Summer Sonic 2023, Tokyo

Park Life w/ Blur, Wet Leg, Cornelius & Shygirl

Blur & Tokyo

 

Es gibt immer mehrere Arten Geschichten zu erzählen. Die am nächsten liegendste: chronologisch – was den Vorteil hat, dass man die Leser:innen sehr eng mitnimmt auf die eigene Erlebnisreise und sie so im besten Fall die Genese der Eindrücke en Detail miterleben können; mit dem Nebeneffekt, dass sich dramaturgische Wendungen einbauen lassen, die manifestieren wie unvorhersehbar (im schönsten Fall) das Leben in seinem Fluss doch sein kann.

Oder aber man resümiert von Anfang an im Kenntnisstand dessen, wie die Ereignisse ausgegangen sind – und erspart den Leser:innen so größere geschwätzige Exkurse, die am Ende sowieso ad acta gelegt werden und nur das eigene Ego streichelten.

Zwischen diesen Polen kann man als Autor:in natürlich viel rumspielen und sich in den Mix wagen, aber wir sind hier ja nicht im Journalismus-Seminar an der Uni Paderborn, sondern im real life – und deswegen beginnt dieser Rückblick auf das Summer Sonic 2023 in Tokyo mit „Park Life“, von – natürlich – Blur, die den Headliner-Slot am ersten Tag des diesjährigen Festivals inne hatten, Tag zwei wurde von Kendrick Lamar bespielt, aber das ist eine andere Geschichte.

 

 

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„Confidence is a preference for the habitual voyeur
Of what is known as
(Parklife)
And morning soup can be avoided
If you take a route straight through what is known as
(Parklife)…“

 

Das letzte Konzert, das ich von Blur erleben durfte war im Hyde Park, London, 2009 (dokumentiert auf dem Doppel-Live-Album „All the People (Live At Hyde Park 02/07/2009)“). Es war für Londoner Verhältnisse ein sehr heißer Tag, die Drinks waren schon damals ziemlich überteuert, das Publikum sehr, nun ja britisch, es wurde laut rumgegröhlt, und mit der eigenen Pisse befüllte Plastikflaschen wurden durchs Publikum auf die Nacken anderer Menschen geworfen, mit Folgen, deren Details nicht groß erwähnt werden müssen, die Fantasie dürfte reichen.

Ich bringe das natürlich auf, da in Tokyo die Zustände wunderbar anders waren. Man muss sich das Publikum in Japan generell als extrem aufmerksam vorstellen. Es ist geradezu totenstill während der Auftritte, es sei denn, die Künstler:innen aktivieren es, dann zeigt man sich gerne gewünscht energetisch, ansonsten aber hört und sieht man respektvoll zu – ebenso wie abseits der Auftritte die Besucher:innen jederzeit den eigenen Müll entsorgen und wirklich sehr aufmerksam sind, ob die eigene Präsenz andere negativ tangieren könnte, also absolut nicht so, wie man es von, sagen wir mal Rock Am Ring kennt.

Damals, beim Londoner Konzert, lag eine sentimentale Abschiedsstimmung in der Luft, es fühlte sich wie das Ende der eigenen Jugend mit Blur für viele an. Was es ja auch ein bisschen war, also wenn man die eigene Jugend schon extrem überdehnt in seine späten Dreißiger gezogen hatte.

An diesem Abend in Tokyo konnte man gut an die damaligen nostalgischen Gefühle anknüpfen – zumal wir ja, no offense dear readers, alle nicht jünger geworden sind seitdem –, jedoch in einem wunderbar nach vorne weisenden Sinne, was nicht unwesentlich am extrem gelungenen neuen Album „The Ballad of Darren“ liegt, dessen Songs Blur auf der Bühne gut mit eigenen, Larger-than-life-Katalog in Dialog zu bringen wussten. Die neuen Songs zeugen von einer Band, der es gelungen ist, sich die Neugierde zu erhalten, deren einzelne Bandcharaktere mit und an all ihren (guten wie schlechten) Erlebnissen und anderen künstlerischen Projekten (was vor allem Graham Coxon und Damian Albarn betrifft, der eine mit einem impulsiv-grenzenlosen Solowerk, der andere mit einem Erfolgsprojekt nach dem anderen: Gorillaz, The Good, the Bad & the Queen) und sonstigen Aktivitäten (Schlagzeuger Dave Rowntree ist sehr erfolgreich in der Lokalpolitik aktiv, Bassist Alex James widmet sich ambitioniert der Cheddar-Käseherstellung) gewachsen sind. Diese neuen Impulse prägen nicht nur die neuen Songs, sondern haben sich auch in Form einer krautig-experimentellen Frischzellenkur in die Klassiker eingeschlichen, was diesen sehr gut tut.
Überhaupt war es abseits der eigenen euphorischen Gefühlslage ein großes Vergnügen, zu sehen, hören und ja auch fühlen, wieviel Spaß die Band selbst am Auftritt hatte. Selbst Albarn, sonst gerne mal eine kratzige Katze, präsentierte sich geradezu als Schmuse-Kätzchen – wenn nicht alles täuschte, kamen ihm auch ein, zweimal die Tränen der Freude. Vielleicht war es aber nur mein Schweiß, der mich das so sehen ließ. Die 90 Minuten waren jedenfalls so kurzweilig, es hätten gerne auch mehr sein dürfen.

 

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Danach konnte man Zeuge werden, wie diszipliniert-aufgeräumt ein Stadion sich entspannt entleeren kann, wenn nicht alle egomanisch rausdrücken, sondern es fast schon genießen, das Konzert gemeinsam während des Wartens nachglühen zu lassen. Überhaupt gelingt den Japanern die Festivaldramaturgie viel besser. Da ist eben nicht sofort Schluss nach dem Headliner, sondern es warten vor dem Stadion die Shinjuku Ni-Chome Drag Queens, um die Brit-Pop-Ekstase in eine Dance-Pop-Party zu überführen, die auch gerne von allen angenommen wird.

 

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Mittlerweile war es zudem auch endlich dunkel geworden, was insofern von Bedeutung ist, als dass es in Japan im Sommer extrem schwül-heiß ist. Das sind dann gerne mal wie während des Summer Sonic Festivals 35 Grad und bis zu 90% Luftfeuchtigkeit. In anderen Worten: unerträgliche Zustände. 
Und so hätte dieser Beitrag auch gut mit der leicht (bis nicht mehr so leichten) cholerischen Suche nach dem Gästelisten-Counter beginnen können, die uns anderthalb Runden um Stadion und Messehallen (der zweiten Location des Festivals) einbrachte, eine über einstündige Tortur, an deren Ende das Kaput Japan Team nur noch keuchte. Es wär ein leichtes gewesen, erst mal nur zu mosern, denn ja, es gab durchaus Momente, wo ich mich selbst dafür hasste, dass ich – zumal mit einem erbarmungslosen Hangover von der Nacht zuvor im Womb Club bei Dj Nobu & Friends – mich morgens um 9 Uhr auf diesen Trip gemacht hatte (das Festivalgelände liegt ungefähr anderthalb Stunden vor Tokyo in der Präfektur Chiba), aber es wäre dem Tag im Ganzen eben nicht gerecht geworden.

 

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Die Umstände sorgten aber dafür, dass wir uns zunächst nur in den gekühlten Messehallen aufhielten. Erstes Highlight dort: Shygirl.
Blane Muise gelang es – lediglich von einem Dj unterstützt – bereits am frühen Mittag eine aufgeladene Dance-Party-Stimmung zu entzünden. Der Disco-Ball glitzernde nicht nur über ihr, sondern auch in den Herzen der Japaner:innen.

 

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Besonders beeindruckend war der Auftritt von Cornelius
, vom Intro bis zum Ende meisterhaft komponiert, die Videoprojektionen, Publikumskommunikation, Performance und Musik gingen eine perfekte Symbiose ein, das begann schon damit, wie angenehm-unaufdringlich sich Cornelius dafür bedankte, dass er auftreten konnte – in Japan galt er längere Zeit als Künstlerpersönlichkeit non grata aufgrund einer üblen Bullying-Geschichte.

 

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Der anschließende Auftritt von Wet Leg machte einfach nur grandios Spaß.
Die ursympathische Band hat sich auch nach zwei Jahren pausenlosen Touren offensichtlich nicht kaputt gespielt, sondern im Gegenteil: jedes Detail sitzte perfekt, wurde aber mit immenser — und glaubwürdiger – Freude performt. Wie später Blur lobten auch Wet Leg mehrmals das besonders aufmerksame Publikum, um es dann auf Befehl ausflippen zu lassen.
In mitten all dieser explodierende Freude zu stehen, konnte einen als Europäer schon leicht melancholisch stimmen, waren doch all die negativen Randbedingungen, die wir so immer erfahren müssen (laut redende Nebensteher – bewusst männlich formuliert –, sich nach vorne drängende Leute, viel überschwappendes Bier…) aufgelöst in eine so uns unbekannte harmonische Euphorie. Einmal erlebt, will man wirklich nur noch in Japan auf Festivals gehen.

 

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Domo Arrigato Gozaimasu, Summer Sonic. Und besonders großen Dank an Team Blur für die Liste und Blur selbst für einen unvergesslichen Auftritt.
Und an Masami & Aco vom Team Kaput Japan.

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