EM GUIDE — Xmal Deutschland – Interview mit Anja Huwe

Anja Huwe: „Wir akzeptierten keine Normen. Wir hatten eine Haltung.“

Xmal Deutschland (Photo: ChrisGarnham)

In den frühen Achtziger Jahren gelang der Hamburger Band Xmal Deutschland, was für Musiker:innen aus Deutschland so gut wie ausgeschlossen schien: Das Londoner Kultlabel 4AD, auf dem Cocteau Twins, Bauhaus oder auch Birthday Party herauskamen, veröffentlichte zwei Alben der Gruppe, „Fetisch“ (1983) und „Tocsin“ (1984) sowie Re-Releases der ursprünglich bei Alfred Hilsbergs ZickZack-Label erschienenen Singles. Diese Alben waren jahrzehntelang nicht erhältlich, um die längst aufgelöste Band entstand ein Mythos, der sich auch aus dem Umstand speiste, dass Xmal Deutschland in ihrer aktiven Zeit „zuhause“ wenig galten, aber international erfolgreich waren.

Anja Huwe (Photo: Jan Riephoff)

Von vorn: Xmal Deutschland begann als Experiment von fünf Freundinnen, die nur wenig bis keine musikalische Erfahrung hatten. Gitarristin Manuela Rickers hatte bereits in einer anderen Band gespielt, Anja Huwe, Caro May, Schlagzeugerin Rita Simon und Keyboarderin Fiona Sangster fingen quasi bei null an. Im Interview berichtet Huwe bestens gelaunt, „unsere Freunde hatten Instrumente und Übungsräume, spielten in Bands. Also dachten wir uns, dass wir das auch machen können. Die DIY-Idee fanden wir gut. Caro und ich haben eh‘ unser eigenes Ding gemacht, unseren Style entwickelt. Haare mal lang, mal kurz.“

Einige Jahre zuvor hatte Anja Huwe in London The Clash und The Slits gesehen, Konzerte, die wie Initialzündungen wirkten. „Ich hatte schon immer eine Affinität zu Musik, und mir hat die Londoner Szene insgesamt gut gefallen. Ich bin auch in Vivienne Westwoods Shop auf der Kings Road gegangen, der damals Seditionaries hieß.“ Zurück in Hamburg arbeitete sie in Klaus Maecks Plattenladen Rip Off, wo sie Mona Mur und Mark Chung (zunächst Einstürzende Neubauten, später Freibank Verlag) kennenlernte. „Mona und ich freundeten uns gleich an, obwohl wir sehr unterschiedlich sind. Aber wir haben einen gemeinsamen intellektuellen Boden“, sagt Anja, die mit Mona Mur noch heute befreundet ist.

Als Sängerin von Xmal Deutschland war zunächst Rita Simon vorgesehen, doch als sie zu Aufnahmen nicht erschien, schubsten die anderen Anja ans Mikro: „Du bist dran!, hieß es, ich wollte erst nicht. Ich konnte mir überhaupt nicht vorstellen, im Mittelpunkt zu stehen“, sagt Huwe, die mit ihrem außergewöhnlichen Gesangsstil und Performance Xmal Deutschland auf unverwechselbare Art prägen sollte.

Xmal Deutschland (Photo: Mick Mercer)

Eine erste Single („Großstadtindianer“) erschien 1981 bei ZickZack, zum ZZ-Sampler „Lieber Zuviel Als Zuwenig“ steuerte die Band den Song „Kälbermarsch“ bei. Alexander Hacke, damals Alexander Borsig, empfahl den Freundinnen, sich doch bei 4AD zu melden, weil sie so britisch klängen – gesagt, getan, ein Brief und eine Cassette gingen nach London, und tatsächlich meldete sich das Label, schickte Xmal Deutschland auf UK-Tour mit Cocteau Twins und gab ihnen einen Plattenvertrag.

„Wir wussten, dass das ungewöhnlich ist“, so Huwe, „und waren sehr froh darüber, denn wir wollten deutschen Boden verlassen. In Deutschland sind wir nicht gut behandelt worden, die Leute wussten nicht, was sie mit uns anfangen sollten. Wir wollten uns nirgends reinreden lassen, akzeptierten keine Normen. Wir hatten eine Haltung.“

Nicht nur ihr Musikstil ist ungewöhnlich, auch der konzeptuelle Look der Band aus schwarzen Klamotten und buntgefärbten, extrem toupierten Haaren irritiert. Xmal Deutschland waren Gothic, bevor es den Begriff überhaupt gab, erinnern mit ihrem dunklen Sound und der wie ein fünftes Instrument agierenden Stimme Anjas allenfalls an Siouxsie & The Banshees. Berührungspunkte mit weiblich besetzten deutschen Punkbands wie Östro 430 oder Hans-A-Plast gibt es kaum. „Malaria! fanden wir interessant, die hatten eine tolle Aura und waren international erfolgreich. Eine direkte Competition gab es nicht, aber man hat sich beäugt“, lacht Anja. „Früher wurde man viel mehr infrage gestellt, vor allem als ‚Mädchenband‘. Man wurde mit scheinbar harmlosen Formulierungen ausgehebelt, so nach dem Motto, ‚Du bist ja süß!’“

Xmal Deutschland (Photo: Mick Mercer)

In England kommt der aggressive Stil von Xmal Deutschland gut an, die deutschen Texte verstärken die mysteriöse Wirkung der Band. Die Neuaufnahme ihres Songs „Incubus Succubus II“ und das Album „Fetisch“ landen in den britischen Independent-Charts, John Peel lädt die Band insgesamt fünfmal ein. Nach einigen Personalwechseln kamen Peter Bellendir (Schlagzeug) und Wolfgang Ellerbrock (Bass) zur Band, mit dem zweiten Album „Tocsin“ touren Xmal Deutschland um die Welt, spielen in den USA und Japan. Xmal Deutschland treten vor den Stranglers im Wembley Stadium auf, die von Stranglers-Sänger Hugh Cornwell produzierte Single „Matador“ erreicht die UK-Charts.

Das dritte Album „Viva“ erscheint 1987, bleibt jedoch hinter den hohen Erwartungen zurück. Ende der Achtziger ist die Band Geschichte: „Wir waren fünf starke Persönlichkeiten, und der Druck auf uns nahm zu. Wir sind am anstrengenden Bandleben zerbrochen.“ Dazu kommt, dass Anja Huwe zu einer Solokarriere gedrängt wird, der sie sich verweigert. „Musik war dann nicht mehr so wichtig für mich. Eine zeitlang fand ich Techno und Rave gut, habe mit Andrea Junker beim Musiksender VIVA als Redakteurin für die Sendung Housefrau gearbeitet.“

Dann zieht es Anja Huwe nach New York, sie beginnt zu malen und wird mit ihren riesigen, farbenfrohen Bildern sehr erfolgreich: „Die Malerei kommt aus mir heraus, das ist etwas Meditatives für mich. Ich bin Synästhetikerin und habe eine tiefe Verbindung zu Farben und Formen, zu Wiederholungen und Loops. Ich liebe Punkte, fraktale Myriaden und Strukturen – es muss etwas Rätselhaftes bleiben, wie auch in der Musik. Seit einiger Zeit lerne ich Farsi, arbeite die Schriftzeichen in meine aktuellen Bilder ein.“

2022 will ihre Freundin Mona Mur sie davon überzeugen, der Musik doch noch eine Chance zu geben. Huwe ist zunächst skeptisch, doch Mur lässt nicht locker: 2024 erscheinen beim New Yorker Label Sacred Bones Huwes erstes Soloalbum „Codes“ und eine Zusammenstellung der frühen Singles von Xmal Deutschland. Das große Interesse an beiden Veröffentlichungen belegte, dass die Geschichte von Xmal Deutschland noch lange nicht auserzählt ist.

Im Februar 2025 trat Anja Huwe – mit Mona Mur am Keyboard – beim Grauzone-Festival in Den Haag zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder live auf. Ein Triumph: „Ich kannte niemand, hatte überhaupt keine Erwartungen. Viele junge Leute waren da, es war sehr berührend für mich, als mir junge Frauen sagten, dass ich ihr Vorbild sei.“ Huwe performt Solo-Stücke und Xmal Deutschland-Songs, auf die das Publikum begeistert reagiert. „Das hat mich wirklich überrascht. Ich bin ja überhaupt kein rückwärts gewandter Mensch, schaue lieber nach vorn als zurück.“ Auch mit dem Namen Xmal Deutschland geht sie heute eher zurückhaltend um: „In der Punkzeit gaben sich ja viele Bands Namen wie Deutsch-Amerikanische Freundschaft. Wir bezogen uns auf das Buch ‚Xmal Deutschland‘ des Journalisten Rudolf Walter Leonhardt – das kannte kein Mensch. Heute finde ich den Namen eher problematisch. Deutschland ist nach wie vor ein rotes Tuch für mich.“

Xmal Deutschland (Photo: Mick Mercer)

Spätestens ab dem 09.05. wird der Bandname Xmal Deutschland wieder sehr präsent sein: Bei Beggars erscheint das luxuriöse Box-Set „Gift. The 4AD Years“ mit den kompletten Alben „Fetisch“ und „Tocsin“, ergänzt durch die Singles „Succubus Incubus II“ und „Qual“, remastered in den Londoner Abbey Road Studios und abgerundet durch ein aufwendig gestaltetes Foto-Booklet. „Ich habe erst nach dem Remastering gemerkt, wie toll und besonders die Xmal-Deutschland-Songs sind“, gibt Huwe bescheiden zu Protokoll. Auf Tournee will sie aber nicht gehen: „Performen kann ich! Aber ich arbeite selektiv und will keinen Tourstress. Weißt du, ich muss das nicht machen. Singen ist nicht mein einziges Talent, worüber ich sehr froh bin. Ich war mit meinem Pippi-esken Wesen immer sehr glücklich (*lacht).“
Bei einigen Promoauftritten wird übrigens Fiona Sangster am Keyboard dabei sein. Nicht verpassen!

Xmal Deutschland, „Gift. The 4AD Years“
Releaseparty am 9.5. in Hamburg / Galerie Feinkunst Krüger

 

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