonders signifikanter Einschnitt- zumindest aus der von Sarasin gewählten kulturwissenschaftlichen Perspektive. Die verschiedenen von ihm näher betrachteten Paradigmenwechsel macht der Autor auch an Personen fest, bezeichnenderweise an deren jeweiligen Tod im Jahre 1977. Und so steht dann etwa das Ableben des neomarxistischen Philosophen Ernst Bloch für eine Krise der bundesdeutschen Linken, welche angesichts der Radikalisierung des Terrors der RAF im Jahre 1977 und der Selbstmorde von deren Führungsriege im Hochsicherheitstrakt von Stuttgart-Stammheim zunehmend der Gewalt abschwört. Geradezu personifiziert wird der nachfolgende Prozess durch den mehrfach erwähnten ehemaligen Frankfurter Sponti Joschka Fischer. Dessen persönlicher langer Marsch durch die Institutionen brachte ihn dann, so ist zu ergänzen, bekanntlich bis an die Spitze der Grünen und des Bundesaußenminsteriums.

Während die Reflektion des zunehmend auch nicht mehr ansatzweise revolutionär motivierten Mordens der Roten Armee Fraktion zu einer ideologischen Implosion der westdeutschen Linken beitrug und in anderen Ländern der Eurokommunismus historische Kompromisse einging, die letztendlich zu seiner Selbstauflösung beitrugen, steht der Tod der Schriftstellerin Anis Nin im Jahre 1977, so Sarasin weiter, für das Ende einer anderen befreienden Botschaft. Diese verhieß Freiheit auf der individuellen Ebene und überdies auch noch, das eigene Ich zu entdecken. Als probates Mittel hierzu galt das hemmungslose Ausleben der eigenen Sexualität. Bei Nin ging dies, zumindest wenn man ihren Tagebüchern überhaupt und insbesondere in diesem Punkt Glauben schenken mag, bis zum Inzest mit ihrem Vater. An anderer Stelle führte der Wunsch nach Befreiung des eigenen Ichs paradoxerweise in die freiwillige Unterwerfung unter spirituellen Vorzeichen, was des Öfteren die angebliche sexuelle Befreiung implizierte. Chandra Mohan Jain, aka Bhagwan oder auch Osho, stellte seinerzeit nur einen besonders populären Vertreter der Heilsbringer jener Art dar; besonders berüchtigt wurde jedoch zurecht der Massenselbstmord der Jones-Sekte im Jahre 1978. Letzteres Beispiel zeigt nur besonders deutlich, dass sich bei den spirituellen Sinnsuchern, die sich im Zuge der 68er-Revolte etablieren konnten, ebenso höchst totalitäre Strukturen etabliert hatten, wie etwa auch in westdeutschen K-Gruppen oder innerhalb der RAF. Diese Wege der kollektiven wie individuellen Befreiung erschienen auch von daher zusehends als Sackgassen.

Die Programmatik der Befreiung verschwand damit allerdings keinesfalls von der linken Agenda, erfolgte im Laufe der 1970er-Jahre aber nicht länger unter dem Vorzeichen der Klasse (zumal deren Erosionsprozess bereits erkennbar war), sondern dem der Minderheiten. Als Ansatzpunkt seines diesbezüglichen Kapitels dient Philipp Sarasin der Tod von Fannie Lou Hammer, einer Symbolfigur der afro-amerikanischen Emanzipationsbewegung. Dieser folgten in den USA und nachfolgend in Europa die neue Fraubewegung und Gay Liberation. Die entsprechend weiterentwickelten Diskurse bestimmen unter Stichwörtern oder auch Hashtags wie etwa Gender, LGBTQ+, Me Too, Postkolonialismus oder auch Black Live Matters. Zumindest in universitären Kontexten werden diese Positionierungen in Sachen eigener und vor allem gruppenbezogener Identität im „Patchwork der Minderheiten“ (Lyotard) gerne im Zusammenhang poststrukturalistischen Klassiker wie etwa Foucault, Lyotard, Derrida oder Kristeva verhandelt. Dies aber sind bereits 1977 diskutiert worden und dürften in der Folgezeit unter anderem auch Judith Butler und Arjun Appadurai wesentlich inspiriert haben- auch das neue Denken unserer Gegenwart beginnt in der Vergangenheit.

Diese komplexen, miteinander verbundenen, sich überschneidenden, teilweise auch widersprüchlichen Diskurslinien zeichnet Sarasin in den ersten drei Kapiteln seiner Veröffentlichung gekonnt nach. Schwieriger wird es dort, wo er dieses, ihm offensichtlich bestens vertraute Terrain verlässt und es um Übertragungen geht. Zunächst startet allerdings auch das der Kultur gewidmete Kapitel des Buches ebenfalls voll und ganz überzeugend. Die eigentlich gar nicht positiv gemeinte Charakterisierung des 1977 im Herzen Paris eröffneten gigantischen Ausstellungs- und Kulturzentrums als „Kulturmaschine“ hat diesem Teil der Veröffentlichung eine äußert sinnstiftende Überschrift gegeben. Ausgehend vom Nekrolog des vom Surrealismus beeinflussten Schriftstellers Jaques Prévert, der neben Gedichten unter anderem auch zahlreiche Drehbücher für Filme schrieb, behandelt Philipp Sarasin verschiedene Kulturmaschinen: den PC, den Plattenspieler und den Videorekorder. Dabei verweist er durchaus auf deren subkulturellen Wurzeln oder Aneignungsformen, versäumt es aber eine explizite Verbindungslinie zu dem vorher erwähnten Paradigmenwechsel der Linken zu ziehen. Denn gerade diese Kulturmaschinen erlaubten den sich organisierenden Minderheiten neue Formen künstlerischer Artikulation, was sich vor allem am veränderten Einsatz des Plattenspielers in den Genres Disco und Hip Hop aufzeigen lässt. Ein Blick in einen medientheoretischen Klassiker, Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ hätte hier die potentiell demokratisierenden Tendenzen dieser Aneignungen aufzuzeigen vermocht. Der wohl wichtigste Beitrag des Punk bei dieser kulturellen und medialen Selbstermächtigung der Minderheiten bestand in seinem DIY-Ethos. Darüber hinaus- und auch hier ist Sarasin zu ergänzen- gehörte, neben Graffiti auch der seinerzeit noch stark von jüdischstämmigen Akteur*innen geprägte Punk zum „Aufstand der Zeichen“ (Bauddrillard) im New York der frühen 1970er-Jahre.

Auch von der zeitgleich entstehenden elektronischen Popmusik ist in „1977“ durchaus die Rede, allerdings fehlt hierbei der Verweis auf ein weitere wichtige Kulturmaschine, den bereits 1972 auf den Markt gekommenen analogen Sequenzer Moog 960. Dessen Berücksichtigung hätte vielleicht auch zu einer angemesseneren Würdigung des Albums „Trans Europa Express“ (Kraftwerk 1977) beitragen können, welches die Band komplett mit elektronischen Instrumentarium einspielte, inklusive dieses Moog-Synthesizers. Ich hatte bereits bei anderer Gelegenheit bei kaput darauf hingewiesen, dass gerade der Titeltrack der Kraftwerkplatte ebenso zu den Geburtstunden des Tracks im Jahre 1977 zu zählen ist, wie das von Sarasin näher, aber leider nicht überzeugend besprochene „I Feel Love“ (Donna Summer 1977). Dessen neuartiger maschineller Sound und Groove war wiederum ebenfalls der Kulturmaschine Moog geschuldet. Diese wurde dann 1980 um eine, noch ungleich wirkungsmächtigere Kulturmaschine ergänzt: Die Drum-Machine TR-808 der Firma Roland, die fortan den Sound der Tracks von Hip Hop, Electro, House und Techno wesentlich mitbestimmte. Insofern geht der von Philipp Sarasin konstatierte politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und wissenschaftliche Paradigmenwechsel mit einem musikalischen, technologischen und kulturellen einher, den der Autor leider aber nicht in ausreichendem Maße als solchen benennt und analysiert.

Trotz dieser kleinen Einschränkungen, ist „1977“ ein äußerst lesenswertes Buch, das dann unter anderem auch noch auf die wissenschaftliche Renaissance der Genetik und vor allem der Lehre von der genetischen Disposition, dem Beginn künstlicher Befruchtung und Präimplantationsdiagnostik (PDI) sowie den Beginn des Bodybuilding-Kultes und des Jogging-Fiebers eingeht. Das Erstgenannte, die angeblich mehr oder weniger gegebene biologische Determination steht nur vermeintlich im Widerspruch zum Geist der erwähnten Techniken der körperlichen Selbstoptimierung bis hin zur Gestaltung des Wunschkindes (nebst moralisch noch viel bedenklicheren eugenischen Implikationen), welche in der zweiten Hälfte der 1970er verstärkt aufkamen. Hierbei eine Parallele zum aufkommenden Neoliberalismus zu sehen erscheint vielleicht wenig originell, liegt aber auf der Hand. Philipp Sarasin widmet seinen letzten Nachruf bezeichnenderweise Ludwig Erhard. Mit dem Tod des „Vaters der Sozialen Marktwirtschaft“ (an dessen Denkmal Sarasin berechtigterweise kratzt), ist auch die Idee der staatlichen Gestaltung von Wirtschaft und gesellschaftlicher Umverteilung ad acta gelegt worden. So schien es zumindest lange.

Hipster-Historismus und das poststrukturelle Spiel der Zeichen

Obwohl Christian Caryl und Philipp Sarasin beide einen epochalen Wechsel gegen Ende der 1970er Jahre konstatieren, haben sie ihren einzigen thematischen Schnittpunkt im Ende des sozialstaatlichen Modells und einer von deren Totengräberinnen, der damaligen britischen Premierministerin Magret Thatcher. Caryl bringt der „Eisernen Lady“ dabei durchaus Respekt, wenn nicht gar Bewunderung entgegen, allein schon für deren Durchsetzungsvermögen gegen das männliche Establishment ihrer Partei. Und überhaupt ist Christian Caryls Standpunkt ein konservativ geprägter. Gleichwohl sind seine politischen Betrachtungen der weltgeschichtlichen Zäsur 1979 sehr zu empfehlen. Die Leseempfehlung sei auch für Philipp Sarasins Veröffentlichung „1977“ wiederholt. Gerade deren ersten Kapitel könnte man auch als geistesgeschichtliche Rekonstruktion vorrangig linker Diskurse bezeichnen, die ihre Ursprünge in den Jahren 1917, der russischen Oktoberrevolution und dann 1967/68 haben, als eine Neue Linke antrat, um einen neuen, besseren Sozialismus zu schaffen. Was daraus geworden bis 1977 geworden war, welche Irrwege damit einhergingen, warum auf einmal die Postmarxisten und vor allem Poststrukturalisten die angesagte Lektüre wurden, welche neuen emanzipierenden Impulse sich daraus ergaben und warum es dann auch gerade im wiederentdeckten Regionalismus und unter dem Stichwort Identität teilweise zu merkwürdigen Überschneidungen zwischen der Neuen Linken und der Neuen Rechten kam; all das kann man bei Sarasin bestens nachlesen. Auffällig ist dabei, dass untergründig an vielen Passagen seines Buches die schon lange in die Jahre gekommene Postmoderne-Diskussion präsent ist. Der Begriff Postmoderne taucht jedoch fast nur ausschließlich dort auf, wo er absolut unvermeidlich ist, im Unterkapitel zur Architektur. Abschließend stellt sich allerdings dann doch die Frage an den offensichtlich versierten Analysten Philipp Sarasin, welche alternative Epochenbezeichnung er denn bevorzugt, wo er doch völlig zurecht das Ende der Moderne um das Jahr 1977 herum ansiedelt. Vielleicht haben die Talking Heads dieses Ende schon erahnt, als sie ihr Debutalbum schlichtweg „1977“ nannten. Deren epochales Album „Fear Of Music“ stammt allerdings aus dem Jahre 1979 und auf diesem ist auch der eingangs zitierte Song „Memories Can`t Wait“ zu finden.

Als lebensweltlich orientierter Epilog der hier skizzierten Synopse von „1977“ und „1979“ bietet sich jedoch vor allem eine Passage aus „Sexbeat“ von Diedrich Diederichsen an. In dieser reflektiert er über das „Weiter!“ der angesichts repressiver Toleranz (Marcuse) gescheiterten Revolte der 1968er und berichtet dabei unter anderem über die „Second Order Hipness“ der dissidenten Boheme:

„Die Geschichte von „Second Order Hipness“ ist die Geschichte von Bohemia im Zeitalter maximaler Permissivität und darüber hinaus. Es ist die Geschichte der ersten Bohemia-Generation, die sich auf eine zweite Ebene begeben mußte, um weiter zu kommen. Die die Wahrheit schlucken mußte, dass Weiter nicht mehr weiter bedeutet, sondern daß weiter nichts anderes ist als das Andere, von dem Ken Kesey bei dieser Rede vor dem Vietnam Committee 1966 immer wieder sprach, als er warnte, ihr Spiel zu spielen.

Was damals, an jenem Abend im Sommer 1973 das bisherige Kontinuum der >Weiter und Weiter<, um nicht denen ihr Spiel zu spielen zersäbelte, war die Einführung der Historizität als Waffe in den Hipster-Kosmos, und zwar als Waffe unserer Generation gegen die vorangegangene.“

Diederichsens persönlicher Anlass zum Beginn der Zersäbelung des Paradigmas des „Weiter!“ war die Begegnung mit einer Frau, „die keine Frau war“ sondern ein heterosexuell orientierter Junge, der sich offensichtlich für Camp begeisterte. Doch der hier beschworene Hipster-Historismus erwies sich in der Folgezeit als recht ambivalentes popkulturelles Phänomen; er kann sowohl als konservative Retromania (Simon Reynolds) erscheinen oder auch als potentiell progressive Hauntology (Mark Fisher)- eine Ambivalenz und Paradoxie, die wiederum in analoger Weise schon in der Diskussion um die Postmoderne zum Tragen gekommen war.

Der Ex-Sponti Joschka Fischer jedenfalls hat sich irgendwann nach 1977 für immer aus Bohemia verabschiedet. Man hat ihm (und Weggefährt*innen dieses langen Marsches) dann immer wieder vorgeworfen, denen ihr Spiel zu spielen, und dies sicherlich auch nicht ganz zu Unrecht. Allerdings sei die Bemerkung erlaubt, dass die Position ,Bohemia’ eine höchst bequeme darstellt. Denn deren Protagonist*innen verlassen nur äußerst ungern und allzu selten das faszinierende Feld des Ästhetischen, um sich dann wirklich in die Niederungen des höchst profanen Politischen hineinzuknien.

Literaturempfehlungen

  • Caryl, Christian (2014). Strange Rebels. 1979 And The Birth Of The 21st Century.
    New York: Basic Books
  • Diedrichsen, Diedrich (2010 [1985]). Sexbeat. Köln: Kiepenheuer und Witsch.
  • Jameson, Fredric (1986 [1984]). „Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus. In:
    Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels. Hg. von Andreas Huyssen und Klaus R. Scherpe. Reinbeck: Rowohlt, S.45-102:
  • Huyssen, Andreas (1986). After The Great Divide. Modernism, Mass Culture,
    Postmodernism. Bloomington and Indianapolis: Indiana University Press.
  • Sarasin, Philipp (2021). 1977. Eine kurze Geschichte der Gegenwart. Berlin: Suhrkamp.

Zum Nachhören

  • Kraftwerk (1977). Trans Europa Express. Kling Klang, EMI Elektrola 1C 064-82 306.
  • Space (1977). Magic Fly. Hansa International 25 150 OT.
  • Supermax (1977).World Of Today. Atlantic ATL 50 423.
  • Talking Heads (1979). Fear Of Music. Sire 400 880.

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