Japan - Karaoke-Platten-Shopping

Das nebelige Kushiro ist eine Stadt der Liebe

Kushiro, gelegen im südöstlichen Winkel von Hokkaido, ist bekannt dafür, der Sehnsuchtsort vieler Japaner:innen zu sein, was vor allem daran liegt, dass sie nie dort waren und aller Wahrscheinlichkeit nach auch nie hinkommen werden. Ihr Bild von Kushiro wird gespeist von den vielen sehnsuchtsvollen Songs, die es über die Stadt gibt. Im Winter soll es zudem auch die kälteste Stadt Japans sein, vielleicht ist das aber auch ein kleines bisschen übertrieben, denn kaum jemand wird wohl die Reise antreten, um es zu überprüfen. Wobei die Raucher:innen-Kabine draußen vor dem Hauptbahnhof die Behauptung zumindest stützt, denn es muss schon sehr kalt sein, wenn sich jemand freiwillig in diesen kleinen Glaskasten hinein begibt.

Aktuell spiegle aber nur ich mich in den dreckigen Scheiben der Raucherkabine, kaleidoskopisch gebrochen von den Reflektionen des ultragrellen Sonnenlichts, das selbst noch am späten Nachmittag auf die Stadt und mich hinab brennt.

Das Kushiro hinter der Raucherkabine ist so wunderbar verschlafen, wie ich es mir vorgestellt habe. Aber auch ziemlich verfallen. Mit jeden Meter, den ich die Hauptstraße vom Bahnhof weg in Richtung des auf der anderen Seite des Kushiro River gelegenen Stadtteils Hartutori entlang spaziere, verliert die Stadt noch mehr an Farbe, ergibt sich scheinbar willenlos ihrem postindustriellen Zustand. Was nicht heißt, dass nicht immer wieder kleine Schilder in einen Laden locken, zum Beispiel einen für schmuckvolles Verpackungsmaterial, einen Schlüsseldienst – und sie da, ein im Keller gelegenes Cafe.

Ich sondiere zunächst vom Vorraum aus die Lage: Stimmen sind zu hören, unaufgeregt, aber mit markanten Timbre, verraucht-kratzig, eher alt als jung, vor allem männliche, aber auch eine weibliche, diese lustig-melodiös und ein bisschen out of order.

Genug gelauscht. Ich öffne die (natürlich knirschende) Tür, schlagartig ist es absolut still im gar nicht mal so kleinen Raum, der irgendwann in den 60er Jahren mal seine Hey-Days hatte und nun mit viel Liebe runter verwaltet wird. Die Charaktere im Raum, die mich ohne Scham direkt anschauen, könnte man sich nicht besser selbst ausdenken: ein alter Mann, dem (im Krieg?) das halbe Gesicht weggeschossen wurde, zwei kauzige Männer, denen man aber sofort anmerkt, dass sie viel zu viel Neugierde mit sich rum schleppen und mich in nicht allzu großer zeitlicher Ferne garantiert in ein Gespräch hinein ziehen werden, ein junger Typ, der so tut, als ob er nichts mit bekommt und im (nicht existenten) Spotlight: die Wirtin, die raucht und guckt und raucht und mit sich zu hadern scheint, ob sie wirklich das Gespräch mit diesem Fremden suchen soll.

Ich hingegen vermeide erstmals jeglichen Blickkontakt. Stattdessen mustere ich ausgiebig die am Ein-/Ausgang positionierte Kasse, deren falsches Gold mich magnetisch anzieht. Langsam lasse ich meine Augen gen Bar wandern, wo vor den Männern seltsame Plastikbehälter stehen, in denen sich nicht minder seltsame Sachen befinden, deren Geleeartige Textur nicht gerade reizvoll wirkt, die aber trotzdem wohl zum Essen gedacht sind. Die Männer schieben, dezent nervös, die Behälter von links nach rechts. Das geht so bestimmt eine Minute lang. Dann hebt der eine Mann einen Hauch zu schnell seinen Kopf, blickt kurz in sich hinein – und gibt schließlich dem Mann mit dem weggeschossenen Gesicht seinen Behälter. Dieser schaut halb überrascht, denkt aber nicht lange nach, sondern nimmt das Geschenk wortlos an.

Es ist nicht von der Hand zu weisen: Alle sind nervös. Was kann der Fremde nur wollen? Und so lasse ich Druck ab, in dem ich mit Hilfe meiner Übersetzungs-App einen schwarzen Kaffee und „so einen Sandwich mit Eiern und Käse, wie ihn der junge Mann da hinten isst“ bestelle.
Der Damm ist gebrochen. Zumindest bei der Wirtin, die nun weiß, dass das mit uns funktionieren wird, ohne dass sie auf englisch mit mir rum stottern muss. Ein pflegeleichter App-Touristenkunde – Umsatz.

Der Kaffee ist stark und wirkt mit dem ersten Tropfen, ein bisschen so wie in den frühen 90er Jahren in den USA bei Dunkin Donut. Meine Freude über den Kick, den der erste Schluck auslöst, wird von allen im Raum freudig registriert. A coffee lover, die sind überall gerne gesehen. Ob ich auch Rauchen möchte?, werde ich mit angereichter Zigarette gefragt. Ich lehne freundlich ab, nicht ohne per App affirmativ zu ergänzen, dass ich Raucher:innen sehr schätze, was sicherlich irgendwie komisch klingt, aber die Menge frisst mir zu diesem noch immer frühen Zeitpunkt unserer Beziehung das zärtliche Signal aus der Hand.

Zeit für einen Perspektivenwechsel. An der Wand, die der Bar gegenüber liegt, hängen diverse Vogelbilder, die so absurd anmuten, dass ich den Fehler begehe etwas zu lange auf sie zu blicken. Für einen der Männer ein unverkenntliches Zeichen, dass es meinerseits ein großes Interesse an Vögeln gibt. Es folgen viele zu viele Informationen zur lokalen Flora und Faune und den Vögeln rund um Kushiro herum.

Das duftende Sandwich bietet endlich die Chance, das Gegenüber zu wechseln. Ich setze mich nun zu dem jungen Typen. Während ich Biss um Biss glücklicher werde, da es mir so gut schmeckt, wie ich mir das erhofft hatte, erzählt dieser, dass er aus einer Nachbarstadt von Kushiro käme und hier in der – Achtung, keine Ironie auf seiner Seite – Großstadt nach einem Ausbildungsplatz in der Lachseierzucht suche. Eigentlich sollte es hier doch auch so genug Fisch geben, denke ich mir, zeige ihm gegenüber aber nur großes Interesse und wünsche ihm später – bestimmt für ihn im Duktus seiner Eltern – viel Erfolg bei der Suche und eine erfolgreiche Zukunft.
Die Kommunikation mit der App verändert den Duktus seltsam, alles klingt so harmlos, ja leicht debil. Vielleicht bin ich aber auch nur überkritisch. Ob Vorzug oder Fluch, darüber wird noch an anderer Stelle zu diskutieren sei.

Der andere, bis dato einzig stille Mann kreist nun schon einige Minuten um mich herum. Der nächste halbspannende Hobby-Exkurs liegt wie eine düstere Wolke über dem Raum, jeden Moment bereit als Wortschauer über mich zu ergehen, wenn sich nicht schnell ein anderes Thema setzen lässt.
Ich suche also fiebrig – und entdecke in der hinteren Raumecke eine überdimensioniert große Anlage, die alles in einem zu sein scheint: Juke Box, Mischpult, Videocontroller. Genau das Signal, auf das der Mann sein ganzes Leben gewartet zu haben scheint. Er nähert sich meinem Gesicht freudig erregt und sprudelt auf japanisch los. So schnell, dass ich stotternd „chotto matte kudasei“ (was soviel wie, „einen Moment bitte“ bedeutet) wiederhole und meine App aufzurufen versuche. Zu diesem Zeitpunkt haben bereits alle im Raum versammelten Gäste das Kommunikationsprinzip verstanden, so dass er kurzerhand mein Handy an sich nimmt und in einem eloquenten Monolog erläutert, dass es sich hierbei um eine Laserdisc-Karaoke-Anlage handele, mit der man nicht nur seine Lieblingssongs performen kann, sondern auch noch wunderbar (kitschige – meine Lesart) Bilder dazu auf den Fernseher gezeigt bekomme.

Genial. Wo ich mich doch für die Kushiro-Songs interessiere.
Ich frage den Mann nach seinem Lieblingssong – und schon öffnet sich der magische Schrank unter der Anlage mit gefühlt 1000 Laserdiscs; zudem schleppt er ein meterdickes Telefonbuch an, eine Art Hitparaden-Chronik. Jetzt ist er so erregt, dass auch die App uns nicht mehr zusammenhält. Ich bitte um langsameres Tempo und mehr Basisinformationen, Künstler:innen-Namen, Cover…

Mit jeder Laserdics wird der Mann lebendiger, mittlerweile ist sein Gesicht so tiefrot, dass ich Angst bekomme, er könne gleich einen Herzinfarkt erleiden.

Kushiro sei keine schöne Stadt, fährt er aus ihm heraus, aber es ließe sich hier super leben. Im Hintergrund lacht die Wirtin und nickt zustimmend, muss sie ja auch, immerhin lebt sie seit bald 50 Jahren in diesem Keller und kocht jeden Tag leckeren Kaffee und trinkt fröhlich mit ihren Stammkund:innen die Nachmittags zur Nacht.

Jetzt lachen alle.

Die irgendwo zwischen Beta-Phase und Avantgarde-Kommunikation performende App gibt unserem Austausch eine angenehm verspuhlte Note. Man ist quasi unverletzlich. Ich frage alle nach ihren Lieblingssongs und bekomme noch mehr Notizen, mit denen ich in einem Plattenladen bestimmt eine gute Zeit haben werde, wenn ich sie denn später noch entziffern kann.

Nach einer weiteren halben Stunde stellt sich jedoch auf allen Seiten ein Gefühl der Müdigkeit ein. Die App-Bubblegum-Kommunikation hat ihre Halbwertszeit erreicht, ich zahle und verabschiede mich freundlich.

Der nächste Morgen beginnt mit der Suche nach einer Pharmacy, um Pflaster und Salbe für meine vom vielen Laufen lädierten Zehnen und Knie zu kaufen. Diese führt mich auf die andere Seite der Bahngleise. Die Stadt wirkt hier noch runter gekommener. Das, was einst ein florierendes Rotlicht-Viertel war, wird nun von Ratten belebt. Fast alle Gebäude sind offen und voller Abfälle. Die ein, zwei Lokale, die offensichtlich noch existieren, möchte man nicht wirklich aufsuchen müssen.

Praktischerweise befindet sich der einzige Plattenladen von Kushiro gleich um die Ecke der Pharmacy. Mein Plan: die am Vortag gesammelten eratischen Informationen über Musik mit Kushiro-Bezug in reale Platten überführen. Der Ladenbesitzer ist zwar zunächst skeptisch, ob er wirklich sein Telefonat für mich unterbrechen soll, aber die Augen eines Plattensammlers leuchten international und so legt er auf und wendet sich mir zu. Die Notizen erweisen sich als valide. Meine Begeisterung ist offensichtlich ansteckend, ohne groß darum zu bitten werden zu jeder Platte Hintergrundgeschichten mit mir geteilt. 
Die Sängerin der einen Single habe den Mann, um den es auf dieser geht, in der Unterführung um die Ecke getroffen, die ich benutzt haben müsste auf den Weg zu seinem Laden, erzählt er strahlend. Früher, als die Industrie in Kushiro hier noch boomte, sei das Rotlichtviertel bis weit über die Grenzen der Stadt legendär gewesen. Nun aber sei es quasi nicht mehr existent. Denn wo die Industrie stirbt, verödet auch das Nachtleben.

Ich verbringe bestimmt zwei Stunden im Laden, finde tatsächlich etliche Platten, um die mir im Cafe nahegelegt wurden, kaufe am Ende viel zu viele Platten, vor allem es erst der sechste Tage meiner Reise ist und ich nun alles mit mir rund um Hokkaido herum und nach Tokyo schleppen muss. Aber was will man machen….

Plattenladen: Hobundo Books
Adresse: 1-16 Shiroganecho, Kushiro, Hokkaido 085-0034

Ken Ichi Mikawa
„Kushiro No Yoru“
(1968)

________

SANJO, MASATO

„Memories of Otaru“

 

Kagawa Yuko / 香川裕子
„霧の釧路は恋の街“
„Das nebelige Kushiro ist eine Stadt der Liebe“ (frei übersetzt)

Karaoke Version

 

 

 

 

 


Seri Yoko / 芹 洋子

„愛の国から幸福へ“ / “Vom Land der Liebe zum Glück”
(frei übersetzt)

 

Sampler 1:
Musik aus der Gegend rund um Akita, wo die Mutter des Plattenladenbesitzers herkommt.

Sampler 2:
3-Fach-Vinyl mit Musik aus Hokkaido aus dem Jahr 1966

Bonus: 10-Inch
Yellow Magic Orchester 
“X Multiples”

 

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!