Punk

“Ich habe jetzt keine Lust mehr zu schreiben” – Gedanken zum Deutschpunk Schlachtrufe Sampler

Diverse
„Deutschpunk Schlachtrufe 2018“
Flix Records

1996 habe ich im Pfadfinderlager die Toten Hosen (mit dem Album: “Opium fürs Volk”) kennengelernt und bin im darauffolgenden Sommer Punker geworden. Einher ging die Entscheidung in der Folge nicht zuletzt mit der elterlich subventionierten Anschaffung wesentlicher Accessoires (Militärrucksack, Gitarre, Haarfärbemittel wurde nicht unterstützt). Das Lager war an Pfingsten. Den Sommer über lernte ich alle in der Stadtbücherei verfügbaren Hosen-Songbooks für Gitarre (“Kreuzzug ins Glück” und “Ein kleines bisschen Horrorshow”) auswendig. Und am 3.10.1996 besuchte ich dann (in Begleitung meines bescheuerten Cousins, weil meine Eltern mich alleine nicht gehen lassen wollten) mein erstes Punkkonzert (DTH + Terrorgruppe im Aachener Eurogress). Über das Konzert habe ich bereits an anderer Stelle berichtet und möchte hier nicht weiter ausholen als nötig. Jedenfalls war ich ab danach kein Hosen-Fan mehr (Kommerz), sondern richtiger Punker (Terrorgruppe). Dementsprechend wünsche ich mir von meinem Vater zu Weihnachten die Alben „UUAARRGH!“ (Wizo) und „Melodien für Milliarden“ (Terrorgruppe). Dass meine Eltern das zu schlimm fanden, es mir daher nicht schenken wollten, und stattdessen „Never mind the Bollocks, here‘s the Sex Pistols“ am Rande des Weihnachtsbaums hinterlegten, kann ich Ihnen heute nur danken (Sex Pistols sind von den alten Punkbands einer der ganz wenigen akzeptablen und haben darüber hinaus meine Begeisterung für die Skatepunk-Attitüde der California-Bands der 1990er eingestilt). Damals war das alles aber nicht so ganz einfach für mich. Also fing ich aus Rache an, die Punk-Sache auf die Spitze zu treiben.

Einen wesentlichen Bezugsrahmen stellte in diesem Zusammenhang die Produktpalette von Mailorder-Plattformen wie EMP (niemand weiß, wofür das steht) oder A+M-Music dar. Ich will da jetzt nicht zu sehr ins Detail gehen, weil das 1) wirklich dauern würde und 2) sehr unangenehm wäre. Stattdessen komme ich direkt zum Punkt und überspringe die ganzen Sachen, die ich mir aufzuschreiben vorgenommen hatte. Der Punkt ist: Der vor kurzem (Ende 2018) erschienene Deutschpunksampler „Deutschpunk Schlachtrufe 2018“ ist superschlimm und supergeil.
So, nachdem wir das geklärt hätten, geht es nun weiter (d.h. ich rezensiere den Sampler jetzt). Auf dem Sampler sind Coverversionen von alten Deutschpunk-Songs, die von neuen deutschen Punkbands gespielt werden. Das ist, um die normalerweise abschließend vorgetragene Bewertung vorwegzunehmen, genauso scheiße wie es klingt. Aber es ist auch schön. Um ehrlich zu sein, bin ich ein bisschen neidisch und sauer, weil ich eine ähnliche Idee selbst schonmal hatte (mit meiner alten Band die Shitlers wollten wir den Sampler „Schlachtrufe BRD IV“ covern; leider kam es nie dazu). Aber das ist jetzt egal.
Der Sampler fängt an mit einem Lied, das ich nicht kenne („Dann ohne mich“ gespielt von The Deadnotes – was für ein Scheiß-Name). Klingt komisch und hat so einen Off-Beat-Refrain. Keine Ahnung, was das soll. Das nächste Lied ist ein Hosen-Cover (Liebeslied). Liebeslied ist ganz schön schwer, weil die Rückkopplung im Refrain Live schwer hinzukriegen ist (sagt Kuddel auch in einer der Hosen-Biografien). Das Cover ist nicht weiter erwähnenswert. Gut ist vielleicht, dass es nicht von Wilde Zeiten ist (das ist diese Band, die den besessenen Campino-Stalker als Sänger hatte). Dann kommt ein Terrorgruppe-Cover (Die Gesellschaft ist schuld, dass ich so bin). Bemerkenswert erscheint mir, wie stark man ein gutes Lied verschlechtern kann. Themawechsel: Als nächstes covert eine Idiotenband ‚…but Alive‘. Jetzt ist es ja so, dass …but Alive eine der besten Bands sind, die es gibt. Sie sind unnachahmlich (siehe Kettcar). Ohne hier jetzt weiter ins Detail zu gehen: Das ist richtig scheiße. Als nächstes kommt noch ein Lied, über das ich nichts sagen will von einer Band, über die ich ebenfalls nichts sagen will. Der Sampler erreicht dann seinen Höhepunkt. Radio Havanna spielen „Abend in der Stadt“ von Aufbruch – Ostpunkt ist ja, wie alle wissen, die schlimmste Form von Punk. Entsprechend scheiße ist auch Aufbruch (und ganz in diesem Sinne auch ihr bekanntestes Lied „Abend in der Stadt“).

Über Radio Havanna selbst werde ich jetzt nichts Schlechtes sagen, weil Fichte und Anfy sind Freunde von mir. Der Song ist aber scheiße. Und das muss auch so sein. Weil Deutschpunk nun mal scheiße ist. Das ist normal. Das Intro im Original dauert zwar nicht sehr lang, aber trotzdem zu lang. Irgendein Idiot (Songwriter der Band Aufbruch) hat gedacht, man könne ja vielleicht bei „House of the Rising Sun“ klauen (hatten Sluts N bei „Lichterketten“ auf dem Schlachtrufe IV-Sampler ja auch schon gemacht). Das Schöne am Original ist nur, wie die Toms übersteuern, bevor er das mit dem Feuchten Eck singt (hört das mal nach, gibt es bei Spotify). Egal. Wir haben unsere Träume und das ist wichtiger als Geld (Zitat). Wir werden renovieren, es ist Abend in der Stadt. Würde ernsthaft irgendjemand mit Anfy, Fichte oder denen von Aufbruch in einem Chemnitzer Hausprojekt wohnen? Ich könnte jetzt noch länger darüber schreiben, dass der Song ein ähnliches Tempo und eine ähnliche Gesangslinie (ja: sogar die selbe Tonart!) wie „Viva la Revolution“ von den Toten Hosen hat, und was das alles bedeutet hat. Ich könnte auch die anderen Lieder besprechen, die noch auf diesem fürchterlichen Sampler sind. Werde ich uns aber ersparen. Die Rezension ist beendet.

Ach so, nein, ist sie nicht. Deutschpunk ist auch schön. Das liegt daran, gerade das Unbeholfene, Überkandidelte irgendwie eine Faszination auf mich ausübt, die sich auf überhebliche Herabwürdigung nicht reduzieren lässt (obwohl das natürlich auch wichtig ist). Ok, warte, wir machen das jetzt nochmal anders:

 

Ich stehe hier alleine
Von Zuhause weggerannt
Alle Ampeln sind auf rot
In dieser Stadt, in diesem Land

Doch wo nur soll ich hingehen?
Ne’ Wohnung hab ich nicht
Am besten in die nächste Kneipe
Und dort besauf’ ich mich

Zuhause gibt’s nur Ärger
Zoff und Streit und Zank
Meine Alten malochen in der Fabrik
Kein dickes Konto auf der Bank

Im Betrieb ham’ sie mich gekündigt
Ich hatte vor dem Mund kein Blatt
Und jetz’ stehe ich hier
Es ist Abend in der Stadt

Verdammt, in dieser Straße
Steh’n soviel Häuser leer
Und die Besitzer verdienen am Verfall
Noch viel, viel mehr
Die Kälte lässt mich frieren
Die Jacke hält den Wind nicht ab
Heut muss was passieren
Es ist Abend in der Stadt

Also los zu meinen Freunden
Wie immer ins feuchte Eck
Die Häuser müssen bewohnt sein
Das ist doch ihr Zweck

Und wir wollen nicht länger bitten
Haben die Behörden satt
Heute ziehen wir in die Häuser ein
Es ist Abend in der Stadt

Also los, rein ins erste Haus
Mensch, wie das hier verfällt
Wir haben unsere Träume
Und das ist wichtiger als Geld
Wir wollen zusammen leben
Und nicht in ‘nem Schließfach
das ‘nen Wohnklo hat
Wir werden renovieren
Es ist Abend in der Stadt!

Was passiert da draußen?
Polizei marschiert
Der Oberbulle liest ‚ne Erklärung vor
Die Politiker haben das geschmiert
Die Politiker vertreten die Spekulanten
Und lügen dabei glatt
Wenn das Recht ist und Gesetz
Ja dann scheiß ich drauf
Es ist Abend in der Stadt

Also los, Barrikaden gebaut
Verteidigen wir unser Recht
Unser Recht keine Stiefel im Gesicht zu haben
Die Mollis brennen nicht schlecht
Der Staat zeigt seine Zähne
Und wir sorgen für Zahnausfall
Wir werden uns wehren
Wir ergeben uns in keinem Fall

Politiker, wenn Ihr den Krieg haben wollt
Dann sät nur weiter Wind
Der Sturm kommt zu Euch zurück
Wenn wir wieder ohne Wohnung sind
Dann besetzen wir Eure Villen
Und die Deutsche Bank
Und den deutschen Reichstag
Und dann ist’s morgen rot im Land

(„Abend in der Stadt“ / Aufbruch)

Das hier (s.o.) ist jetzt der Text von „Abend in der Stadt“. Bevor wir uns damit genauer befassen, erst nochmal zurück zu Radio Havanna. Radio Havanna sind eine Punkband aus Berlin. Dorthin gezogen sind sie aus dem Thüringischen Suhl. Wahrscheinlich spielen sie das Lied auch irgendwie deswegen. Naja. Außerdem können die relativ gut spielen. Während Aufbruch das Lied in der gewohnt dilettantischen Deutschpunkform intonieren, ist die RH-Version natürlich technisch viel besser. Auf besonders obszöne Weise tritt dies etwa zu Tage, wenn der Schlagzeuger mit beiden Sticks in dem Half-Time-Part auf die Snare haut als spiele er bei Bon Jovi (oder später mit diesem Wirbel am Ende, wo er die regulären Snare-Schläge akzentuiert). Vom Style her erinnert das ein bisschen an das Metallica-Cover von „Whiskey in the Jar“. Aber egal. Ich wollte ja was Gutes sagen.
Das Gute an dem Song ist seine Unmittelbarkeit. Der Typ ist rausgeflogen (zu Hause und im Betrieb, weil er vor dem Mund kein Blatt hat). Deswegen trifft er HEUTE (wie IMMER) seine Freunde (im Feuchten Eck, leider kein Yelp-Eintrag gefunden) und die machen irgendwas gegen Bonzen/Politiker/Spekulanten. Metaphorisch total überfrachtet und gleichzeitig ganz unmittelbar.
Ich habe jetzt keine Lust mehr zu schreiben.

TEXT: Martin Seeliger

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