“Ich dachte, wir streiten uns jetzt” – Der große Talk mit Yok Quetschenpaua
Wer sich für linksradikale Musik und Geschichte interessiert, kommt an Yok Quetschenpaua schwer vorbei. Mit seinen Songs hat der Anfang der 1960er Jahre in Schleswig-Holstein geborene Sänger seit Mitte der 1980er Jahre die Entwicklung der autonomen Szene in Deutschland begleitet. Ich selbst habe Yoks Musik erst kennengelernt, als sie zu Beginn der sog. Nuller Jahre nicht mehr auf Kassetten, sondern im MP-3-Format zirkulierte. Die Songs waren oft kitschig und plakativ, aber blieben dafür (oder deswegen) auch fast immer hängen und haben – das kann man wohl ohne Übertreibung sagen – ein paar Generationen autonomer Kämpfe in Deutschland in der einen oder anderen Weise geprägt. Interview Martin Seeliger. Redigiert von Marcus Staiger.
Vor einigen Monaten hat Yok nun ein Buch über sein Leben herausgebracht (‚Nichts bleibt. Die Autonomografie; erschienen 2019 im Ventil-Verlag) und weil diese merkwürdige autonome Szene nun mit ihren selbstherrlichen Maximalforderungen, ihrer oft ins Eskapistische reichenden Verschrobenheit und der Tatsache, dass man in ihrem Umfeld oft recht unbeschwert Alkohol trinken und Konzerte angucken konnte, schon früh das Gefühl einer ausgeprägten Hass-Liebe in mir hervorgerufen hat, habe ich den Text natürlich sofort gelesen. Und weil mir die Lektüre irgendwie immer wieder zu denken gab, beschloss ich, Yok für ein Interview anzufragen. Und so trafen wir uns dann an einem der letzten Sommertage des Jahres 2019 im Neuköllner Café K-Fetisch. Heraus kam das folgende Gespräch über Musik, Trotz, (Ohn-)Macht, Humor und andere Dinge.
Also, dieser Titel ’Nichts bleibt‘ klingt für mich erstmal ziemlich pessimistisch. Das kann aber auch heißen, dass sich alles ändert. Es kann auch heißen, dass am Ende gar nichts mehr da ist. Das kann alles Mögliche heißen. Du magst solche Mehrdeutigkeiten, oder?
Yok: Ja, für einen Titel willst Du was, das den Kopf bewegt. Wo man erstmal stutzt. Die erste Antwort auf den Titel ist immer gewesen „Da stimmt doch gar nichts, gerade weil Du so viel Kultur gemacht hast, das trägt sich doch weiter.“ Und dann kannst Du natürlich den Verweis machen auf die Apokalypse, dass da in 50, 60 Jahren keiner mehr von redet. Aber tatsächlich hast Du ja Recht, dass, wenn nichts bleibt, du anders nach vorne guckst. Dann ist ein Verlust oder eine Niederlage nicht mehr so schlimm, weil du beginnst einfach was Neues mit „Ist denn etwas zu erhalten eher wünschenswert?“
Erzählst Du das jemanden oder dir selbst?
Ich mach Werbung für das Leben, das ich gelebt habe. Dafür, außerhalb von Parteien und Parlamenten Widerstand zu leisten. Und das möchte ich erzählen, genau. Und auf der anderen Seite erzähle ich es mir schon auch selbst, um zu gucken, was war das und war das alles cool.
Ich finde das Buch so als Selbstzeugnis und Geschichte funktioniert echt gut. Aber ich will nochmal zurückgehen. Wie Du beschreibst, bist Du in eine Jauchegrube gefallen und hast eine Mike Krüger-Kassette geklaut. Warum bist Du so ein lustiger Typ?
Weil ich das Leben anders überhaupt nicht aushalte. Also, tatsächlich in dem Buch steht das auch zitiert: Es gibt diese Parole „Wer nicht kämpft, hat schon verloren.“ Und für mich ist die Parole „Wer nicht kämpft und lacht, hat schon verloren.“ Weil das ist für mich Lebenslust; und Lebensenergie ist woraus ich meine Kraft ziehe. Und das ist genau so wichtig, wie ein vernünftiges Menschenbild zu verbreiten.
Als dein Mathelehrer sich mal lustig gemacht hat über dich, hast Du die Kreide locker in den Kreidebehälter geworfen und bist rausgegangen. Das ist ja ganz schön trotzig. Die meisten Leute verhalten sich nicht so. Warum bist Du so trotzig? Warum lässt Du dir das nicht gefallen?
Ich habe mich nicht getraut, ihn körperlich anzugreifen. Und da musst Du ja eine andere Art finden. Also, wenn Du die Aggression nicht rauslässt, wird es schlimmer.
Aber Du antwortest ja jetzt ins Positive hinein. Aber warum bist Du so geworden?
Keine Ahnung. Da haben sich möglicherweise familiäre Dinge ergeben.
Deine Eltern wirken im Buch supernett.
Meine Eltern sind supernett. Aber ich hatte ja auch noch andere Leute um mich herum. Großeltern. Aber die waren auch nicht scheiße zu mir. Meine Tante vielleicht.
Es wirkt irgendwie ein bisschen so „Der Junge ist aus der Art geschlagen.“
Mag sein. Ich habe mir ungern was sagen lassen. Aber das teile ich ja auch mit vielen anderen Menschen.
Ja, ich kenne das gut.
Was ich immer richtig scheiße fand, ist nicht beteiligt zu werden. Wenn bei uns im Garten das Laub geharkt werden musste, dann haben die gesagt „Du hilfst Papa mal beim Laub harken“. Die haben nicht gesagt „Pass auf Kleiner, wir müssen das zusammen machen und irgendwann in der nächsten Woche machst Du mal deinen Teil.“ Das habe ich meinen Eltern mal vorgeschlagen. Da sind sie von alleine leider nicht drauf gekommen. Ich wollte Beteiligung, ich wollte, dass das mit mir abgesprochen wird. Auf alles andere habe ich allergisch reagiert.
Da sind viele Kontinuitäten, von denen Du erzählst. Gemessen an meinen Erfahrungen in der Punkszene spielen bei dir Drogen und Alkohol eine eher untergeordnete Rolle. Hast Du nie gesoffen?
Doch, ein paar Alk-Geschichten hätte ich reinschreiben können. Aber das fand ich nicht so spannend. Ich habe nie davon gezehrt, dass ich mich berauscht habe und dann coole Songs geschrieben hätte. Oder eine Performance gerissen habe, an die ich mich nicht mehr erinnern konnte. Das haben andere gelebt, ich nicht. Ich habe ganz wenige Songs, die ich alleine zu Hause besoffen geschrieben habe. Also, ‚Old but Punk‘ zum Beispiel. Ansonsten ist das in meinem Leben nicht wichtig. Ich stehe dem auch sehr skeptisch gegenüber. Ich habe ein paar Leute in meinem Umfeld, die mit Alkohol Probleme haben. Andererseits: Was gibt es denn Schöneres als nach einer gelungenen Aktion oder einer Demo zusammen bei ein paar Bierchen in einer Kneipe zu hängen und ein bisschen Spaß zu haben?
Du beschreibst dich in dem Buch als „radikaler autonomer Linker“. Was heißt das?
„Anarchisch“ fehlt mir da noch. Wobei da die ersten Anarchos kommen und sagen „anarchisch“ heißt doch nicht links.
„Autonom“ bedeutet für mich außerparlamentarische Politik in der ersten Person. Von oben aus passiert das nicht, also werden wir mit unseren Mitteln dafür sorgen, dass wir darauf aufmerksam machen, Dinge zu blockieren oder zu behindern, laut zu sein oder viele zu sein. „Links“ ist für mich einfach eine Kategorie, damit Du ungefähr weißt, politisch, wo Du stehst. Das hat für mich mit einem offenen Weltbild zu tun. Also, je bunter, je kulturell gemischter es um mich herum ist, desto wohler fühle ich mich. Und je deutscher und je weißer es wird, desto unwohler fühle ich mich. Das ist so eine Haltung, mit der ich durch die Gegend renne. Die aber vielen offenbar entgegensteht.
Aber ist das „links“, oder ist das nicht eher auch schon „liberal“?
Wir leben in einer Welt, in der ein nicht unwesentlicher Teil der Leute keine offene Gesellschaft haben will. Ich will eine offene Gesellschaft. Nenn das meinetwegen liberal. Es ist halt widersprüchlich.
Widersprüche, genau. Ich kann mir das jetzt nicht klären. ‚Die offene Gesellschaft und ihre Feinde‘ ist ein Buch, das hat Karl Popper geschrieben. Der ist nun leider ein Liberaler. Ich denke auch, wenn wir uns ‚Unteilbar‘ oder ‚We‘ll come United‘-Demos ansehen, muss ich als Punker und Liberaler auch auf jeden Fall sagen, dass ich niemandem verbieten würde, irgendwo hinzugehen. Man muss sich aber auch bewusst sein, dass man ohne Grenzen keine Tarifpolitik machen kann oder auch nur schwer einen Wohlfahrtsstaat aufrechterhalten kann. Mein Eindruck ist, dass von den Leuten auf diesen Demos nur wenige ein Bewusstsein für diese Probleme haben. Ist das dann links? Auf ihre Art reden die dem Neoliberalismus das Wort.
Ja, das kann sein. Von mir aus können das Leute auch liberal nennen. Mir ist auch der radikale Aspekt viel wichtiger. Also, klar unterstütze ich jede Mieter-Initiative, die sagt, wir wollen, dass die Löhne raufgehen und die Mieten gedeckelt werden. Aber eigentlich, finde ich, müssen wir dafür kämpfen, dass Wohnraum generell keine Ware ist. Dass damit generell keine Profite gemacht werden.
Was Kevin Kühnert gesagt hat. Ist das deine Linie?
Du willst mich jetzt in die Sozialdemokratie-Ecke stellen. Aber den habe ich tatsächlich verteidigt, weil ich das zu krass fand, dass fast die komplette SPD-Führung für so eine liberale Forderung – ‚Mal halblang mit dem Raubtierkapitalismus‘ nicht bereit schien. Ich fand Kühnert großartig und ich habe nicht verstanden, warum seine vermeintlich soziale Partei den nicht unterstützt.
Die haben eine Todessehnsucht. Die wollen gerne sterben. Daran arbeiten sie hart. Aber kennst Du den Andreas Blechschmidt von der Roten Flora in Hamburg? Der hat ja dieses Buch über die G-20-Proteste geschrieben und das habe ich mit großem Interesse gelesen. Wirklich überrascht hat mich das, weil er Militanz in eine Beziehung zu den gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen bringt. Die Besetzung des Schulterblatts sei im Prinzip nicht mehr gewesen als die Aussetzung einer Räumung auf Zeit. Militanz sei eigentlich vor allem sinnvoll als symbolischer Akt oder zur Verteidigung politischer Spielräume. Systemgefährdend sei sie nicht. Das läuft argumentativ eigentlich auf eine reformistische Position zu, finde ich. Und wenn Du in deinem Buch sagst, Du habest „keine Ahnung von Revolution, aber einen blassen Schimmer vom Revoltieren“, vertrittst Du das irgendwie auch, oder?
Ja, kann ich dir so unterschreiben.
Ich dachte, wir streiten uns jetzt.
Ne, ich weiß auch, dass das das Ding ist, was Blechschmidt vorgeworfen wird. Aber es ist tatsächlich so, dass viele radikale Forderungen auch in der Gesellschaft angekommen sind und schon oft gehört worden sind und auch ernst genommen werden. Das heißt nicht, dass wir im Neoliberalismus, im Kapitalismus gut aufgehoben sind. Aber dass eine Forderung, die vor zwanzig Jahren noch radikal klang, heute irgendwie normal klingt oder reformistisch , das ist ein bisschen der Zahn der Zeit, habe ich den Eindruck. Oder nenne mir andersrum Beispiele für radikale Positionen, wo Du sagst, „das sind Leute, die noch wirklich am Start sind.“ Wo findest Du die?
Wir müssen irgendwie mal gucken, ob wir uns gegenseitig verstanden haben. Willst Du damit sagen, wir haben eine linke Erfolgsgeschichte, weil die Positionen sind ja in die Gesellschaft hinein übertragen worden. Soll man das alles nicht so negativ sehen?
Guck mal: Wir haben in den 1990ern unser Haus besetzt. Unter extrem schweren Bedingungen. Ein Großteil der Gesellschaft war der Meinung, sowas ginge gar nicht. Dann wurde das Haus legalisiert. Mittlerweile haben wir eine Stimmung hier, dass diese ganzen bedrohten linken Projekte per se Unterstützung von der SPD-Linken-Grünen erhalten. Nehmen wir mal die Rigaerstraße raus, weil die kriegen immer auf die Fresse. Bei der Friedel hat es auch nicht geklappt, aber es ist nicht mehr so, dass sich die komplette Parteienlandschaft gegen uns stellt. Da meine ich, da ist was angekommen und du denkst „ok, das wird ja verhandelt vom Senat“. Das wird ja gesehen. Und wir mussten sehr, sehr lange Zeit dafür sorgen, dass diese Probleme gesehen werden. Genau so ist das mit dem ganzen Nationalismus, Rassismus und so. Wir haben ewig dafür gesorgt, dass es gesehen wird. Weil das sonst auch irgendwie niemand gemacht hat. Und mittlerweile ist das irgendwie angekommen . Wo ist dann die Funktion von einer radikalen Linken an so einem Punkt?
Also diese Wirksamkeit der radikalen Linken wäre ja ohnehin mit dem ganzen Rechtsruck überfordert. Mit ein paar Nazis kann man sich vielleicht noch rumprügeln. Fast Dreißig Prozent der sächsischen Wähler wird die radikale Linke nicht angreifen können.
Ich wüsste jetzt auch gar nicht, wo ich hinzeigen würde, wenn ich sagen würde, das sind die radikalen linken Kräfte, die ich meine. Die ‚Unteilbar‘-Demo ist ja ein gutes Beispiel. Sagen wir es mal ganz vorsichtig. Ich habe den schwarzen Block auf der Unteilbar-Demo nicht vermisst. Weil ich denke, wie anachronistisch wäre denn das? Oder macht das einen Sinn? Oder ich versuche mir vorzustellen, dass auf so einer Demo 40.000 Unteilbar-Leute sind und 10.000 vom Schwarzen Block, die auch wirklich wissen, was sie wollen.
Ich kenne mich da nicht so gut aus. Ich finde aber auch gut, dass da so viele Leute waren. Ich freue mich erstmal über jeden, der da hinkommt – warum auch immer. Außer Olaf Scholz vielleicht. Ist das Reformismus?
Also, Reformismus entsteht ganz schnell überall da, wo soziale Bewegungen vereinnahmt werden. Und wo sie das Gefühl haben, „ok, meine Anliegen, werden hier irgendwie auch verhandelt auf einer anderen Ebene“. Da kommen dann Signale von Linken, da kommen Signale von Grünen. Und dann ist so eine Bewegung ganz schnell nicht mehr der Meinung, dass sie sich so eine Stimme verschaffen muss.
Wie stehst Du denn zu linker Militanz?
Was verstehst Du denn darunter?
Oh, äh… Also, wenn man sich systematisch technische und körperliche Fähigkeiten aneignet, um Sach- oder Personenschaden anzurichten, oder zumindest damit zu drohen, um seine politischen Ziele zu erreichen.
Du meinst politische Gewalt? Militanz ist ja weiter gefasst. Aber gut, Du hast ja gesagt, was Du darunter verstehst. Wie ich dazu stehe?… Kann ich so allgemein schlecht sagen. Dann nenn mir eine Aktion, die Du gut oder scheiße fandest, die passiert ist. Dann kann ich da antworten. So allgemein ist das schwierig.
Reicht mir, Du hast eine differenzierte Haltung. Welche Voraussetzungen müssen denn erfüllt sein, damit Du sagst, Du unterstützt eine militante Aktion?
Unbeteiligte dürfen nicht betroffen werden. Ich bin auch kein Freund davon, Menschen zu verletzen oder schlimmeres. Darüber hinaus darf eine Menge passieren, . Ich denke, immer noch, alles, was symbolhaft einen Sinn macht und gesehen wird, ist okay, wenn die Vermittlung stimmt.
Richtig viel Militanz gibt es ja – verglichen mit den 1980er Jahren – ohnehin nicht mehr. Wäre es gut, wenn man wieder mal so ein Gewaltpotenzial hätte?
Die Sachen, warum Leute in der Vergangenheit massenhaft auf die Straße gegangen sind, waren ja Sachen wie diese ganzen Atomkraftgeschichten oder so. Weil man da nicht mit einverstanden war. Da ist man auf die Straße und hat gesehen, Ihr macht die Zäune immer höher und wir wollen den Scheiß trotzdem nicht. Also eignen wir uns Techniken an, den Zaun niederzureißen und den Bauplatz kaputt zu machen. In der heutigen Zeit geht mir ein bisschen die Fantasie aus. Was könnte es denn sein?
Habt Ihr denn an einem Punkt wirklich gedacht, man könne die Gesellschaft auf diese Art umgestalten?
Natürlich. Also, meine Generation vielleicht ein bisschen weniger als die vor uns. Aber die Leute, die Anfang der 1980er Häuser besetzt haben, wenn du mit denen redest, da haben ganz viele gedacht, sie sind nur noch so ein kleines Stück davor, in Berlin die Verhältnisse zu kippen.
Irgendwie hat das so ein konservatives, tribalistisches Element. Man baut sich eine Parallelgesellschaft. Heißt nicht dieser Platz da an der Rigaerstraße auch Dorfplatz? Ist das progressiv?
Ich finde das progressiv, wenn Du dabei die Idee im Kopf hast, das weiter in die Gesellschaft hineinzutragen. Um das Symbol mal zu übernehmen. Wenn das am Dorfplatz aufhört und 500 Meter weiter am Frankfurter Tor nicht mehr wichtig ist, dann ist das politisch schwach. Aber mein Ding war immer, zu sagen, „ok, wir sind halt Subkultur. Politisch vielleicht irgendwie ein bisschen bockig und trotzig. Das verbreiten wir.“ Und das Verbreitungsmoment ist genau das, ich habe das Wort vergessen, was Du gerade gesagt hast…
Tribalistisch…
Das meine ich … Wenn die Freiräume, die wir uns erkämpfen, das K-Fetisch, oder so – wenn das nur verstanden wird als Schutzraum – ich gehe da rein und mache die Tür zu und dann fühlen wir uns alle gut, dann finde ich es politisch kontraproduktiv. Wenn wir hier draußen sitzen und die Leute nehmen uns wahr und hier hinten hängt ein Banner, Wenn wir Plätze haben, wo wir das vermitteln und erzählen, dann ist das sinnvoll.
Warum bist Du eigentlich kein Leninist? Die Gewerkschaft ist der Schild, die Partei das Schwert…
Um Leninist zu sein, musst du doch immer soviel lesen. Das ist nicht so meins, Theorie und so…
Nein, das musst Du nicht. Du sagst einfach, um die Gesellschaft zu verändern, brauchen wir große Organisationen, die die Interessen der Unterdrückten kollektiv durchsetzen, indem sie die Leute auf Linie bringen und die Macht im Staat an sich reißen.
Ja, das hat ja was mit Macht zu tun. Das ist nie so mein Ding gewesen.
Aber wie willst Du dann eine für viele Leute so abwegige Ordnung installieren, wenn Du keine Macht ausüben willst? Da macht ja keiner mit.
Ich will ja nichts installieren. Mir reicht das völlig aus, wenn wir uns ein bisschen organisieren und einen anderen Umgang miteinander haben.
Das klingt für mich doch eher ein bisschen eskapistisch, vielleicht auch konservativ.
Kleinbürgerlich vielleicht?
Man muss sich fragen, wie weit kommt man damit. Wenn man andere Leute nur inspirieren will…
Aber was ist denn Sozialisation? Wo sozialisieren sich denn Leute? Warum kommen Leute wie drauf, oder so? Weil sie ein Umfeld haben und weil da Dinge passieren.
Aber auch, weil Zwang herrscht und weil Momente der Befreiung auch einfach wieder integriert werden. Was früher losging als antiimperialistische, antikoloniale Bewegung wird heute als Diversity inkorporiert. Irgendwie erscheint mir das im Rückblick aus einer linksradikalen Sicht oft nicht überzeugend.
Ist das der Fehler der Bewegung, dass das passiert? Ist das ein Fehler des Ansatzes?
Ich bin nicht derjenige, der das beurteilen will. Das ist mir zu heikel. Ich sehe nur, das hat nicht geklappt hat.
Ja, ich sehe permanent, dass das nicht klappt. Meine Geschichte ist keine Erfolgsgeschichte. Da sind wir wieder beim Titel. Die meisten Geschichten sind nicht gescheitert. Aber in dem, was ich mir vorgenommen habe, sind sie vielleicht gescheitert. Was ist mit der Atomkraft vor 30 Jahren? Was ist mit den Windmühlen heute? Habe ich gewollt, dass sich das integriert in einen Neoliberalismus und dass das alles entsteht, weil da nun auch Geld mit verdient werden kann?
Aber Du hast ja ein schönes interessantes Leben gehabt, was viele Leute inspiriert. Das hat
ja auch geklappt. Nur das mit dem Umgestalten der Gesellschaft hat nicht geklappt. Und da würde ich dich eben fragen, ob Ihr mit einer Lebenslüge gelebt habt in einer Parallelgesellschaft.
Dann halte ich mal dagegen, dass wir hier in diesem Laden nicht sitzen würden, wenn es das alles nicht gegeben hätte.
Da hast Du Recht.
An vielen Punkten in dieser Stadt kannst Du sowas sehen. Die vielen Hinterhofkollektive, die ganzen Leute, die da hinten Urban Gardening machen. Die Alternativis auf dem Tempelhofer Feld oder die Community, die in der Rigaerstraße kämpft.
Das Tempelhofer Feld habt Ihr auch gemacht?
Nein, aber das kommt ja aus einem bestimmten Spirit. Da sage ich dann auch schon mal gerne WIR. Du hast dir nicht zufällig diese Lage hier ausgesucht. Das sind schon Subkulturen. Das würde ganz schön bitter aussehen, wenn das nicht gewesen wäre.
Wenn Du dir die IWF/Weltbank-Gipfel in Seattle, Prag und Göteborg oder G7/G20 in Genua und Hamburg anschaust, sind das tolle T-Shirt-Motive. Aber die Weltbank und die G-20 gibt es ja noch. Das hat sicher viele Leute inspiriert und Du hast einen Erlebnistourismus für radikale (Post-)Jugendliche. Und eine Subkultur, die Orte wie diesen hier pflegt. Aber was hat das an der Marktwirtschaft geändert? Was hat das an der Kapitalkonzentration geändert? Was hat das an der Asymmetrie in der globalen Arbeitsteilung geändert?
Aber daran kannst Du es nicht messen. Was ist denn die Alternative? Die Fresse zu halten und nicht hinzugehen? Wenn Du Genua sagst, dann kannst Du sogar noch weiter gehen und sagen, es hat sich nicht nur weltmarktmäßig nichts verändert, IWF, tralala, sondern wir haben auch noch ein paar hundert Leute, die extrem traumatisiert wurden und die auch gebrochen worden sind. In der Richtung – könntest du sogar sagen – war das nochmal viel kontraproduktiver. Wir hatten so viele Verletzte, soviel Repression bekommen. Das ist scheiße für die Leute, die hier was anderes wollen. Und trotzdem finde ich das alternativlos. Was willst Du denn machen gegen so einen übermächtigen Apparat?
Du bist jetzt aus der Nummer rausgekommen, indem Du mein Argument umgedreht hast, und gesagt hast ‚Naja, Du kannst ja auch nicht nichts machen‘. Aber worauf Du nicht geantwortet hast, ist die nach der Diskrepanz zwischen dem hohen Veränderungsanspruch, den diese Szene formuliert („Die ganze Bäckerei!“) und dem, was man tatsächlich tut.
Aber was behaupte ich denn? Was gebe ich denn vor? Außer, dass ich mich selbst in die Reihen von so einer Widerstandsbewegung stelle? Es ist keine große Geste, wenn wir sagen, wir akzeptieren das nicht, dass so Leute wie Trump oder Bolsonaro ihr Ding machen. Und das verkünden wir laut. Da gibt es Bewegungen in der ganzen Welt. Wenn Du dir die Leute in Brasilien anschaust, die auf die Straße gehen, die einfach weggeboxt werden, so richtig böse, bis hin dazu, dass der Amazonas brennt.
Ja, ja, das ist schlimm.
Was ist mit Chemnitz? Ist das falsch, da ein paar Wochen später zu sagen, ‚Wir sind mehr‘? Und dann mit 50.000 Leuten sich selbst auch zu feiern? Oder das Gefühl, das viele von der Unteilbar-Demo mitgebracht haben, dieses „Ey, wir brauchen das auch“! Wir brauchen das Gefühl von „Wir sind verdammt nochmal viele, die diesen Nazi-Scheiß hier nicht wollen“. Diese Selbstvergewisserung, die viele hatten, würde ich auch nicht unterschätzen, denn Vereinzelung macht klein.
Ich finde, Du klingst viel versöhnlicher als in deinen alten Texten.
Ich glaube, dass ich in bestimmten Punkten sehr unversöhnlich geblieben bin. Aber ich bin vielleicht auch bereiter, mir mal andere Dinge anzuhören und die Leute nicht mehr so schnell abzuwatschen, weil ich es auch produktiver finde, mir mal eine andere Sicht anzuhören. Und weil ich mir natürlich auch überlege, wo liegt denn der Zugriff? Wo kriege ich den Zugriff auf Leute? Und ich weiß, wie begrenzt die Möglichkeiten sind, wenn wir miteinander reden.
Was meinst du damit?
Ich habe früher viel mehr das Gefühl gehabt, ich kann Leuten die Welt im Wortsinne erklären. Die Leute haben das nicht kapiert und ich erkläre das. Ich kannte aber die Haltung, die ich in mir trage und das Menschenbild. Ich kann aber die Haltung, die ich in mir trage, nicht mit Worten erklären. Das müssen Menschen ausprobieren, Erfahrungen sind wichtig. Die Erfahrungen, die ich hier seit 30 Jahren in Neukölln und Kreuzberg gesammelt habe… Du bist dir selber fremd, andere sind dir fremd, sehen anders aus. Andere haben andere Hautfarben, haben andere Sprachen. Das sind Basisdinge des gesellschaftlichen Zusammenlebens, die supervielen Menschen in diesem Land fehlen. Weltweit. Von der Erfahrung mit anderen Kulturen, anderen Menschen. Und deswegen ist es fremd und deswegen passt es wunderbar, sich fremd zu verhalten. Und das kriege ich irgendwie nicht gebogen, mit „Leute, Ihr seid irgendwie blöd und Nazis“. Also, die Parole rufe ich natürlich noch gerne mit. Aber der Zugang muss irgendwo anders liegen. Und ich bin da ganz ehrlich, da bin ich relativ ratlos.
Ich will dich damit ein bisschen mit dieser alten Kritik an den Autonomen konfrontieren. Deshalb fragte ich, weshalb Du kein Leninist geworden bist. Die Dinge, die ihr in den 1980ern proklamiert habt, müsste man – wenn man das ernst meint – mit einer Massenbewegung, einer starken Gewerkschaft und einer starken Partei durchsetzen.
Dann mach Du das doch mit dem Leninismus.
Ich bin der Interviewer, ich muss das nicht machen.
Ich war noch nie nah dran an so einem Radikalkommunismus-Leninismus.
Und Du siehst da auch keine Notwendigkeit?
Überhaupt nicht. Ich war nie besonders machtaffin. Ich finde das auch nicht geil, Macht zu haben. Ich finde, überall, wo wir agieren, müssen wir eigentlich Macht bekämpfen oder sie auflösen.
Aber das ist schwer, wenn Du dann im Clinch liegst mit so einem auf Herrschaft begründeten Staat. Den kriegst Du so nicht weg.
Aber als Leninist würde ich ihn wegkriegen, denkst Du? Haben wir da nicht auch historische Beispiele, wo das nicht geklappt hat?
Ich glaube da eh nicht dran. Ich bin Reformist. Ich glaube nicht an eine Revolution. Ich denke nur, dass, was die Autonomen so vollmundig behauptet haben, sind Forderungen, die man strategisch anders angehen müsste, wenn man sie ernst meinte. Nämlich viel autoritärer und zentralistischer.
Das ist ein Widerspruch in sich.
Klar, aber das ist dein Widerspruch und nicht meiner.
Ich weiß aber auch, dass es in der autonomen Linken verschiedenste Strömungen gab. Ich war nie bei den Anti-Imps, die noch ein bisschen größer gedacht haben. Ich war auch nie bei den Praktikern und Theoretikern, die der RAF sehr nahestanden. Die Pamphlete formuliert haben, die mich nicht begeistert haben, weil ich sie echt auch nicht verstanden habe. Wir waren die kleinen Straßenchaoten. Die Subkulturnische.
Ok. Ich wollte eigentlich nicht drüber reden, weil mich die Debatte nervt, aber ich habe eine Frage zu ‚Tu Was‘. Der Song ist dreißig Jahre alt. War das der Swagger damals mit Palästina? Warum interessiert Ihr euch eigentlich dafür, was da so weit weg passiert?
Es war für uns nicht so weit weg. Es waren Leute von uns unterwegs in diesen Ländern. Lateinamerika, Palästina zum Beispiel. Es ist bekannt, dass da auch Leute der RAF sich an der Waffe haben ausbilden lassen. Es gab also Bezüge in bestimmte Gebiete und die RAF hatte ja auch ihr Umfeld. In Lateinamerika war das noch mal anders. Also, El Salvador zum Beispiel, die Kampagne „Waffen für El Salvador“, die damals sogar die taz mitgetragen hat. Oder bei der Kaffeeernte in Nicaragua. Leute, die da geholfen haben, haben dann in den Schützengräben gelegen und sich an der Waffe ausbilden lassen. Autonome. Das ist ein Stück unserer Geschichte, wo sich viele auch am spanischen Bürgerkrieg orientiert haben und gesagt haben, da müssen wir gegen die Faschisten kämpfen. Aber zum Internationalismus muss ich noch sagen, dass ich mich zwar auch in dieser Tradition sehe, aber im Gegensatz zu vielen anderen nie in diese Länder gereist bin.
Also ist das der politische Horizont? Ist das der Stadtteil? Ist das der Nationalstaat? Ist das die ganze Welt? Ich finde, die autonome Szene hat ein total unklares Verhältnis dazu, was die eigentlich wollen. Das ist wie eine manische Depression. Manchmal will man gar nichts und zweifelt nur, dann ist man größenwahnsinnig. Das finde ich faszinierend. Ich finde diese Pole auch in deinen Songs wieder. Das ist immer mal wieder ganz oben und dann wieder ganz unten.
Es liegt mir total fern, das schön zu reden. Ich kann mit einer relativ gelassenen Haltung sagen, ich weiß, dass sich viele einfach mit Haut und Haaren reinbegeben haben in diese Kämpfe. Dass wir kurz darauf manchmal später mit dem Kopf geschüttelt haben und gesagt haben, „Digger, das war aber gar nichts“. Aber an einigen Punkten waren wir auch einfach ‚fucking angry‘. Und wenn Du merkst, Du kannst die Gesellschaft hier politisch nicht bremsen, dass die schon wieder die Fahrpreise erhöhen und Du kannst das nicht ändern, dann schnappst Du dir einfach mal zehn Fahrscheinautomaten, die dann hinterher nicht mehr bedient werden können. Ich finde das ehrenwert, so zu handeln. Da habe ich immer noch Sympathien für, aber ich sehe mich tatsächlich mittlerweile auch mehr als Beobachter.
Du schreibst im Buch auch „Meine Vorstellungskraft von einem anderen, besseren Leben wurde noch nicht zerschossen von der Skrupellosigkeit realpolitischer Akteure“. Irgendwas scheinst Du ja noch vor Augen zu haben. Ist das diese schöne, bunte Kreuzköllner Enklave?
Ja, also, das Leben hier ist ja schon sehr erquicklich. Wir sitzen schön im Schatten, trinken alkoholfreies Bier, können den Kuchen nicht aufessen, weil er zu süß ist [Anm.: Das stimmt. Der Mohnkuchen im K-Fetisch war so süß, dass wir beide die großzügig portionierten Stücke nur teilweise aufessen konnten]. Damit könnte ich ja schon zufrieden sein. Ich bin das eigentlich auch. Ich erzähle das auch meinen Taxifahrgästen, dass wir hier ziemlich gut leben können. Nach meinem Verständnis. Ich finde es furchtbar, was in bestimmten anderen Regionen los ist. Die nächsten Wahlen kommen auf uns zu. Und wir wissen auch, die vielen Menschen – sagen wir mal mindestens 50 Prozent der Leute hier in Neukölln – die müssten sich in einer kleinen, rechtslastigen Stadt bedroht fühlen. Und das darf nicht sein. Das muss einfach weniger werden. Und dafür müssen wir kämpfen. Wir haben da nichts zu verhandeln. Hier wollen die AfDler rein und das deutscher machen. Naja, sollen sie mal kommen!
Ich will dir ja vor allen Dingen widersprechen, um hier möglichst viel aus dir rauszukriegen. Ich glaube, Du kannst von hier aus die Provinz nicht ändern. Aber ich bin mir auch gar nicht sicher, ob Du das wirklich willst. Also, irgendwie natürlich schon. Aber ich komme immer wieder zurück zu dem Ding mit dem konservativen und der Parallelgesellschaft. Es ist doch irgendwie ein Sich-Einrichten.
Es gibt zum Beispiel diese Initiative “die Stammtischkämpfer”. Hast Du von denen schon mal gehört? Das ist eine Gruppe, die die Leute fit machen will, mit Argumenten gegen Rechts. Gegen rechte Weltbilder. Ich habe an so einem Seminar mal teilgenommen, weil ich es spannend finde, weil ich es genau richtig finde, zu sagen, wir müssen an die Stammtische und genau an die Orte, wo uns der Rassismus begegnet. Wir müssen da fit sein und müssten die Phantasie haben, den Leuten zu begegnen. Wenn diese Initiativen mehr werden und man sich in kleine Käffer traut und an den Rändern von den Nazifestivals [agitiert], dann sind das ganz wertvolle Initiativen. Die Leute richten sich da ja nicht ein. Diese Leute gilt es zu unterstützen. Da kann sich dann ja jeder selber überprüfen, ob er da genug tut. Ich unterstütze superviele solcher Initiativen. Ein Großteil meiner Konzerte begründet sich darauf, dass ich linke Projekte unterstütze.
Die Kritik, dass Städte wie Berlin, Leipzig, Hamburg, Enklaven und Hochburgen und damit auch Rückzugsorte sind für linke Selbstverwirklichung, ist deiner Meinung nach unberechtigt?
Ich finde das verständlich, wenn Leute aus einer Stadt wie Elmshorn abhauen und sagen, sie gehen nach Berlin oder Hamburg. Weil diese Leute haben in der Regel die Faxen dicke. Dass das politisch falsch ist, weiß ich auch. Natürlich müssten die vor Ort bleiben und kämpfen. Aber ich habe ja auch gut reden. Was meinst Du, wie gut das war, in den Scheiß-Zeiten, wo wir jedes Wochenende rausgefahren sind und gegen Nazis gekämpft haben, dass ich einfach nach Kreuzberg zurückkonnte, wo ich einfach keinen Stress hatte. Was glaubst Du, wie das für Leute ist, die anders oder fremd aussehen. Die sagen, woanders als in Kreuzberg kann ich in Deutschland doch gar nicht mehr leben. Da gibt es noch ein paar Stadtteile in Köln und in Hamburg, aber gefühlt ist dann oftmals auch Schluss. Diese Freiräume gilt es zu verteidigen. Das ist tatsächlich eine zivilgesellschaftliche Angelegenheit.
Wir kommen der Sache näher, glaube ich. Wir drehen uns ein bisschen im Kreis und wir verdichten das so ein bisschen. Das ist ein schönes Gespräch, was mir total hilft, deine Sicht auf diese Politik und diese Gesellschaft und wie das zusammenhängt zu verstehen. Aber ich will jetzt nochmal was zum Schreiben fragen. Du kannst dich so gut erinnern. Hast Du Tagebuch geführt oder wie kommt das?
Mich hat das in Rostock vor drei Tagen jemand gefragt – wie kommt das, dass Du genau weißt, dass du am 9.4. 1980 das erste Mal Straßenmusik gemacht hast? Das hatte ich mir tatsächlich aufgeschrieben und auch den Betrag, den ich da verdient habe. Dann gibt es viele Verknüpfungen in unseren Erinnerungen. Du weißt höchstwahrscheinlich auch noch, wo Du dich das erste Mal verliebt hast oder den ersten tollen Sex hattest. Das sind Dinge, die haben wir verknüpft mit einem Geruch, mit einem Song, mit einem Erlebnis, mit einer Party. Mit einem politischen Event – so wie das mit meiner Liebsten ist – 1. Mai 1989. Da hatte ich ihr erklärt, dass ich scheiße verliebt bin in sie. Und dann war da der IWF, da war richtig Rabatz in der Stadt. Dann war das Kubat-Dreieck. Das kann ich abrufen. Und bei anderen Sachen musste ich nachgucken, weil ich nicht mehr sicher war. Es gibt aber tatsächlich auch Tourtagebücher. Ich schreibe am Anfang: „Erinnerungen sind trügerisch.“ Es gab zum Beispiel Sachen, die ich aufgeschrieben habe, wo Leute meinten, das stimmt nicht, da vertust Du dich. Die habe ich geändert.
Die Liebesgeschichte mit der Gu ist wirklich ein tolles Klischee – als hättet Ihr euch auch noch im Tränengasnebel geküsst. Der Plot ist auch insgesamt gut. Warum kannst Du so gut schreiben?
Ach, das ist… ich habe einfach Spaß am Schreiben. Ich habe Spaß daran, dass das flüssig ist und gut klingt. Ich habe auch Freude daran, dass mein Leben so verlaufen ist. Wenn Du jetzt Gu erwähnst. Das ist einfach ein großes Glück gewesen, sie zu treffen.
Ich finde das so schön auch, wie Du da immer in dieses EX gehst. Das hat so ein bisschen was von so einer Teenie-Komödie.
Ja, so war es aber auch. Das kannst Du tatsächlich nur mit Abstand so aufschreiben. Die Geschichte ist ja auch gut ausgegangen. Da mussten wir im Rückblick natürlich auch schmunzeln.
Klar, wenn Du drin bist, ist das echt.
Dann ist das richtig scheiße!
Wie viel Ausschuss hast du beim Schreiben?
Wie viel ich weggeschmissen habe? Fast nichts. Ich habe da drei Jahre dran geschrieben – immer mal wieder umarrangiert und eingefügt. Kleinere Sachen, Ironie und Polemiken habe ich rausgekloppt, weil ich eingesehen habe, dass es nicht so geil ist.
Findest Du eigentlich, es findet sich ein Einfluss aus deinem Schaffen als Quetschenpaua in den 1990ern in der heutigen Musik wieder?
Ich glaube schon, dass das viele beeinflusst hat. Wie stark und wie viele sich auf mich bezogen haben, weiß ich nicht. Aber in der ‚Rotzfrechen Asphaltkultur‘ kann man das finden. Ich kann das schon ziemlich deutlich sehen. Das ist einfach so, wenn Leute miteinander Musik machen. Dann übernehmen die was von anderen, weil die das geil finden. Und dann muss das nicht immer ein gecovertes Lied sein.
Ärgerst Du dich manchmal, dass Du nicht ein Leben aus der Musik finanzieren konntest?
Nicht wirklich. Ich habe früh entschieden, dass ich das nicht will. Ich habe das Ende der 1980er für drei Jahre gemacht und die Entscheidung war, dass ich mich auf keinen Fall musikalisch verkaufen möchte.
In dem Buch geht es irgendwie um Reflexionsvermögen einer alternden Generation von Autonomen. An einer Stelle schreibst Du „Ich kam zu der Einsicht, dass ich mit dieser neuen Szene genau betrachtet politisch und sozial betrachtet nicht mehr viel teilte. Mit einzelnen Leuten schon, aber die meisten beschäftigten sich mit Dingen, die ich selbst schon von vielen Seiten betrachtet hatte. Oder sie redeten über Sachen, die ich nicht mehr diskutieren wollte.“ Dieser Satz kam für mich sehr plötzlich. Kannst Du mir den erklären?
Das ist, glaube ich, der Community ’Rotfreche Asphaltkultur‘ zuzuschreiben. Da bin ich seit 1985 dabei gewesen.und habe dreißig Jahre später dass Gefühl gehabt: Krass, jetzt sind die Leute ja wirklich dreißig Jahre jünger‘. Und mit 22, 25 oder 18 hast Du eine andere Neugierde und willst dir nicht von einem alten Sack anhören, dass der keinen Bock mehr hat, für eine Aktion auf die Straße zu gehen. Wenn Du ein bisschen müde bist, dann findest du die 500ste Demo halt nicht mehr so spannend wie die dritte. Dann bist Du mit einer anderen Begeisterung bei den Sachen dabei. Und Du kannst mit deinen Erfahrungen da ungefragt nicht die Leute nerven. Ich möchte, dass die sich einfach entwickeln und genau so ihre Erfahrungen selbst machen wie ich. Deshalb habe ich es als schwer empfunden, mich da weiterhin drin zu bewegen.
Danke für das Gespräch – ich habe viel gelernt und bin froh darüber!
PS: Am Ende erzähle ich, dass ich nicht weiß, wo man ein Spannbetttuch kaufen kann und daher im Internet bestellte, und Yok erklärt mir nicht nur, dass das beim dänischen Bettenlager geht, sondern auch, auf welchem Weg ich dorthin gelange. Die Frage, wer hier in einer Parallelgesellschaft lebt, müssten wir eventuell nochmal besprechen…
Interview und Text: Martin Seeliger
Dank an: Marcus Staiger