Record of the Week

Cigarettes After Sex „X‘s”

Cigarettes After Sex
„X‘s”
(Partisan/PIAS/Rough Trade)

Zigarettennachdemsex bleibt ein irgendwie doofer, wenn auch wohl begründeter Name. Aber übersetzen ist nicht fair. Da klingen viele coole englische Musiker*innen plötzlich kindisch oder dämlich. Ich meine, Sexpistolen oder die Rollenden Steine klingen unglaublich stupide, die Schlitze oder Regenmäntel fast schon wieder witzig. Das alles wussten bekanntlich auch schon Tocotronic.

Letztlich geht es stark um Klang und Inszenierung und nur peripher um Namen, hier aktuell Greg Gonzalez, Jacob Tomsky, Randy Miller. Wichtiger an diesem Trio aus El Paso in Texas waren für mich seit derem Debüt 2017 zwei Aspekte: Erstens der schleichend-wunderschöne Sound irgendwo zwischen den psychedelisch-sanften Seiten von The Church oder Slowdive, den vergessenen Transient Waves und deren ehemaligen Labelmates Sigur Rós.

Das dritte Album hat fünf Jahre gebraucht und, wen überrascht das, wurde von der Pandemie betroffen und verzögert. Zu oft blenden wir die, wie in einem Horrorfilm angeordneten Massen an Holzsärgen in Norditalien oder an Holzkreuzen in Brasilien schon wieder aus. Was sollen wir auch tun. Es geht immer weiter. Meistens. Das stimmt, aber Cigarettes After Sex halten die Zeit bedingt an oder verlangsamen sie zumindest. Unbedingt klingen sie, und das ist die zweite Auffälligkeit, irgendwie zeit- und geschlechtlos, ähnlich erfreulich belanglos in Zuordnungsversuchen wie bei Anohni, eben Sigur Rós‘ Jónsi Birgisson oder einst Dave Kusworth und in die andere Richtung etwa Cat Power, Thalia Zedek oder Black Sea Dahus Janine Cathrein.

Auch wenn es Sänger Gonzalez bei den „X’s“ offenbar um gescheiterte Bewerbungen, Auswahlen und Beziehungen geht, wirkt das neue Album fast beschwingt und ein Stückweit befreit, auch verglichen mit den oben genannten, deutlich dunkleren Acts. „Silver Sable“ schwebt geradezu durch den verregneten Sommerwohnzimmerraum zwischen Diskussionen um den nächsten US-Präsidenten, Attentaten, Kriegen, Besuchen im Seniorenheim, Telefonaten mit alten Freunden und dem großen Glück der Landung mit einer erfüllten Liebe: „Holding You, Holding Me“. Es darf mal einfach nur durchgeatmet werden in diesem ganzen Irrsinn. Und ja, na klar, gibt es immer jemanden, dem es schlechter geht. Selbst der Song „Dark Vacay“ dreht sich hoffnungsvoll um dunkle Sterne, Zusammenstöße und das Fallen. Und „Baby Blue Movie“ kratzt schon sehr angenehm an David Lynch-Soundtracks oder wavigem Gitarren-Gothic.

Gonzalez selbst sieht sich eher in der Gesellschaft von 70er/80er-Disco Slow Dance, nennt die gute alte Sade („Smooth Operator“) als musikalische Patin, findet das eigene Album gleichzeitig brutal und beschreibt seine Songs als Selbsttherapie nach dem Ende einer jahrelangen Liebesbeziehung. Damit treffen Cigarettes After Sex einen großen und sensiblen Nerv und werden zu Balsam-Superstars, siehe ihre millionen- und billionenschweren Abrufe bei Spotify oder TikTok und ihre ausverkauften Konzerte. Ganz große Gefühle ohne die – durchaus sympathische – Verhuschtheit von Dream Pop oder Shoegaze. In der ektomorphen Soul-Version. Schon der anfängliche Titelsong und die folgende Singleauskopplung „Tejana Blue“ lassen Assoziationen zu dysphorischer Ruhe, heimeliger Einsamkeit, produktiver Dissonanz und dem Leben im Hier und Jetzt im Jahr 2024 entstehen. Emotionsprovokationen, wie wir sie nicht nur im Pop-Leben lieben und brauchen. Nur dass sie dort besser verortet sind als in krawalliger Schreierei und fundamentalistischem Stumpfsinn und seiner Lösungslosigkeit.

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