Tarwater „Nuts of Ay”
Tarwater
„Nuts of Ay”
(Morr Music/)
Musik klingt für mich auch immer nach Orten und insbesondere Städten. Und umgekehrt haben Städte für mich einen Sound. Ronald Lippok und Bernd Jestram als Tarwater hängen in meinem kognitiv-emotionalen Apparatus wohl lebenslänglich in der Ecke ‚good old Berlin‘ der Jahrtausendwende. Es gibt Schlimmeres. Als wir hin- und her-mäanderten zwischen Maria am Ostbahnhof, WMF, De:Bug, Nikki Sudden, Hugo Race, Barbara Morgenstern, Pole, Rhythm & Sound, Techno und Volksbühne. Auch spezifisch ihr damaliges Label Kitty Yo war ein Treffpunkt an der Torstraße, Lippok/Jestram eine Art Ostberliner Avantgarde oder New Wave dieses Pop-Lebens und mit Historie (Ornament & Verbrechen).
Ich meine, mal irgendwann in Mitte im Prater-Biergarten mit Colin Newman (Wire), Malka Spigel (Minimal Compact) und Bernd Jestram gesessen zu haben, ohne dass diese mich besonders wahrnahmen. Das war ja eh die Zeit, als Peaches einen positiv verwirrte und Gonzales einen auf Label-Partys zum Mit-Rap aufforderte. Wild. Wunderbar. Und auch OK bis gut, dass das lange her ist.
Nun tauchen Tarwater, die für mich damals vor allem durch ihr postrockiges, indietronisches-Album „Silur“ (1998) unvergesslich wurden, wieder auf. Dieses Bild trifft das Ozeanische des Duos inklusive großer Gästeliste (u.a. Masha Qrella, Schneider TM, Lars Rudolph und Carsten Nicolai, der sich auch für die visuell-künstlerische Gestaltung verantwortlich zeigt) perfekt: Ihre Kühle, Distanz, Lippoks hohle, dunkle Stimme mit diesem eigenen Akzent. Gesellt sich zu ihrer sehr warmen, leuchtenden, leicht experimentellen und dennoch eingängigen Musik. Viele Instrumente, Effekte, Ideen. Treffen auf Umarmungen durch Klang und Lied/Track. Im Hier und Jetzt. Also nicht ‚früher war alles besser‘. Sondern grau, grau, grau, früher war manches besser, leichter und manches auch v.a. subjektiv schwerer oder sogar beschissener.
Selbst für Menschen ohne Früher-Sensibilität eignen sich Tarwater auch 2024, um Berlin akustisch zu erfühlen. Und sei es auch erstmal nur imaginativ und neben all den unerfreulichen Entwicklungen. ‚Berlin liebt Dich‘, sangen Tarwaters Labelmates Surrogat seinerzeit großmaulig und nicht gänzlich unironisch. Tarwater hingegen bleiben komplex un-doppelbödig und benutzen praktisch kein Augenzwinkern, gehen eher ihren ernsten bzw. auf andere Weise spielerischen Weg zwischen Geschichten, Trompeten, Flöten, Rhythmen, nie weit entfernt von Robert Wyatt, David Sylvian oder auch mal David Grubbs. Die Stücke vom dreizehnten Album „Nuts of Ay“, dem ersten seit zehn Jahren, und die Musik in Gänze brauchen Zeit und Raum, das ist keine Floskel und macht sie um so wertvoller. Nebenbei gehört wirken sie wie Beinahe-Muzak. Mit Muße und entspannter Konzentration oder konzentrierter Zerstreuung, in meinem Fall ab dem ca. dritten, vierten Mal des genaueren Zuhörens, fängt (wieder) alles an zu funkeln, rücken die Verweise zu Art Pop (wie Kunst hier sowieso eine große Rolle spielt), No/New Wave, Postpunk, Indietronics, Postrock, elektronischer Musik oder auch Velvet Underground („Spirit of Flux“, „USA“) angenehm zur Seite, ohne zu verschwinden. „On Waves and Years“ und „Breaking Day“ sind voller Historien und lassen frühe Casio- genauso wie die erwähnten Kitty Yo-Erfahrungen ebenso anklingen, wie sich gleichermaßen die Welt weitergedreht und Tarwater verändert hat. Ebenso wie Tarwater wieder Lyrics von anderen, hier u.a. Shane MacGowan und John Lennon, verarbeiten. Nicht nur das trägt zu ihrem einmaligen, sympathischen Gloomy- und Spooky-Sein bei. Sie sind nicht ver-, sondern ein schillerndes Stückweit entrückt in die Sphäre der Zeitlosigkeit, wie eine dauerhafte Liebe.
Tarwater spielen am 10.01.2025 im HAU Hebbel am Ufer, Berlin