Thomas Venker

Wieviele Tage leben wir noch?

Die Griechen haben abgestimmt. Sie haben klar für das „Nein“ gestimmt. Ein Nein gegen die Arroganz der Troika und die europäische Leitpolitik.

Was sind nun die Konsequenzen? Ist der EU-Austritt damit nicht mehr vermeidbar? Oder wird doch wie in einem Pokerspiel nachgelegt und somit nachgebessert?
Was sagt uns überhaupt noch etwas? Wer regelmäßig die Finanz- und Wirtschaftsteile der Tageszeitungen verfolgt, der dürfte sich in den letzten Jahren an einen Journalismus gewöhnt haben, dem es an aufklärendem Charakter fehlt, viel eher bekommt man die ganze breite Palette an Informationen, Interpretationen und Ableitungen geboten. Der eine Experte erkennt dies, der andere das. Sicherheiten sind Vergangenheit.

Also nochmals: Was bedeutet vor diesem Hintergrund denn nun die Entscheidung der Griechen?
Auch ich weiß es natürlich nicht.

In der Zuspitzung der Diskussionen über die Abstimmung konnte man nochmals intensivst erleben, an was Europa wirklich krankt. Es fehlt an einer gemeinsamen Idee dessen, was dieser Verbund eigentlich sein will. Welche Werte und Normen, welches gemeinsame Kulturverständnis sollen uns denn einen? Deutlicher als in den letzten Jahren kann man den Europäern doch nicht zu verstehen geben, dass es sowieso nur um Wirtschaftspolitik und Setzungsmacht geht.
Das ist eine fatale Sicht der Dinge.

Als in Deutschland als Deutscher Geborener hatte ich das große Glück, eine postmaterialistische Jugend erleben zu dürfen. Geld war – auch bei individuell aufkommenden Problemen – gesamtgesellschaftlich kein aufwühlendes Thema. Selbst das Leben an der Universität, heute ein kurzes Stakkato der Seminarscheine, war noch sorglos und konnte dementsprechend neugierig verfolgt werden.
Aber warum? Nun, als in Deutschland als Deutscher Geborener hatte ich das noch viel größere Glück, dass die anderen Nationen dieser Welt beschlossen hatten, den Deutschen eine weitere Chance zu geben Eine extrem großzügige Geste angesichts der schrecklichen Verbrechen des Nationalsozialismus.
Deutschland hat nach 1945 viel Gnade von der Welt erfahren. Nur so konnte das Land zu diesem Wonneproppen in Europa und der Welt werden, der es heute ist. Warum es zu so einem vergesslichen, egoistischen und unsozialen Land geworden ist?

Wenn ich über solche Fragestellungen nachdenke, stelle ich mir oft vor, wie es wäre, wenn jeder Mensch zu Hause eine Uhr stehen hätte auf der seine verbleibenden Lebenszeit angezeigt würde.
Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 80 Jahren würden da übrigens für einen heute 60jährigen 7300 Tage aufblinken, die er noch zu leben hat….

Würden wir dann alle anders handeln?
Wohl nicht, der Mensch ist zu gut im ignorieren solch existenzialistischer Rahmenbedingungen. Er denkt und handelt mit verkürztem und eingeengtem Blick – und mit Macht- und Besitzbegierden.

Wenn dem nicht so wäre, würden die Sicherheitspolitischen – wenn schon nicht humanitären – Fragen endlich im Vordergrund der Diskussionen stehen und nicht immer nur das Geld.
Europa muss endlich wieder partnerschaftlich gedacht werden, Solidarität statt Oben-Unten-Denke. Es kann doch nicht angehen, dass Europa schon an der Innenpolitik scheitert, wo doch die Außenpolitik so viele (gemeinsame) Aufgaben parat hält.

Insofern gilt mein größter Respekt Yanis Varoufakis, der uns den Glauben zurückgibt, dass ein Politiker eben nicht per se Machterhaltend denken muss, sondern sich auch im Interesse der Sache einbringen kann.

Ich war nur einmal bislang in Griechenland, im April 2002, eingeladen von dem extrem netten Veranstalterteam des Bios 02 Festivals. Das Festival war leider kommerziell gesehen ein totaler Reinfall (nachdem sie im Vorjahr ein erfolgreiches Debüt abgehalten hatten) und die Veranstalter standen am Ende vor einem Scherbenhaufen. Doch einige der Künstler, unter anderem der deutsche Produzent Thomas Brinkmann, der damals im Wohnwagen durch Europa getourt war (um Europa besser kennenzulernen) und mir bei einem gemeinsamen Abendessen dankenswerterweise vor Ort sehr viel über die Geschichte Griechenlands erzählte, verzichteten daraufhin auf (Teile) ihre Gagen. Berichtet haben mir das die Veranstalter, die Künstler kamen nicht auf die Idee das an die große Glocke zu hängen, warum auch. Sie hätten alle das Geld mitnehmen können, die meisten konnten es auch gut gebrauchen, aber sie haben sich stattdessen entschieden dieses Biotop nicht zu zerstören.

Irgendwie fühlt es sich in diesen Tagen oft nach einem guten Moment für Slime an: „Deutschland muss sterben!“ – damit Europa leben kann.

Und ganz aktuell kam noch dieser Song rein:

 

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