40 Jahre "London Calling"

The Clash: Was tun mit der Wut

Unser Autor Kristof Künssler-McIlwain Anfang der 90er Jahre beim Versuch The Clash nachzuspielen.

1979, dieses Jahr wirkt aus heutiger Sicht beinahe prähistorisch. Die Welt ist noch in Ost und West geteilt, Franz Josef Strauß Kanzlerkandidat, der Hamburger SV deutscher Fußballmeister, ein Sony-Walkman kostet vierhundert D-Mark, Emails werden mit der Schreibmaschine geschrieben und eingetütet – und „London Calling“ von The Clash erscheint.

Das dritte Clash-Album gilt als eines der Erweckungserlebnisse der damals noch jungen Punk-Bewegung. Zu dem Zeitpunkt wies jene zwar schon erste Anzeichen des Zerfalls auf, die anfängliche spielerische Energie der Szene verpuffte unter anderem wegen der Vereinnahmung durch die Industrie, musikalisch stagnierte die eine Fraktion in der immer gleichen Formel, die davon genervte andere Seite suchte sich neue Spielplätze in Post-Punk-Experimenten und radikaleren Ansätzen. „London Calling“ schwappte ebenso bewusst über den Tellerrand, und sollte zum Klassiker werden. Mir sind bis heute nur wenige passendere Beispiele für die perfekte Symbiose der besten Anteile von Punk/Gitarrenmusik und glasklarem Pop bekannt.

Das selbstbetitelte Debüt der Band war zwei Jahre zuvor eine sehr gute, aber noch recht eindimensionale Schraddelpunkplatte gewesen, das zweite „Give´Em Enough Rope“ ließ im Folgejahr 1978 schon zaghaft die spätere Genialität aufblitzen – „Sandinista“, erschienen 1980, mag ob seiner radikaleren Verweigerung von Rock-Konventionen und Erwartungen der mutigere Wurf gewesen sein, in Erinnerung blieb es eher als der sperrige Monolith im Oeuvre der Band. Im Anschluss gab es mit „Combat Rock“ 1982 noch eine gute Pop-Platte. Die richtige Balance, den nachhaltigen Impact auf die Musikgeschichte hatte aber primär „London Calling“.

Auf The Clashs (zugegebenermaßen überlangen) drittem Album sind mindestens fünf Songs für die Insel: Neben dem natürlich unvermeidlichen Titeltrack und dem entschlossenen Reggae-Schlachtruf „Guns Of Brixton“ (übrigens der einzige Clash-Song den weder Mick Jones noch Joe Strummer, sondern Bassist Paul Simonon singt) sind es Songs wie „Clampdown“ („It’s the best years of your life they want to steal“), die die Platte so aufregend machen.

Im politischen Klima der gerade begonnenen Thatcher-Jahre war dies der Soundtrack zum wachsenden Widerstand gegen den allumfassenden Marktfundamentalismus und seine tiefen Einschnitte ins britische Sozialgefüge. Klar waren The Clash in der aufgekommenen Punkwelle nicht die einzigen die das Thema besetzten, aber sie boten mit ihrem Mix aus Punk, Reggae, Dub etc. Anknüpfungspunkte für viel breitere Massen, also nicht nur den weißen Mittelstandskids, sondern auch den Rudeboys und -girls der post-migrantischen Communities, und denen die sich nicht als Punks verstanden.

Überhaupt waren sie ziemlich korrekte Typen, auch und gerade im Kontext ihrer Zeit. Zwar äußerte sich die Band (leider) nie explizit zu Themen wie beispielsweise Feminismus, unzählige Musikerinnen aus ihrem Londoner Umfeld können jedoch berichten, wie sehr vor allem  Joe Strummer sie ermutigte, selbst anzufangen, Musik zu spielen, rumplige AnfängerInnenbands mit auf Tour nahm, oder den Proberaum zur Verfügung stellte. Kate Korris (später The Slits, Mo-Dettes) hätte nach eigener Aussage nicht ohne weiteres eine Gitarre in die Hand genommen, hätte ihr Mitbewohner Strummer nicht ohne großes Mansplaining ein paar Griffe gezeigt. Er war es, der explizit dafür sorgte dass zu dem Zeitpunkt unbeachtete oder genrefremde Bands wie die New Yorker Schwestern ESG als Support auftraten. Diese Art der Solidarität hatte einen nicht geringen Anteil an einer florierenden Diversität innerhalb einer Szene, die später sehr viel mehr männlich und weiß dominiert sein würde. Bis zu Strummers plötzlichen Tod wegen eines unerkannten Herzfehlers im Alter von 50 im Dezember 2002 blieb er einem politisierten DIY-Ethos verbunden.

Von all dem hatte ich natürlich keine Ahnung, als ich zur Wendezeit die überspielten Westkassetten meines Stiefvaters in die Finger bekam, und sich beim Hören des Clash-Best-Ofs eine neue Welt auftat. Da war „London Calling“ gerade erst eine Dekade alt. Schon in meiner DDR-Kindheit war ich umgeben von Westradio, und eine sehr frühe Kindheitserinnerung ist die plötzlich mit einer Horde Bandkollegen meines Punk-Onkels vollgestopfte Wohnung, und auf den stundenlangen Urlaubstrips durch die kleine Republik wurde die Rückbank eingelullt mit Iggy Pop, Velvet Underground – und The Clash. Keine andere Musik hat mich seitdem so stetig begleitet, ohne auch nur ansatzweise an Appeal zu verlieren. Das rational zu erklären ist schwierig. Im Nachhinein rede ich mir ein, dass es neben der Anti-Haltung und Catchiness vor allem dieser Mangel an Mackertum und die sympathische Zerbrechlichkeit und Melancholie zwischen den Zeilen ist, die nie an Charme einbüßen wird.

„Lost In The Supermarket“ – gesungen von Mick Jones, aber geschrieben von Strummer, der sich dessen prekäres Aufwachsen vorstellte – ist einer der schönsten Popsongs der Dekade, bei dem mir vom Hören fast Tränen kommen: Jones´ Stimme ist teils so weich dass er beinahe flüstert, Strummers Talent, lebendiges Kopfkino zu erzeugen ist hier auf ihrem Peak, und trotz der Melancholie ist das Stück beinahe tanzbar. Und wann hat ein Hetero-Mann schon mal über das „first ever feeling“ eines anderen Mannes geschrieben. Solche Songs zeigen nebenbei, dass Drummer Topper Headon wohl einen Löwenanteil daran trägt, dass die Band ein ganz eigenes Level erreicht hat, ich kenne bis heute keinen Punk-Schlagzeuger, der so komplex und einfallsreich spielt, ohne alles mit Fills oder Geholze zu zu scheißen, sondern gute Songs noch besser macht (Headon taucht auf einigen Listen als „Most underrated drummer of all time“ auf).

Den speziellsten Platz in meinem Herzen hat aber der letzte Song der Platte, als Hidden Track auf der Originalauflage nicht mal gelistet: Mick Jones schrieb „Train in Vain“ nach der Trennung von Viv Albertine (The Slits), und als einer der wenigen von Männern geschriebenen Breakup-Songs dieser Ära ist „Train in Vain“ überraschend „un-toxisch“, sondern genaugenommen recht sweet. Der Song zitiert Elemente von Slits´ „Typical Girls“, welches wiederum „Stand By Your Man“ zitiert hatte, welches seinerseits stark von „Stand By Me“ beeinflusst war, hier wiederum eine Hauptreferenz in „Train in Vain“. Best of all worlds.

Der „Call to arms“ bleibt aktueller denn je, oder um mit der Zeile aus „Clampdown“ zu schließen:
„Let fury have the hour / Anger can be power / Do you know that you can use it?!“

Kristof Künssler-McIlwain

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