Kratzen und der Geist des Indie
„Wodurch die Kunstwerke, indem sie Erscheinung werden, mehr sind, als sie sind, das ist ihr Geist“, so Theodor Wiesengrund-Adorno in seiner „Ästhetischen Theorie“.
Der Geist, den das Kölner Trio Kratzen mit seinem neuen Album „Zwei“ beschwört, ist der des Indie – wobei das Kürzel Indie zunächst eine von Independent abgeleitete ökonomische Kategorie wider die standardisierenden Tendenzen der Kulturindustrie war, dann aber zur Genrebezeichnung wurde, als New Wave, einmal verebbt, seinem mit dem Namen gegebenen Anspruch nicht mehr gerecht zu werden vermochte. Doch auch der Indie ist zweifelsohne schon lange in die Jahre gekommen.
Wie damit als kreativer Mensch umgehen?
Kratzen spielt weiter Indie, was angesichts zahlloser anderer Optionen ja alles andere als selbstverständlich ist. Kratzen spielt weiter, spielt abgeschminkte, entschlackte Musik ohne jeglichen überflüssig erscheinenden Zierrat, spielt weiter und sucht so, den wahren Geist des Indie herauszudestillieren. Das kann man als Musiker*in so machen, allein diese Beharrlichkeit ist zweifelsohne schon aller Ehren wert, jedoch muss man die damit einhergehende Sprödigkeit als Zuhörer*in vermutlich ganz einfach auch mögen, zumindest dafür empfänglich sein, um Gefallen daran finden zu können.
„Zwei“ gehört somit schon per se nicht unbedingt zu den Alben, die sich beim ersten Zuhören erschließen. Man muss sich einlassen können, was jedoch erfahrungsgemäß das potentielle Haltbarkeitsdatum des musikalischen Produkts erhöht. Das Album eröffnet mit geraden Grooves von Schlagzeug und Bass sowie minimalistischen Gitarren und behält dies dann auch über nahezu die gesamte Laufzeit der Platte bei. Hinzu kommt der Gesang von Thomas Mersch, den ich in einer Rezension von „Salvage Art“ (seinem elektronischer ausgerichteten Duo-Projekt mit Roger van Lunteren) schon einmal hinsichtlich seiner Inhalte als lakonisch bezeichnet hatte. Dies ist dann auch hinsichtlich des neuen Albums im Bandkontext mit Zeitgeistdiagnosen wie etwa der von „Unten“ zu konstatieren: „Luxus ist ein leichtes Laster und mancher fällt die Treppe rauf. Unten ist das neue Oben, der Weg bergab führt dich hinauf“.
Aber die Bezeichnung lakonisch scheint auch bestens dafür zu taugen, den Charakter des Einsatzes der Stimme als solcher zu umschreiben und könnte dann ebenfalls für die weiblichen Gesangparts von Stefanie Staub bei „Glauben“ und „Still“ gelten- letzteres eine wunderschöne Ballade mit dezentem 60s Flair. Dieses Lakonische der Inhalte, des Singens, aber auch von Haltung und Habitus von Kratzen koinzidiert längst nicht nur hier bestens mit ihrer Musik. An anderer Stelle heißt es dann auf „Zwei“ jedoch auch: „Wir gehen auf eine Reise, wir haben kein Gepäck, wir werden hängen bleiben, auf einem irren Trip“. Das klingt zunächst einmal vielleicht paradox, aber gerade aus der obsessiven Wiederholung vermag der Sound von Kratzen zu gewinnen; Kraft, Aussage, Magie. Denn es mischt sich der Geist des Indie mit dem des Krautrocks, wohlgemerkt des Krautrock in seinen straighteren Weilerswister und Düsseldorfer Varianten. Und vielleicht vermag das Ergebnis in seiner konkreten Erscheinung dann, ganz unabhängig von Adornos bekanntem Verdikt jeglicher Form des Pops, tatsächlich mehr zu sein, als es eigentlich ist.
Kratzen sind: Melanie Graf, Thomas Mersch und Stefanie Staub. Die Band besteht seit 2017 und hat 2020 ihr Debut „Kratzen“ veröffentlicht.
Das neue Album „Zwei“ erscheint am heutigen 23.09.
Das Release Konzert findet am kommenden Sonntag im Blue Shell in Köln statt.