Records of the Week

Idles „Ultra Mono” / Wax Chattels „Clot”
 / A Certain Ratio „ACR Loco”

Idles
„Ultra Mono”
(Partisan/PIAS/Rough Trade)

Wax Chattels
„Clot”
(Captured Tracks/Cargo)

A Certain Ratio
„ACR Loco”
(Mute/PIAS)

 

Wie bringe ich diese drei tollen Alben inhaltlich zusammen? Der Geist eines weiten und aktualisierten Verständnisses von Post Punk im Sinne von Experiment, Krach, Funk, Hipness und immer auch Intellektualität durchweht die drei Acts, so unterschiedliche Generationen sie auch repräsentieren: die Idles stehen für die späten Nullerjahre, die   Wax Chattels für die späten Zehner Jahre – und A Certain Ratio gibt es bereits seit Ende der 1970er Jahre, sie veröffentlichten neben Joy Division, New Order, Happy Mondays und Cabaret Voltaire auf Factory und zeichneten sich für die allererste Single des Manchester Labels verantwortlich. Alle drei verbinden Dancefloor mit Anti-Haltung. Jung im Sinne von naiv oder alt im Sinne von saturiert klingen sie nicht. Im Gegenteil.

 

IDLES (Photo: Tom Ham)

Der Indie-Flurfunk weiß zu berichten, dass eine der irrsinnigsten und lautesten Bands der letzten Jahre zugleich eine der höflichsten ist: Die britischen Idles aus Bristol fragen nach ihren Krach-Sets in Clubs angeblich gerne, ob sie noch aufräumen helfen können. Mit „Ultra Mono“ sind sie zumindest aus den kleinen Läden wohl leider endgültig raus – falls sie denn Corona bedingt überhaupt irgendwann wieder reindürfen in Clubs.

Nimm die Psycho-Frickeligkeit der Jesus Lizard, den Drive von Wire, die Meckerigkeit von The Fall und den geordneten Krach der Swell Maps und schick das alles ins Jahr 2020. Der Boller-Bass mischt sich mit schaluer britischer Post Punk-Attitüde. Laut-Leise-Schemata, wie wir sie aus dem guten Postrock kennen, werden vom Storytelling des Sprechgesangs von Joe Talbot begleitet, was im Anti-Predigt-Stil an den jungen Nick Cave oder gar die Sleaford Mods erinnert. Die Single „Grounds“ ist da noch einer der geschmeidigeren Songs.
Wenig überraschend tauchen auf „Ultra Mono“ unter anderen David Yow (Jesus Lizard, Scratch Acid), Warren Ellis (Dirty Three, Nick Cave) und Jehnny Beth von den Savages auf. Spaß kann widerständig, Liebe lärmend und Aufklärung cool sein. Irgendjemand in meinem geschätzten Umfeld sprach von neuen Electro-Einflüssen. Das ist wirklich Plumperquatsch. Ich höre sie nicht.

Wax Chattles (Photo: Ebru Yildiz)

Die Wax Chattels aus Auckland wollen laut eigener Aussage den Menschen ein Gefühl von Unwohlsein vermitteln. Das ist doch schon mal etwas und schließt an die Idles an. Nachdem das wegweisende neuseeländische Label „Flying Nun“ (The Chills, The Clean, The Bats) Peter Ruddell, Amanda Cheng und Tom Leggett unter Vertrag nahm und die mit ihrem Debütalbum voller kalkuliertem, berstendem Noise Rock sogar in die Top Ten am anderen Ende der Welt kamen, legt „Clot“ nochmal politischer nach.

Amanda Cheng, die Taiwanesischer Herkunft und Immigrantin ist, berichtet unter anderen in „No Ties“ oder „Forever Marred“ von ihren Erfahrungen der kulturellen Differenzen, Heimatlosigkeiten und Selbstfindungen. Nicht unähnlich den Idles machen Wax Chattels Krach mit Haltung, auch hier spielen offenhörbar weltpolitische Missstände zwischen Migrationen, Weltschmerzen und anti-transformativen regressiven Autokraten eine gewichtige Rolle für den knallenden progressiven Groll. Das gitarrenlose Trio wuchtet mit Bass, Mini-Schlagzeugset, Keyboards und viel Hall eine Menge Frust und Energie aufs Tableau, ohne verbittert zu klingen. Es geht auf allen sieben Songs schleudernd nach vorne.
Was ist eigentlich das Gegenteil von Gefälligkeit?
Für mich sind Idles sowie Wax Chattels aktuell die klarste Ansage in Sachen aktueller Noise-Bands neben Metz.

A Certain Ratio prägten schon früh mit ihrem Funk New Wave mit Einflüssen von Eno und Roxy Music bis hin zu Parliament und Funkadelic die Indie Discos, wobei sie nie so erfolgreich wie andere berühmte Acts aus ihrem Umfeld wurden. Viele Mutationen der ‚Band‘ und auch tolle Seiten- und Soloarbeiten wie etwa von Sänger Jez Kerr wurden außerhalb von UK oftmals etwas überhört.

Wo für Idles und Wax Chattels Noise eine glasklare Referenz ist, sind bis heute New/No Wave, Funk, Disco, Dancefloor und diverse Genres avantgardistischer, elektronischer Popmusik für A Certain Ratio kennzeichnend, man höre nur prototypisch „Friends Are Around Us“, das sind mindestens drei Songs in einem. Sie durchkreuzen Stile, Attitüden und Szenen chronisch jammend, unterstützt von Gast-Sängerinnen wie Denise Johnson und erzeugen damit seit jeher einen ganz eigenen polykulturellen Sound – in seiner Unabhängigkeit ähnlich dem des intelligenteren Noise Rocks (vergleiche bitte zu inspirierenden Compilations zu den Anfängen von New Wave, Post Punk, Industrial, Electronica und angrenzender Bereiche meine Online-Kolumne bei „Die Aufhebung“). „Berlin“ klingt sicherlich nicht zufällig nach der Hommage „You Need The Drugs“ von Westbam/Richard Butler. Gitarrist Martin Moscop sieht laut Presse-Info direkte Zusammenhänge zu den frühen Tagen von ACR und empfindet 1980 wieder als nah. Also auf, zurück in die Zukunft mit Maschinen-Funk.

Alle drei Acts und Alben machen für mich ein wahnsinnig herausforderndes, buntes Paket voller postpunkiger Ideen in 2020 aus, zwischen Rumwirbeln, Laptop und Handy aus dem und durch das Fenster-Schmeißen, Innehalten, Weltkritik, Idiot*innenschelte und am Ende freundschaftliches Zusammenhalten auf dem Dancefloor. Ein tolles zeitloses Paket zur Zeit und ein beeindruckender Beweis der ‚politics of pleasure‘.

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