4 Köpfe, 20 Antworten
Kaput fragt, vier FreundInnen antworten. Für den etwas schärfer formulierten (und leicht verfrühten) Jahresrückblick haben wir Hanitra Wagner (Oracles/Die Heiterkeit), Beni Brachtel (Bartellow/Tambien/Pollyester), Jan Schulte (aka Bufiman aka Wolf Müller) und Lukas Föhres (Melt! Booking) gewinnen können.
Die Idee auch mal andere Aspekte des Pop-Business und seiner (Un-)Tiefen zu thematisieren, kam – wo auch sonst? – im Schwimmbad. Nicht Round-Tablen, sondern einfach mal Thesen sammeln; wie nehmen Andere das Geschehen wahr, ohne Konsens, jeder für sich – und so die diskursive Blase, in der man sich manchmal befindet, platzen lassen.
These 1:
Die Jahre 2011 bis 2015 sind meist in Jahresrückblicken als eher schwach eingeordnet worden. 2016 hingegen scheint einiges an Energie in der gesamten Musikszene produziert zu haben.
Hanitra Wagner: “Energie” verstehe ich hier im Sinne von “Output”. Ja, dieser Output war 2016 enorm (und das Jahr ist noch nicht vorbei). Bei all den Veröffentlichungen, die einen dieses Jahr erreicht haben, hat man es streckenweise schwer gehabt, den Überblick zu behalten. Ohne, dass ich jetzt alle Neuerscheinungen 2016 nennen will (oder kann), sind, aus meinem persönlichen Musikgeschmack heraus, einige Alben zu nennen, über die ich mich dieses Jahr sehr gefreut habe:
Rihanna: “Anti”
PJ Harveys: “The Hope Six Demolition Project”
Beyoncé: “Lemonade”
Franc Ocean: “Blonde”
Kanye West: “The Life of Pablo”
Radiohead: “A Moon Shaped Pool”.
Hier wurde ordentlich abgefeuert, um den KonsumentInnen den größtmöglichen musikalischen Spaß zu bereiten. Aber auch abseits dieser Major-Künstler sind dieses Jahr wunderbare Werke erschienen, wie zum Beispiel von Keshav aka Keshavara, Camp Inc., Messer, Roosevelt, All diese Gewalt oder Die Heiterkeit (Hanitra stieß erst nach dem Albumaufnahmen zur Band; Anmerkung der Redaktion). Manch einer klatschte 2016 also begeistert in die Hände und wir dürfen gespannt sein, was sich musikalisch noch so tut, zum Ende des Jahres hin.”
Jan Schulte: “In jedem Jahr seit 2011 sind wunderbare Platten erschienen, ich verfolge zu wenig klassische Musikmedien um etwas über deren Einschätzung oder Jahresrückblicke zu wissen.”
Beni Brachtel: “Antimaterie vielleicht. Prince, Bowie, Blowfly (the list goes on) haben doch eher ein schwarzes Loch hinterlassen…
Als selbst aktiver im Musikgeschehen hat man doch immer das Gefühl, irgendwas geht gerade voll ab. Aber das ist eben die persönliche Perspektive, man schaut sich ja nach nichts anderem um. Ich finde jedes Jahr musikalisch spannend, aber weil es sich für mich nicht nur durch Neuerscheinungen definiert. Es dürfte zum Beispiel das Jahr 2011 gewesen sein, als ich zum ersten Mal die Bartok-Streichquartette gehört habe: was für eine Offenbarung.”
Lukas Foehres: “Auf die 2000er kann ich verglichen mit dem jetzigen Jahrzehnt oberflächlich noch relativ leicht zurückblicken. Ich kann allerdings den Jahren 2010 bis 2015 nicht irgendetwas direkt zuordnen. Da die Übergänge so fließend sind, immens viel Output (re)produziert wird, dadurch logischerweise bei immer mehr Input niemand mehr hinter allem her sein kann, ist eine jährliche Zusammenfassung ein feiner Service. Jahresvergleiche finde ich allerdings extrem umspannend.”
These 2:
2016 hat gezeigt, dass unter jetzigen Vorzeichen das Festival das Einzelevent (Party, Konzert, Performance) verdrängt hat.
Beni Brachtel: “Das widerspricht These 1, die besagt, dass mehr Energie in der Musikszene ist. Wieso ist denn nur noch die Kombipackung rentabel? Wieso brauche ich drei große Namen, um an einem Abend Spaß zu haben? Ich fürchte, das hat betriebswirtschaftliche Beweggründe.
Diese „Defokussierung“ kennt man bereits aus dem privaten Musikkonsum. Durch Streamingdienste und Internet generell surft man von Act zu Act. Auf dem Melt mach ich das auch, passt doch irgendwie.
Fakt ist aber trotzdem, dass diese bunte Festivalszene in den letzten Jahren ein hohes Maß an Bedeutung gewonnen hat, und vor allem die jungen kleinen ambitionierten Festivals genieße ich persönlich sehr.”
Jan Schulte: “Auf jeden Fall ist die Anzahl von größeren Musik-Festivals weiter gestiegen, vor allem im Bereich der elektronischen Tanzmusik und der Festivals mit überwiegend DJ-Stages. Auch ist die Professionalität dieser Festivals enorm gestiegen, gerade in den Niederlanden oder Skandinavien. Andererseits bin ich fast jedes Wochenende auf tollen Underground-Dance-Parties (also Einzelevents) quer durch Europa eingeladen.”
Hanitra Wagner: “Das Festival schafft es, zu einem (zumindest meistens) moderaten Preis dem Hörer die volle Dröhnung Musik zu liefern – wie aus dem Boden schießen immer mehr Festivals, die es sich zum Alleinstellungsmerkmal machen, Videos als Reviews zu posten, in denen easy listening-Pop läuft, der Sepiafilter sehr prominent ist und sich ausschließlich schöne Menschen bei strahlendem Sonnenschein Fischgrätenzöpfe flechten. In meinen Augen ist so manches Festival aber auch Garant von Reizüberflutung, wo die Intimität der kleinen Konzerte gänzlich verloren geht. Zwar ist das line-up mittlerweile streckenweise genreübergreifend, Menschen pilgern von weit her an, um ein Wochenende im Zelt zu schlafen, bei Regen mitsamt dessen im Matsch zu versinken und sich drei Tage nur von Dosenbier zu ernähren, aber dieses Gefühl, im stickigen Club zu stehen und sich am Geruch von kaltem Rauch zu stören, geht dabei verloren. Zwar will ich keinen Abgesang auf Einzelevents anstimmen, gibt es doch (zum Glück!) noch immer die Möglichkeit, die Lieblingsband im intimen Kontext zu sehen, aber es ist schon erstaunlich, wie festivalreich die Musiklandschaft geworden ist. Kann gut sein oder auch schlecht, ich persönlich vermisse aber schon manchmal eher die Knubbeligkeit in kleinen Läden und den fahlen Bieratem der anderen Konzertbesucher.”
Lukas Foehres: “Gerade 2016 hatte ich aber das Gefühl, dass sich das Einzelevent stark um Aufwertung bemüht hat. Immer mehr KünstlerInnen wollen inhaltlich mitwirken und kuratieren in Absprache mit Booking Agenturen zuammen die Line Ups von Veranstaltungen. Die Auswahl der Locations wird immer wichtiger. Sicherlich auch um ein wenig aus dem Hamsterrad Live Konzert auszubrechen, aber auch um den gestiegenen Erwartungshaltungen an Konzerten im allgemeinen gerecht zu werden, denn nur mit aufwendigen Bühnendesigns und Visual/Licht Konzepten kommt man nicht mehr hinterher. Auf Facebook sehe ich öfter Flyer von Veranstaltungen aus England mit fantastischen Line Ups. In Deutschland ist das vielleicht noch nicht so angekommen. Ein Problem hier ist aber auch dass es fast nicht möglich ist, solche Mini Festivals zu moderaten Ticketpreisen zu produzieren, vor allem nicht, wenn die Leute nicht bereit sind, angemessen für Konzerte zu bezahlen. Viele Leute mögen mehrtägige Festivals nicht, gehen aber gerne 1 Tag in ein stillgelegtes Elektrizitätswerk und erleben dort ein interessantes Programm. Aber eben nicht nur Licht/Klanginstallationen und High-Class Ambient, sondern auch Konzerte ihrer Lieblingsbands an einem besonderen Ort. Da ist dann ein Happening und besonderer als ein Festivalauftritt vor 30.000 Menschen auf einem matschigen Acker.”
These 3:
Der Vinyl-Hype geht weiter. 2015 war das beste Jahr seit den `80ern. 2016 ist auf dem besten Wege diese Zahlen zu toppen. Es machen Plattenläden auf, nicht zu. Ein Ende ist nicht abzusehen.
Lukas Foehres: “Nur schlecht daran ist, dass Major Labels mit ihren großen Auflagen (zum Beispiel für Record Store Day und Weihnachtsgeschäft) die Presswerke verstopfen und ein Independent Label oder eine Band, welche selbst veröffentlicht, bis zu 3 Monate auf ihre fertigen Tonträger warten muss. Vinyl verkommt gerade zum Einrichtungsgegenstand. Viele Leute besitzen doch noch nicht mal einen funktionierenden Plattenspieler.”
Hanitra Wagner: “Vinyl ist tatsächlich die schönste Art, um Musik zu hören. Gehört die Haptik doch irgendwie immer dazu, das Knacken der Nadel auf der ersten Rille und dieses fast zeremonielle Auflegen einer neuen Scheibe. Klar, einen Link am PC anzuklicken, hat auch seinen Reiz, trotzdem ist es doch etwas emotionsärmer, als ließe man eine schöne Platte laufen. Natürlich bringt die große Nachfrage an Vinyl auch Schattenseiten mit sich – in der Herstellung recht teuer, in der Produktion langwierig – die Presswerke kommen da ja fast kaum noch hinterher – es hat eben alles sein Für und Wider.”
Jan Schulte: “Ich habe wirklich in meinem Leben noch nie so viele Eröffnungen von Plattenläden erlebt wie im vergangenen Jahr. Gerade in vielen kleineren und vorher subkulkturell nicht besonders aktiven Städten sind Läden entstanden, die meistens mit der lokalen Clubmusik-Szene verankert sind und oft sogar noch eigene Labels betreiben.”
Beni Brachtel: “Na, wo sind denn dann die ganzen Kohlen, wenn 2015 mehr als in den 90ern verdient worden sein soll. Ich würde eher sagen, Vinyl ist weniger der Hype, sondern das, was an Liebhaberei übriggeblieben ist, von einer Branche, die komplett brach am Boden liegt.”
These 4:
Bis jetzt scheint 2016 ohne das jährlich auftauchende Sub-Genre a la Witch-House oder Future-Hop auszukommen.
Beni Brachtel: “Noch nie was von SIMPSONSWAVE gehört?”
Jan Schulte: “Das kann so stimmen. Anfang 2017 werden dann bald neue Namen für das Breakbeat und Rave Revival kommen, und dann kommt sicher noch Trip-Hop zurück.”
Lukas Foehres: “Stimmt schon. Einzig Sub-Genres wie Soft Rock / Yacht Rock waren häufig präsent, wenn Bands wie Blood Orange, Soft Hair (Connan Mockasin und LA Priest), Drugdealer, Puro Instinct, Vinyl Williams, Wild Beasts, Aldous RH (ehemals Egyptian Hip Hop), Mild High Club , Porches, Wild Beasts, The Radio Dept. , Jaako Eino Kaleevi, Temples oder auch Roosevelt in eine Schublade gesteckt werden mussten. Alles was sich Elemente aus Soul, Psych,70er, Disco Sound zu eigen macht. Von Spar haben dieses Revival 2014 angestoßen oder?”
Hanitra Wagner: “Kann ich nicht wirklich was zu sagen, ist vielleicht auch einfach nicht meine cup of tea.”
These 5:
Die politischen Umwälzungen 2016 in Europa (oder gar der ganzen Welt) haben sich auf musikalischer Ebene dargestellt in Auftritten von Beyonce bis Feine Sahne Fischfilet, in politischen Platten allerorts. 2016 ist also das politischste Musikjahr seit mindestens 2003.
Jan Schulte: “Ich halte jegliches pseudo-“politisch” oder feministisch orientierte Statement von Beyonce für reines Marketing und habe keinerlei politisch oder sozialkritisch motivierte internationale Popmusik wahrgenommen. In Deutschland allerdings war es im letzten Jahr besonders in der Rap Musik enorm angesagt extrem ironisch und sarkastisch auf das aktuelle politische Geschehen und die gesellschaftliche Situation zu reagieren.”
Lukas Foehres: “Unabhängig der Wahlen in den USA, würde es mich wundern, wenn das folgende Jahr das jetzige darin nicht übertrifft.”
Beni Brachtel: “Generell: Musik und Politik haben ein ambivalentes Verhältnis. Oft ist Musik am besten, wenn sie die Antipode zum Weltgeschehen darstellt. Musik kann also auch politisch sein, wenn sie keine politischen Themen behandelt. Daher meine Behauptung: Die Zeit, die man mit intensivem Musikhören verbracht hat, wird einem mit klarkommen im normalen Leben gutgeschrieben.
Ja, Politik in der Kunst ist wieder angekommen, aber ist Kunst deswegen auch gleich wieder Politisch? Beyoncé ist es, und ich finde ihre Herangehensweise absolut konstruktiv. Auf dem internationalen Pop-Bankett mag sie ein gutes Beispiel sein, aber nach wie vor eines der wenigen, auf das sich alle stürzen. Durch den US-Wahlkampf werden natürlich alle irgendwie gezwungen, Stellung zu beziehen. Wünschenswert wäre allerdings, wenn diese Stellung danach auch gehalten würden, wie ein Bernie Sanders seine Stellung auch halten wird.”
Hanitra Wagner: “Ob 2016 tatsächlich das “politischste Jahr seit 2003” ist, kann ich so genau gar nicht sagen. In meinen Augen ist Musik immer irgendwie politisch beziehungsweise kann den Anspruch daran haben, politisch zu sein. 2016 ist viel Schlimmes passiert und die Tatsache, dass MusikerInnen sich dazu positionieren, ist vielleicht dann einfach notwendig. Was sich dieses Jahr so zugetragen hat auf politischer Ebene, aber auch gesellschaftlich und humanitär, ist echt schwer erträglich. Diese furchtbaren Ressentiments, die da immer lauter und sichtbarer werden, Angriffe auf Schutzsuchende und johlende Idioten, während Flüchtlingsunterkünfte brennen; die immer stärker werdenden Rechten Parteien, Typen wie Orban, Putin oder Trump; Ausländerfeindlichkeit, Rassismus, Polizeigewalt gegenüber Dunkelhäutigen in den USA; sexuelle Gewalt gegenüber Frauen, besonders schockierend der Fall in Amerika, wo der Musterschüler letztendlich freigesprochen wurde, “man wolle ihm die Zukunft nicht verbauen” – da möchte man sich Augen und Ohren zutackern. Aber Augenschließen ist irgendwann einfach keine Option mehr. Musik ist immer irgendwie politisch und MusikerInnen, die klar Stellung beziehen, haben durch die Öffentlichkeit, die sie genießen, die Möglichkeit, eine größere Hörerschaft zu erreichen und das anzuprangern, wozu man sich selbst vielleicht lieber nicht allzu laut äußern möchte, die gute alte Bequemlichkeit eben. Sind es in den USA Beyoncé, Kendrick Lamar oder Peaches, sind es in Deutschland Feine Sahne Fischfilet oder auch die Antilopen Gang, die federführend sind. Und dass es so ist und dass es MusikerInnen gibt, die den Mund aufmachen, ist richtig und gut. Eigentlich bräuchte es noch mehr Künstler, die nicht mehr zurückhalten, sondern die Probleme beim Namen nennen. Denn am Ende sind es auch wir, die etwas an der aktuellen Situation ändern können. Amen.”