Eurovision Song Contest 2024

Die TikTokisierung der Popmusik

Die TikTokisierung der Popmusik (Collage: Ariana Zustra) (Quellen: www.eurovision.de/ / YouTube)

Alle reden über Politik – aber bei der größten Pop-Veranstaltung der Welt einen Blick auf die Musik zu werfen, kann nicht schaden. Denn das Songwriting der Beiträge des Eurovision Song Contest 2024 könnte ein Schlüssel für die derzeitige Debattenkultur sein – und hat auch etwas mit, natürlich, Taylor Swift zu tun.

Von allen Ereignissen des Eurovision Song Contests 2024 gab es nicht wenige, die einen ratlos zurücklassen. Dieser Text möchte sich einem Aspekt widmen, der bei diesem Rummelplatz generell, vor allem aber dieses Jahr zu kurz kommt: Musik. Immerhin begann der Grand Prix Eurovision de la Chanson 1956 als Darbietung für Komponist:innen und Textdichter:innen.

3 in 1: Die neuen Schnipsel-Songs

An den diesjährigen Liedern lässt sich ein Phänomen erkennen, das sich beschreiben ließe als: die TikTokisierung von Popmusik. Während der Wettbewerb immer schon eine schrille Nummernrevue war, bei der etwa Heavy-Metal-Maskerade, Folklore-Firlefanz oder Dorfdisko-Gestampfe sich völlig unvermittelt abwechselten, herrscht Disparität heute nicht mehr nur zwischen den Beiträgen, sondern sogar innerhalb der Stücke selbst. Ein Beispiel ist der Schweizer Gewinnertitel “The Code”: Nemo zauberflötet und trällert und rappt sich durch den 3-Minuten-Song, aus dem man gut drei verschiedene Lieder hätte bauen können. Wenn schon verschiedenste Köche am Werk sind, könnte man den Brei ja zumindest mal herumrühren? Das Aufploppen von Pop-Oper, Rap, Drum ‘n’ Bass, EDM verdreht einem ebenso den Kopf wie die kreisende und kippende Scheibe, auf der Nemo bei der Performance so waghalsig balanciert, dass man am Ende nicht nur staunt, dass dieser Mensch es stimmlich so bravourös durch diesen konfusen Fetzen Musik geschafft hat, sondern auch, dass Nemo sich dabei nicht Arm, Schlüsselbein oder gleich ganz das Genick gebrochen hat.

Nach dem Budenzauber bleibt ein ähnliches Gefühl, das auch das Scrollen durch Social Media hinterlässt: viele verschiedene Eindrücke, die in kürzester Zeit auf einen einprasseln, oft wenig miteinander zu tun haben – und plötzlich ist schon wieder eine Viertelstunde rum und man kriegt gar nicht mehr zusammen, was man da gerade geschaut hat. Es ist keine neue Erkenntnis, dass Smartphone-Konsum unser aller Fähigkeit zur Aufmerksamkeit zerdeppert hat. Aber neu ist vielleicht, inwiefern dies die Kunstform des Songwritings beeinflusst haben könnte.

13 Reels statt 3 Minuten Musik

Das Hören von “The Code” ist vergleichbar mit dem Konsum von Clips auf TikTok, Instagram oder YouTube: Alle 10, 15 Sekunden springt einem etwas Neues entgegen, der Puls bleibt oben, pling, plopp, flacker, alles so schön bunt hier! Warum drei Minuten lang nur einem Song seine Aufmerksamkeit schenken? In der Zeit bekommt man doch mindestens 4 bis 13 Reels unter!

Diese Art von Komposition ist der Gipfel einer jahrelangen Entwicklung, in der die Kurzlebigkeit von Social Media und die Algorithmen der Streamingdienste wie Spotify die Hörgewohnheiten verändert haben – und eben auch das Komponieren von Liedern. Tracks wurden mit den Jahren immer kürzer, Intros gestrichen, der Refrain schon in den ersten paar Sekunden verballert oder zumindest angeteasert. Kein Wunder, dass Stücke wie “The Code” irgendwann die logische Konsequenz dieses Trends sind.

Auch Publikumsliebling “Rim Tim Tagi Dim”, der kroatische Beitrag von Baby Lasagna, ist musikalisch ein abenteuerlicher Ritt: Die Heavy-Metal-Elemente brachten ihm Rammstein-Vergleich ein, im Mittelteil gibt’s plötzlich eine Techno-Tanzeinlage, die wiederum in den Sozialen Medien viral geht, weil sie so perfekt teilbar ist. Marko Purišić, alleiniger Singer-Songwriter und Produzent des Stücks, erklärte in Interviews, dass der Song nicht allzu ernst gemeint ist. Das erklärt einiges!

Das wohl gruseligste Spektakel, das je diese Familienunterhaltungssendung gecrasht hat, brachte Irland auf die Bühne. “Doomsday Blue” ist in vielerlei Hinsicht eine Wucht – und ein weiteres Beispiel für die TikTokisierung von Popmusik: Huch, hat da jemand geskippt a.k.a. hochgewischt, oder ist das noch derselbe Song? Das selbsternannte Hexenwesen Bambie Thug grölt im Irgendwas-mit-Metal-Part derart einschüchternd Flüche in den Äther, dass selbst dem hartgesottensten Satanisten der Kelch mit Opferblut aus der Hand rutschen dürfte, nur um dann mit der Zeile “I guess you’d rather have a star than the moon” eine fast flockige Pop-Seite anzuknipsen, so als dürfte neben Mr. Hyde auch kurz Dr. Jekyll zu Wort kommen.

Konfusion statt Eklektizismus

Vers? Pre-Chorus? Post-Chorus? Hat irgendwer eine Bridge vernommen? Diskutabel, wie sinnvoll die Analyse der diesjährigen Einreichungen nicht nur aus der Schweiz, Kroatien oder Irland anhand klassischer Begriffe für Form und Aufbau eines Liedes ist. Bei “Doomsday Blue” jedenfalls stehen die beiden Teile nebeneinander und lassen weder vonseiten der Komposition noch vom Arrangement aufeinander schließen.

In einigen Kritiken zum Eurovision Song Contest war von Eklektizismus der Musik die Rede, aber es ist fraglich, ob das eine treffende Beschreibung der diesjährigen Titel ist. Es ist hohe Kunst, verschiedene Stile, Genres, Teile miteinander in Dialog zu bringen. Klar, man könnte als Paradebeispiele für Eklektizismus jetzt die Beatles oder David Bowie bemühen, you name it, oder zeitgenössische Künstlerinnen wie etwa die brillanten Emily Wells oder My Brightest Diamond. Bei manchen der ESC-Nummern entstand jedoch der Eindruck, dass Bühnenbild, Inszenierung, Tanz und Personality das auszugleichen hatten, was das Songwriting und die Musikproduktion vermissen ließen: Kohärenz.

Das ist vermutlich auch der Grund, warum einem das Okkultismus-Spektakel rund um “Doomsday Blue” mit Pentagramm, Kreis aus Kerzen und Dämonen-Ballett noch sehr genau vor Augen sein müsste – die Melodie einem aber vermutlich entfallen ist. An dieser Stelle sei die als “(Intimate)” gekennzeichnete Piano-Version empfohlen, die man auf Spotify finden kann – da erkennt man auf einmal den Song hinter dem ganzen Theater, und vor allem die bemerkenswerten Vocals von Bambie Thug. Welch angenehme Überraschung.

Extreme in der Welt = Extreme in der Musik

Und was gab es vom Rest der Veranstaltung sonst noch so auf die Ohren? Es wurschtelte sich hauptsächlich zusammen aus Gothic-Pathos und Eurodance in etwa der kompositorischen Komplexität von I’m blue Da ba dee da ba di da ba dee da ba di. Da muss man die albernen Finnen glatt loben, dass sie mit ihrem Nackedei-Slapstick nicht mal einen Hehl daraus gemacht haben, sich offenbar nicht für Musik zu interessieren. Erkennbar ist, dass es neben den Schnipsel-Songs eine Gegenbewegung gab: die klassische Ballade. So schmachtete sich der Franzose Slimane durch den modernen Chanson “Mon Amour” und wurde immerhin Vierter. Der Singer-Songwriter Dons vertrat mit der getragenen Soul-Ballade “Hollow” Lettland – und das Lager für eher konventionelles Liedgut.

Die Extreme der Gegenwart machen Musikproduktion extrem. Sie spiegeln sich in der Art, wie sie geschrieben wird. Bestes Beispiel ist Taylor Swift, die Elon Musk unter den Popstars. Sie veröffentlichte kürzlich ihr elftes Studioalbum beziehungsweise Doppelalbum “The Tortured Poets Department: The Anthology” mit der stolzen Anzahl von 31 Titeln, die wiederum klingen wie ein einziger, zweistündiger, vor sich hin plätschernder Song. Wer nicht verpassen möchte, wann ein Track endet und wann der nächste beginnt, sollte es nicht beim Kochen im Hintergrund laufen lassen.
Aber sei’s drum, sie ist Taylor Swift, sie verwandelt alles zu Gold, sie verkauft ja schon lange nicht nur Musik, sondern sich und ihr Leben und das Leben ihrer Freunde und Feinde und Ex-Freunde gleich mit. Dass sie mit “The Tortured Poets Department” trotzdem bei TikTok punktet, ist eine andere Geschichte.

 

Sieh dir diesen Beitrag auf Instagram an

 

Ein Beitrag geteilt von Taylor Swift (@taylorswift)

Natürlich bietet ein Blick auf die musikalische Qualität der ESC-Beiträge nur einen klitzekleinen Ausschnitt der aktuellen Popwelt, aber immerhin handelt es sich bei diesem Hexenkessel um das größte Musik-Event der Welt, von Island bis Israel, von Großbritannien bis (eigentlich) Russland. Vielleicht hat sich Storytelling verändert oder das Vermögen, der Wunsch oder der Bedarf, einen roten Faden zu führen. Und natürlich ist davon auszugehen, dass alle Entscheidungen bezüglich des Songwritings und der Musikproduktion intentional waren. Etwa, um den Ausbruch aus Schubladen oder die Komplexität unserer Zeit zu demonstrieren. Lieber viele kleine Songs, statt einem großen! Lieber viele kleine Identitäten, statt einer großen!

Aber wenn man die hier angesprochenen Beiträge des Eurovision Song Contests 2024 als Spiegel der Gegenwart nimmt, ergibt sich folgendes Bild: Alle rufen laut durcheinander. Und keiner hört dem anderen zu. Vielleicht sind Tracks wie “The Code” oder “Doomsday Blue” ja gerade deswegen am Puls der Zeit.

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!