Kolumne

WE BETTER TALK THIS OVER #5 „CRASH“ VON CHARLI XCX (2022)

„WE BETTER TALK THIS OVER” IST DIE KAPUT-KOLUMNE VON LENNART BRAUWERS, IN DER UNTERBEWERTETE, OFT ÜBERSEHENE (ODER GAR VERHASSTE) ALBEN GEFEIERTER BERÜHMTHEITEN BESPROCHEN UND NEU EINGEORDNET WERDEN. SCHLIESSLICH KANN SICH DER BLICK AUF MUSIK VERÄNDERN, JE ÄLTER SIE WIRD. ALSO: EXTREM VIEL GROSSARTIGES FINDET ZU UNRECHT KAUM BEACHTUNG – DARÜBER SOLLTEN WIR NOCHMAL REDEN.

Photo: Marisa Eul Bernal

„You used to know me, now you don’t“

Und dann kam der Moment, da wussten alle Bescheid: Charli XCX, die Zukunft der Popmusik. Hab sie im Blick, Charli zeigt uns den Weg – solche Aussagen wurden zum Konsens (sowie zum Klischee). „Charli XCX Is the Pop Star of the Future“, hieß 2019 ein umfassender Pitchfork-Artikel, um nur das plumpste Beispiel zu nennen. Man hielt sich an ihr fest; denn wenn die Zukunft tatsächlich so klingen sollte, hab ich direkt weniger Angst davor. Dementsprechend entstand eine gewisse Erwartung an das, was Charli XCX sein soll.

Das war keineswegs sofort so. Erst mit ihrer „Vroom Vroom“-EP wurde Charli XCX, die als frecher Teenie-Popstar zuvor durch Hits wie „I Love It“ (gemeinsam mit Icona Pop; großartiger Song) oder „Break The Rules“ (auf dem pubertären Album „SUCKER“; grauenvoller Song) bekannt war, zur Promi-Vertreterin des vorwärtsgewandten Hyperpop. Schon zuvor war ihre Musik oft anstrengend, doch nun war sie das im bestmöglichen Sinne. Ein Wendepunkt, der schließlich dazu führte, dass Charli XCX ihre Zusammenarbeit mit dem – Achtung – futuristischen Label PC Music und vor allem deren Top-Produzenten A. G. Cook vertiefte. Es entstanden wilde Mixtapes, die sie außerhalb ihres Majorlabel-Vertrags veröffentlichte, eins davon war das überragende „Pop 2“. Wie der Titel schon andeutet: Die Idee eines weiterentwickelten Pop, also einer Fortführung dieser Grundidee, wurde zum Kern von Charli XCX.

Kleiner Zeitsprung: Ein paar Alben später, im Jahr 2022, erschien dann „Crash“ – eine Platte, die man weniger als ‚Pop 2‘ und vielmehr als ‚Pop 101‘ bezeichnen könnte. Bei „Crash“ handelt es sich nicht um ein Durchbrechen von Grenzen, sondern um einen, ähm, Crashkurs für das, was wir allgemein als Mainstream-Pop verstehen. Charli XCX scheint uns zu sagen, dass sie nicht ein Popstar der Zukunft, sondern der Gegenwart sein will. Ist die Popmusik, wie sie momentan und schon seit Jahrzehnten aussieht, womöglich ganz cool? Sind Britney Spears und Rihanna nicht viel toller als Björk und Kate Bush?

Obwohl Charli XCX sich darauf an konventioneller Musik versucht, muss man „Crash“ als gewagtes Experiment verstehen. „I already know I’m letting go of something sacred/Drive us off the road, I take a good thing and I break it“, singt sie auf dem Album und scheint ihren radikalen Ästhetikwechsel zu kommentieren. (Mutig genug ist sie ja, in ihrem Durchbruchshit „I Love It“ hieß es bereits: „I crashed my car into the bridge, I don’t care“.) Denn jeder Move, den Charli XCX auf „Crash“ macht – sich an die Regeln der Industrie anpassen, ein traditionelles Popgirl und damit kommerzorientiert sein – spricht gegen alles, wofür Charli XCX zu diesem Zeitpunkt stand. “I’m interested in the concept of selling out“, schrieb sie schon 2020 auf Twitter und traute sich mit „Crash“, das Ganze mal auszuprobieren. Mit sorgfältig gebastelten Pophits und Musikvideos, die voll mit hypersexuellen Choreografien sind; und sich geradezu wie Parodien anfühlen. Ein Hauch von Ironie schwing von Anfang an mit.

„End it all so legendary“, heißt es im Opener/Titeltrack. Denn „Crash“ war eben auch eine Art Schlusspunkt: Es war das letzte Album, das Charli XCX als Teil ihres Majorlabel-Deals mit Atlantic Records veröffentlichte – ein Deal, den sie schon mit 16 Jahren unterschrieb. Zum Abschluss dieses Vertrags erschuf Charli XCX also eine Art Konzeptalbum, auf dem sie ihre Popstar-Fantasien schamlos auslebt und ihr Majorlabel dadurch zufriedenstellt. „I would say the commentary is actually based more around my history within the music industry and the fact that I’ve been signed to a major label since I was 16 years old. Throughout that time, I’ve never really utilized the major label in the way that I am supposed to. I’ve kind of always gone off grid, made my own path“, erzählte sie im Interview mit NPR.

Die relative Konventionalität von „Crash“ war etwas, das im Gesamtkontext ihrer Diskographie durchaus erfrischend daherkam. Schließlich kann man nur eine Zeit lang innovativ sein, bevor solche Experimente normal wirken. So geschah es, dass der Hyperpop-Sound, den Charli XCX definierte und popularisierte, irgendwann zur Norm wurde – also repräsentiert „Crash“ den Moment in ihrer Karriere, an dem es für Charli plötzlich ungewöhnlicher war, nicht mehr ungewöhnlich zu sein. Man fühlt sich an den Film „The Straight Story“ erinnert, der im Vergleich zu anderen Werken von David Lynch eher geradlinig und genau deshalb so revolutionär für den sonst so abstrakten Filmemacher war. (RIP. Für immer der Allerbeste.)

Photo: Marisa Eul Bernal

„Gonna take you with me“, singt Charli XCX zu Beginn des Albums. Das Problem: Nicht jeder hatte Bock darauf, mitgenommen zu werden. Viele mögen vergessen haben, wie negativ die Reaktionen auf „Crash“ teilweise waren, doch einige Kritiken waren echt vernichtend. So schrieb Paste Magazine, dass die Platte „her first misstep“ sei und bewertete die Konventionalität von „Crash“ als etwas durchweg Enttäuschendes. Auch James Rettig von Stereogum bezeichnete das Album als unbeeindruckenden Reinfall, der sich stellenweise nach Karaoke anfühlt (was ist so schlimm daran?). Und Anthony Fantano aka The Needle Drop, der bekannteste aller YouTube-Musikkritiker, definierte „Crash“ als charakterlos und gab dem Album einen vernichtenden Score: 5/10. Obwohl er eigentlich großer Fan von Charli XCX ist und sowohl „Charli“ (2019) als auch „BRAT“ (2022) zu seinen Alben des jeweiligen Jahres ernannte.

Besonders auffällig war die Albumkritik von The A.V. Club, in der „Crash“ deshalb als „disappointment“ bezeichnet wird, weil die Songs darauf zu sehr nach typischen Char-Hits klingen würden. „Rather than testing the trappings of pop, she’s stuck in them“, heißt es. Aber was ist so schlimm daran, nach Mainstream klingenden Pop zu machen? Wo ist das Problem? Solche Kritikpunkte sind – um es auf den Punkt zu bringen – rockistisch und symbolisieren damit das Gegenteil des deutlich sympathischeren Poptimismus, in dessen journalistischem Ideologiekonstrukt sich von der Idee verabschiedet wird, „dass Popstars lediglich ‚guilty pleasures‘ kreieren, während nur die Rockstars für ‚classic albums‘ verantwortlich sind“, wie ich in meiner Bachelorarbeit zu dem Thema schrieb. Beim Poptimismus geht es darum, die Ansicht zu verneinen, „dass Mainstream-Musik […] im Vergleich zu subkulturellen Musikformen weniger wert oder grundsätzlich schlechter sei“, und „beinhaltet in erster Linie den Willen, den Mainstream-Pop mit einer ähnlichen Intensität zu betrachten, wie Vertreter*innen des Rockismus es mit ihrer heißgeliebten Rockmusik tun“. Charli XCX für ihren Mainstream-Pop zu kritisieren, ist also eine veraltete Denkweise. Erfolg haben ist nicht unauthentisch, sonder cool. Pophits sind ja immer auch aus einem Grund solche. Und die besten Songs aller Zeiten sind kein Nischenkram, sondern „Toxic“ von Britney Spears! „I Gotta Feeling“ von The Black Eyed Peas! „Dragostea Tin Dei“ von O-Zone! „Believe“ von Cher! Auf „BRAT“ hat Charli XCX es selbst am besten gesagt: „When I go to the club, I wanna hear those club classics“.

Weil Charli XCX ein so intensives Verhältnis zu reiner Popmusik hat, wirkt „Crash“ so verdammt ehrlich. Sie sieht Pop nicht als Ober- oder Sammelbegriff, sondern als konkretes Genre, und spricht über das „…Baby One More Time“-Video von Britney Spears so, wie Rockmänner über den Auftritt der Beatles bei der Ed Sullivan Show 1964 sprechen: als augenöffnenden Moment. „I just wanna go back, sing ‚Hit me, baby, one more time‘“, sang sie schon 2019 in ihrem Song „1999“; ein Wunsch der auf „Crash“ umgesetzt wurde. Darum ist das Album – eine pures Pop-Statement durch und durch – eine so gelungene Repräsentation ihrer Identität als Künstlerin. Es ist ein Liebesbrief an das, wofür Madonna steht. Wofür Lady Gaga steht. Was all ihre Heldinnen so unwiderstehlich macht.

Sich am Mainstream-Pop bedienen und daraus etwas Aneckendes zu machen, das war schon immer die größte Stärke von Charli XCX – und auf „Crash“ liegt der Fokus eben auf dem ersten Teil dieser Formel. Ständig hat man das Gefühl, man hätte die Songs schonmal gehört, und zwar im positivsten Sinne. „Yuck“ klingt nach Dua Lipa, während das Intro von „Good Ones“ an „Sweet Dreams“ von Eurythmics erinnert; Achtziger-Vibes tauchen auf „Crash“ ständig auf, somit ist die Platte auch eine Hommage an das Jahrzehnt, als Pop so richtig zu Pop wurde. Dass Charli XCX gleichzeitig ein so fantastisches Gespür für eingängige Originalmelodien hat, sollte nicht unterschätzt werden. Kritiker scheinen oft zu vergessen, dass es keineswegs leicht ist, einen runden Popsong zu schreiben. Melodisch, aber auch inhaltlich: Natürlich könnte man Themen wie Verknalltsein oder Herzschmerz als langweilig bezeichnen. Andere würden aber sagen, sie haben sich bewährt. Zu Recht.

Manche Dinge sollten nicht totgedacht werden, singt Charli XCX im Closer „Twice“. Also ist „Crash“ ein simples, ausgezeichnetes Popalbum geworden. Kein Hyperpop, sondern POP. In dicken, fetten, leuchtenden Großbuchstaben.

Photo: Marisa Eul Bernal

 

 

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!