All diese Gewalt: Ein Klumpen Lehm
Es ist der letzte warme Tag in Berlin, man kann noch mal im T-Shirt raus. Am Wochenende zuvor ist die Welt ein Stückchen wahnsinniger geworden und trotz des schönen Wetters hängt eine merkwürdige Spannung über der Stadt. Also im Grunde ein guter Moment, um mit Max über das neue All Diese Gewalt-Album zu sprechen.
Es gibt nicht viele Musiker:innen hierzulande, die mit 30 bereits einen so umfangreichen Katalog an Arbeiten vorweisen können, dass einem ganz schwindelig wird. Und weil Quantität oftmals einen Verlust an Qualität bedeuten mag, ist es umso erstaunlicher, dass Max Rieger stabil sein Niveau mindestens hält und dabei langsam zu seinem eigenen Trademark wird – seine Produktionen und Projekte tragen in all Ihrer Unterschiedlichkeit unverkennbar seine Handschrift.
Seine musikalische Laufbahn startete der Autodidakt 2010 mit der Gründung von Die Nerven sowie der Wave-Band Die Selektion, die er aber bald wieder verließ, um 2023 zum Album „Zeuge aus Licht“ noch einmal zu ihr zurückzukehren. Neben dem Lärmen im Hauptjob veröffentlicht Rieger nebenbei Black Metal unter dem Pseudonym Obstler und ist Mitglied des Minimal-Electronic-Experimental Trios Jauche. Mit ‘”ALLES IST NUR ÜBERGANG”’ erscheint nun die vierte (bzw. fünfte, wenn man das Remix-Album „Welt In Klammern Addendum“ mitzählt) Veröffentlichung seines Langzeit-Soloprojektes All Diese Gewalt.
Geht es bei Die Nerven oft um Wut, Verzweiflung und Trotz, die man mit Wumms und großem Hallo in Gesicht geklatscht bekommt, wird hier zwar genau so dringlich erzählt, aber der Druck kommt nicht von vorn, er schleicht von hinten ran und nimmt einen in eine kühle, klammernde Umarmung. Die Welt, die Rieger mit All Diese Gewalt aufmacht, ist eine eigene und um sie zu besuchen, sollte man sich Zeit nehmen. Sie ist komplex und direkt und zeichnet Bilder irgendwo zwischen schmutziger Kellerdisco und Penthouse in den Wolken. Auch wenn man den konsequenten Progress der Veröffentlichungen nachverfolgen kann, sind diese zu keinem Punkt ‚Muckeralben‘, die mit ihrem Perfektionismus angeben, obwohl hier jemand am Werk ist, der ganz genau weiß, was er tut. Ein weiteres Merkmal der Größe von Rieger als Produzent und Musiker und somit eigenem Herr im Haus: er könnte das ganze große Faß aufmachen, wenn er wollte, die Mittel, den Status und das Wissen hat er, aber dafür ist er zu schlau.
‚Andere‘, das Album von 2020, dessen Fertigstellung laut Max vier Jahre gedauert hat und ihn aufgrund seines Perfektionismus halb in den Wahnsinn trieb, wollte viel. Mit ‘ALLES IST NUR ÜBERGANG’ kommt nun nicht, wie es eventuell zu erwarten gewesen wäre, die berühmte Schippe Richtung Großraumdisco oder Mainstream-Radio drauf, sondern schlägt den Bogen zurück zur Introspektion von ‚Welt in Klammern‘ und ins Intimere. Über Droneflächen und Ambient-Teppichen hallen Gitarren, flirrn Chöre, es knistert und knarzt, zusammengehalten von fliehenden Keyboard- und Synthiemelodien sowie Max sehr nahem Gesang, mal flüsternd, mal schreiend. Dark-Disco-Hits wie „Erfolgreiche Life“ findet man hier eher nicht, dafür aber expandieren die Songs, bauen aufeinander auf, bis sie krachend implodieren, um sich später strahlend schön aus dem Staub zu schälen.
Max, dein neues Album klingt sehr homogen, in sich geschlossen, konzentrierter als davor noch ‚Andere‘, das sehr songorientiert war und nicht so aus einem Guss wirkte wie dein aktuelles Werk.
“Ein Klumpen Lehm.”
Wie war hier deine Herangehensweise bzw. wie hat sich die Arbeit an ‘ALLES IST NUR ÜBERGANG’ von deinem letzten Album unterschieden, außer dass es nicht wieder vier Jahre gedauert hat?
„Das Album ist diesmal in der Tat relativ schnell entstanden, innerhalb von ca. zwei Monaten. Es ist bei mir meistens so, dass gleich mehrere Songs über einen gewissen Zeitraum entstehen und ich sofort Sachen finde, die zueinander passen und die zueinander gehören – also Song X passt sehr gut zu Song Y und deswegen werden die auch gleich miteinander zu Ende gedacht. Bei ‚Andere’ hat das alles ewig gedauert und ich hab’ da bis zum allerletzten Moment dran gesessen. Selbst einer meiner letzten Gedanken, kurz bevor das Album ins Presswerk ging war „Fuck, ich glaube ich sollte doch noch die A- und die B-Seite tauschen“. Bei ‚Andere‘ sind die Songs nicht so richtig miteinander einrastet, weil es so songlastig war. Jetzt lief es komplett anders, es ist alles sehr natürlich passiert und zu mir gekommen. Ich saß quasi nur daneben, hab dem ganzen zugeguckt und dachte „Ah ja, nett, ich mach da einfach mal mit und versuche dem hier nicht im Weg zu stehen“ und hab‘s raus, und durch mich durchlaufen lassen. Da gab es kein stringentes Konzept oder sowas. Ich hab’s einfach nur zugelassen und beobachtet, was passiert.“
Meines Erachtens zieht sich eine für dich bisher ungewohnte Thematik durch das Album, denn es wird viel mit spirituellen Bildern gearbeitet, wie zum Beispiel im Song „ICH BIN DAS LICHT“ (“Ich bin das Licht / das durch alles spricht / durch Wolken bricht”), „zu Staub werden“ (“100 km über der Erde / Goldene Altäre / 100 km über der Erde / zu staub werden”) oder “Beleuchtete Höhle” (“Ich bin ein Gast auf Erden / Stille will ich werden”). Hattest du dir bewusst dieses Topic rausgepickt?
„Jemand sagte sogar mal „religiös“. Das Wort spirituell gefällt mir in jedem Fall besser, da geh’ ich mit. Ich hatte den Eindruck, die Bildsprache wäre jetzt für dieses Album die richtige, dass es auch mit dem Sound einhergeht, wo alles so ein bisschen in der Schwebe ist. Ich würde jetzt nicht sagen, dass der Tenor explizit spirituell ist oder ich gar religiöse Texte habe, es ist halt ein bisschen ein Stilmittel. Ich hab’ zum Texte schreiben auch zum Beispiel mal ein christliches Gesangbuch zur Hand genommen und nach Worten und Bildern gesucht, die für mich funktionieren könnten.
Bei deiner Platte meine ich einen Kreislauf zu erkennen, eine Geschichte der Suche, der Verzweiflung, des Zusammenbruchs, der Akzeptanz und Versöhnung. Textlich und von der Stimmung her gesehen fand ich die ersten Songs sehr introvertiert, suchend, fragil und teilweise auch ganz schön traurig. Dann kommt in der Mitte das Instrumental “100.000 Tonnen” und ab da hatte ich das Gefühl, dass es jetzt nach oben ans Licht geht, es versöhnlich wird. Man ergibt sich seiner Geschichte sozusagen, der Ton ändert sich, die Stimmung auch.
„Für mich ist der Einschnitt statt bei “100.000 Tonnen” eher nach “Ab AB ab” (“bau es ab ab ab / zieh’ es ab / zieh’ die Kabel / ab die Haut / alles ab”). Das ist für mich das Schlüsselstück, ohne ein Schlüsselstück zu sein. Der Song war am Anfang nur 3 Minuten lang und hatte nur den ersten Teil, jetzt ist er ein Dreiteiler. Nach den ersten Minuten bricht er komplett runter und hat dann noch das 2 Minuten lange Outro. Ab da ist für mich dann in Anführungszeichen die Luft raus. Also, ab da finde ich, gibt es einen ganz krassen Druckabfall, der Zenit ist für mich schon klar bei diesem Song. “So leicht” (“Es war noch nicht so leicht / über Wasser gehen / 5 cm über allem schweben”) gehört da für mich auch noch dazu. Anstelle eines Zyklus war die Idee eher auf ein Momentum zuzusteuern und dieses dann loszulassen. Es wird aber nicht aufgehört, sondern weitergemacht, auch nachdem alles zusammengebrochen ist. So ein Song wie “Ihr seid nicht allein” hätte man vom Tracklisting her danach eigentlich rauswerfen müssen, aber irgendwie gehört der für mich auch noch dazu”.
Stichwort “Ihr seid nicht allein” – das ist ja ein für dich eher ungewöhnlicher Song und wirkt recht persönlich, jedenfalls hatte sowas bisher von dir noch nicht gehört, sowas textlich direktes (“allen grauen Stufen / allen stummen Rufen / allen die noch suchen / ihr seid nicht allein”). Im schlechtesten Fall kann das ja auch cheesy sein, aber ich finde, da hast du ganz gut die Kurve bekommen. Mit diesen ‚Hey, ich bin bei euch, ich weiß wie’s euch geht‘-Messages kann man ja schlimm kitschig oder im worst case anbiedernd wirken. War es schwer für dich, diesen Song in die Welt zu setzen?
„Mich fragte letztens schonmal jemand, ob ich Angst hätte, kitschig zu sein. Ich finde, der Song ist schon recht nah am Kitsch, aber ich hab’ den, als ich ihn geschrieben habe, sehr gefühlt und der ist auch komplett ehrlich gemeint. Also ich will sagen, mir geht sowas nicht leicht über die Lippen und es war auch null geplant sowas zu schreiben. Es fühlte sich halt einfach richtig an.“
Man las, dass du für dieses Album viel mit Samples gearbeitet hast und dafür auf alte klassische Platten zurückgegriffen hast.
„Ja, auf Platten aus Haushaltsauflösungsläden zum Beispiel.“
Als ich es dann das erste Mal gehört hab, war ich recht erstaunt, weil ich was komplett anderes erwartet habe.
„Wie genau meinst du das? Das hab ich jetzt schon ein paar Mal gehört und das finde ich interessant. Könntest du sagen, was du explizit erwartet hast?“
Ich hätte gedacht, dass es eher beatlastig wird und / oder neo-klassisch, schwer zu sagen. Gesampelte Orgeln, Bläser, sowas in die Richtung.
„In diesem Fall waren Samples eher eine Texturfrage. Sie sind zwar überall auf dem Album, ich habe aber kaum musikalische Elemente genutzt, eher Knistern, Stimmen, Grundrauschen. Neulich sagte mal jemand zu mir “Es spukt auf diesem Album”. Dieser Faktor kommt sicherlich durch das Vinyl, weil es schwer ist, mit dem Computer solche Stimmungen herzustellen. Ich hab mir damit so eine kleine Datenbank aufgebaut mit Sounds, die ich einsetzen kann, wenn es mir zu clean wird, wenn ich das Gefühl habe, irgendwas muss stören, es braucht kleine Dissonanzen.“
Apropos spuken – das Cover passt auch sehr gut zur Stimmung des Albums. Man sieht eine fast geisterhafte Erscheinung, es ist nicht ganz klar was es ist, Kind, Geist, Mädchen, Junge, fast durchsichtig und irgendwie geschlechtslos.
„Sieht man nicht, dass ich das bin? Das ist ein Kinderbild von mir! Mein Opa hat das mal gemacht, ich stand vorm Fenster, daher auch das diffuse Gegenlicht. Mein Cousin schickte mir das irgendwann mal per WhatsApp, so, „Lol kuck mal!“, und ich war sofort: „Wow“. Ich hatte das Bild noch nie gesehen und wusste sofort, ich muss das gleich digitalisieren und irgendwann mal benutzen. Ich hab’ dann allerdings noch relativ lange gebraucht um zu checken, dass ich ja grade ein Album mache und dann war klar, ich muss das jetzt als Cover nehmen. Ursprünglich hatte ich ganz andere Ideen und wollte nochmal auf das erste All Diese Gewalt Album Bezug nehmen (‘Kein Punkt wird mehr fixiert’), aber dass mir das Bild jetzt zugeflogen ist, hätte gar nicht besser laufen können. Man kann sagen, die letzten drei Alben stellen jetzt quasi eine Trilogie dar, sprich ‘Welt in Klammern’ mit dem Jungen, ‘Andere’ und jetzt dieses. Für mich sind die drei Alben vom Grunde ein und dasselbe Cover.”
Du hast diese Platte für das Mastering wieder an Ralv Milberg abgegeben wie auch schon die ersten All Diese Gewalt Alben, im Gegensatz zum letzten, wo du alles alleine gemacht hast. Wolltest du eine erneute Überstrapazierung umgehen?
„Ich hatte das Gefühl, Ralv wäre wieder der Richtige. All Diese Gewalt ist ein sehr emotionales oder sagen wir mal persönliches Ding und ich weiß, dass Ralv diese Emotionalität in seine Arbeit miteinbeziehen kann, da wir sehr ähnlich über Musik denken. Bei dieser Platte war es mir außerdem wichtig, jemanden zu haben, der nicht nur auf Technik achtet. Das klingt jetzt vielleicht kitschig, aber mir war es wichtiger, dass da jemand ist, der mit dem Herzen hört und nicht so analytisch ist, sondern den Sound checkt und übersetzen kann. Außerdem wollte ich dieses Mal auch Leerstellen zulassen. Mit dem Material, das ich für ‘Andere’ hatte, war ich nicht so wirklich 100% zufrieden und habe daher ewig daran rumgeschraubt. Das ist vielleicht so’n Anfängerfehler, dass man nicht die Power hat, das ganze einfach loszulassen und zu sagen „Es ist jetzt so wie es ist und so ist es auch gut“. Das war jetzt wiederum super leicht. Ich brauch nicht nochmal 150 unterschiedliche Mixe.“
Du bist ja nicht nur Musiker, sondern u.a. auch begehrter Produzent. Als außenstehende Person kann man schon das Gefühl bekommen, du machst irgendwie immer irgendwas und kommst nie zur Ruhe.
„Es wirkt glaube ich nur nach Außen, dass ich so viel um die Ohren habe, es gibt immer wieder einige Inseln des Nichtstuns. Dazu muss ich auch sagen, dass ich das Album schon vor zwei Jahren gemacht habe, meine Sachen liegen also auch gerne mal länger etwas rum. Daher kann es halt so wirken, als ob ich viel gleichzeitig mache, wenn dann mehrere Projekte, an denen ich beteiligt war, zeitnah erscheinen, aber normalerweise läuft eher alles so block-mäßig. Wenn ich was Neues beginne, bin ich aus dem Alten gedanklich komplett raus und recht gut darin, komplett ins Neue reinzugehen. Und als ich dieses Album gemacht habe, hab’ ich auch wirklich nur das Album gemacht – das muss kurz nach der Produktion von Casper gewesen sein.“
Schon früh begann Max befreundete Bands zu mixen oder zu produzieren und autodidaktisch seinen Klang zu entwickeln und zurechtzufeilen. Begannen die Produktionen mit kleineren Gruppen aus dem Freundeskreis und waren eher postpunkig bis noisig (u.a. Friends of Gas, Karies) arbeitete Rieger recht schnell schon mit Feuilletonlieblingen wie Stella Sommer oder Jungstötter zusammen und kann seine Bio inzwischen sogar mit großen Nummern wie Casper schmücken, dessen Album ‘Alles war schön und nichts tat weh’ auf Platz 1 der deutschen Charts landete. Da kann man sich doch sicherlich auch mal die Frage stellen “Will ich das alles noch?” Also Instrumente durch die Gegend schleppen, im Van hocken, wenig schlafen, viel schwitzen. Kommt da nicht mal der Gedanke, sich komplett hinters Mischpult zurückzuziehen?
„Den Moment hatte ich in der Tat schon, 2020/2021. Ich hatte das extreme Glück, als alles wegen Corona zusammenbrach, dass ich mit der Casper-Produktion den bisher größten Job meines Lebens hatte, was mich komplett durch diese Zeit durchgetragen hat und ich ein relativ geregeltes Leben führen konnte. Also tagsüber ins Studio und abends nach Hause und hab’ mich nach Feierabend dann auch gar nicht weiter mit Musik beschäftigt. Zu der Zeit hab mich dann schon gefragt, ob ich mir das wirklich noch weiter antun will, live unterwegs sein, ob ich wirklich noch den Schmerz brauche, Lieder zu schreiben oder ob ich nicht langsam zu alt für das alles bin. Doch dann gab es diese zwei All Diese Gewalt-Konzerte bei der PopKultur Berlin (Anm.: hierzu später mehr), was mich vollkommen aus meiner Komfortzone rausgeholt hat und ich dann schnell wieder gemerkt habe, dass ich das schon auch brauche, dieses Extrem. Ich bin dann wohl doch mehr Künstler als ich es mir oftmals eingestehen will. Wenn du mich fragst, ob ich eher Musiker oder Produzent bin oder in welche Richtung ich mich künftig bewege, kann ich nur sagen: Ich sehe mich einfach als Künstler. Diese Entscheidung war für mich auch eine komplett bewusste, da es nach dem Casper-Album durchaus die Möglichkeit gab, in dieser Schiene als Produzent zu bleiben oder in einen Bereich zu wechseln, wo es um Jobs geht, in denen man wirklich auch mal was verdienen kann. Diese Tür stand halt offen, aber dann merkte ich doch, dass das eigentlich nicht das ist, was ich mir schlussendlich für mich vorstelle. Das wäre in jedem Fall total safe gewesen. Aber wenn es mir nur um Sicherheit ginge, dann könnte ich auch gleich was ganz anderes als Musik machen.“
Hast du seit dem Erfolg mit Casper auch mal weirde Anfragen zum Produzieren bekommen? Jemand wo du dachtest, ‚OK cool, aber nein danke‘?
„Interessanterweise eigentlich gar nicht. Ich bekomme eigentlich nie so größere Business-Anfragen. Ich hab andersrum aber auch niemanden, mit dem ich total gerne mal zusammenarbeiten möchte, da bin ich leider etwas phantasielos.“
Du bist ja bekennender Swans-Fan – wie kam denn diese Zusammenarbeit zustande? Da bist du ja etwas unter dem Radar geflogen, hatte ich das Gefühl.
„Bei den Swans war ich einfach Assistent als die ihr Album aufgenommen haben. Das habe ich mir so ein bisschen geleistet um da mal Einblick in den klassischen Studioalltag aus anderer Perspektive zu kriegen. Die Band nahm zuvor mal im gleichen Studio auf, wo wir auch mit den Nerven zum letzten Album waren und ich meinte zum Besitzer des Studios „Wenn die Swans nochmal wiederkommen sollten, sag mir mal bitte Bescheid, da würde ich gerne Assistenz machen.“ Durfte ich dann auch, komplett ohne Bezahlung, und hab echt nur den letzten HiWi gemacht, so jeden Tag runter zur Markthalle und für alle Fischbrötchen holen, einmal wieder komplett unten anfangen mit so richtigen Opfer-Jobs. Aber das war gut für mich, weil ich das Studioleben so nie kennengelernt hab, da ich immer als Künstler eingestiegen bin und das Studio eher von oben kenne, also als jemand der Entscheidungen trifft und Leute delegiert. Und da war’s so: okay, ich bin halt irgendwie der Praktikant und alle machen mit mir was sie wollen. Das war insofern schon interessant.“
Was befriedigt dich als Künstler am meisten? Deine Soloprojekte, deine Band, das Produzieren? Wenn es hart auf hart käme, könntest du dich in letzter Instanz für etwas entscheiden?
„Ich würde mich ungern für eine Sache entscheiden wollen, das eine geht nicht ohne das andere. Intensive Studioarbeit geht nur weil intensives Touren und das geht wiederum nur weil intensives Zuhause sitzen und einfach nachdenken und das geht auch nur mit Spazieren gehen und Texte schreiben. Es muss sich alles die Waage halten. Mein ganzes Leben mit den Nerven auf Tour zu gehen: Bitte nicht! Mein ganzes Leben nur im Studio zu sitzen: Bitte nicht! Mein ganzes Leben nur All Diese Gewalt-Platten machen: Bitte nicht! Wie sagt man? Die Abwechslung macht’s.”
Eine Besonderheit, die All Diese Gewalt von Max’ Hauptband unterscheidet, dürfte die Abstinenz von Bühnen sein. Drehen Die Nerven gerne mal 3 Runden zu einer Platte durch die Clubs, gibt es seit Jahren keine All Diese Gewalt-Shows mehr. Ausnahme waren in jüngerer Vergangenheit zwei Auftritte 2021 bei der PopKultur Berlin im Rahmen einer Comissioned Work. Die beiden Auftritte fanden bestuhlt zu Corona-Zeiten statt und ich erinnere mich noch, wie es mich weggepustet hat und wie befreiend es sich anfühlte, endlich wieder gescheiten Lärm von einer Bühne zu hören. Nachts schrieb ich einem Freund noch eine Nachricht: „All Diese Gewalt waren GOTTGLEICH!“, es gab also was zu erleben. Daher die Frage: Warum keine Auftritte mehr? Keine Lust? Keine Zeit? Oder hapert es schlicht an der Umsetzung? Ich nehme an, als gut eingeschliffenes Rock-Trio unterwegs zu sein, ist etwas einfacher als ein komplexes Soloprojekt auf die Bühne zu bringen.
„Absolut. Der Aufwand ist zeitlich und finanziell zu krass – ganz simpel. Diese Popkultur-Sache war eine Ausnahme, weil das Festival halt ganz andere Gelder hat und es sich so lohnte, sich mit 5 Leuten fast 1 Monat lang vorzubereiten, sowas geht normalerweise nicht. Ein bisschen stresst mich aber auch der Gedanke, mit All Diese Gewalt zu touren. Licht ist zum Beispiel auch ein großer Faktor, um den man sich Gedanken machen muss oder könnte. Überhaupt das ganze Bühnen Set Up und wie man das ganze technisch angeht. Mich damit zu beschäftigen, stresst mich ungemein. Ich find’s übelst anstrengend, alleine darüber nachzudenken. Und dann fährt man nach fucking Bad Salzufflen und spielt dort vor 7 Leuten. Wir waren 2016 / 2017 ja mit All Diese Gewalt auf Tour und da gab’s ein legendäres Konzert in Österreich, wo Null Leute da waren. Null – das hab’ ich also auch einmal geschafft. Ich würde gerne, wenn ich All Diese Gewalt auf die Bühne bringe, etwas Besonderes draus machen. Und was besonders draus machen bedeutet halt: Es kostet Zeit und Geld und momentan gibt es niemanden, der mir dieses Geld geben kann – fair enough, aber dann mach ich’s auch nicht. Dafür ist mir das Risiko dann doch zu groß. Und dies alleine auf die Bühne stellen und meine Songs da zum Halbplayback performen: No fucking way. Also wirklich, auf gar keinen Fall.“
Nochmal zurück zu deiner neuen Platte: Würdest du die Arbeit an „Alles ist nur Übergang“ befreiender als bei den Alben davor bezeichnen? Ich habe das Gefühl, du gehst hier schon back to the roots und schließt Kreise zu deinen älteren Alben. Es wirkt alles sehr transparent und nicht so krass, blödes Wort vielleicht, konstruiert.
„Ganz klares Ja. Vor ‚Andere‘ gabs ja ‚Welt in Klammern‘ und ich hab’ rückblickend den Eindruck, dass ich mir da noch gar keine Gedanken darüber gemacht habe, was ich da tue oder über irgendwelche Prozesse, was sehr befreiend ist. Ich war da auch noch viel jünger, das Album ist immerhin fast 10 Jahre alt – was da passiert ist, entstand ganz natürlich und das war etwas, wonach ich mich hin zurück gesehnt hatte, nachdem ‚Andere‘ so sehr durchdacht war. Dinge einfach wieder passieren lassen. Daher schließt sich für mich da jetzt auch etwas der Kreis zum Anfang von unserem Gespräch. Dass der Prozess hier ein anderer war, ich wieder einen Schritt zurück gegangen bin, weg von ‚Andere‘ und es so für mich – Achtung, überstrapaziertes Wort! – authentisch ist. Man muss nicht alles immer zu Tode editieren, nur weil man die Mittel dazu hat und das Wissen, diese Mittel anzuwenden.
Du hast mal glaube ich irgendwann um ‘Welt In Klammern’ herum gesagt, dass du noch um die 200 Songideen rumfliegen hast. Gibt es hier auch wieder so viel Überschuss?
„Nee, das hat sich gewandelt. Ich muss nicht mehr jede Idee, die ich musikalisch habe, für All Diese Gewalt benutzen. Es gibt bei diesem Album gar kein Ausschussmaterial. Das heißt, doch, es gibt einen Song, an dem hab ich am Ende ziemlich viel gearbeitet, den hatte ich durch Zufall wiederentdeckt. Der Track hat zwar ne übelst geile Hook, aber kam nie richtig zusammen, da es keinen Vers gab und sowas, somit aus dem ist leider nie was geworden. Der Song war dann auch der ausschlaggebende Punkt, an dem ich mir eingestehen musste: Nee, das wird nix mehr. Da hat es sich ankündigt, dass ich da wieder ewig dran rumdokter und dann nee – raus damit und vorbei. Also nein, kein Ausschussmaterial.“
Wie ist das, wenn ihr was mit den Nerven erprobt und ‚scratched‘ – gibt es da Sachen, wo du denkst: super, könnte ich für mich benutzen oder andersrum?
„Nein, dafür ist die Arbeitsweise zu unterschiedlich. Die Art, wie Die Nerven-Songs entstehen, ist einfach eine komplett andere als für All Diese Gewalt. Deswegen ist das auch gar nicht interchangable. Bei Texten ist das ein bisschen was anderes, da ist es schon mehrfach vorgekommen, dass ich einen angedachten All Diese Gewalt-Text für die Nerven benutzt habe und umgekehrt, da es für mich etwas schwieriger ist die auseinanderzuhalten, aber nee – das sind zwei verschiedene Häuser.“
Nun steht der Herbst vor der Tür, die T-Shirts bleiben im Schrank, Pullover kommen raus. Der Mensch sucht nach Wärme und Max hat erneut die perfekte Platte für die schummrigen, kühlen Tage herausgebracht. Ein funkelndes, zeitloses Dokument der Suche, dem Finden, der Liebe und dem Fallen, welches man mit all seiner Tiefe, Feinheit und Ideenreichtum gerade hierzulande selten findet. Er zeigt, man kann hadern, zweifeln und vorsichtig auch mal dem Pathos die Hand reichen, ohne eine Sekunde lang gewollt zu klingen oder austauschbar, sondern fragil, grandios, bei aller Intensität leichtfüssig und, in der Tat, gewaltig.
“ALLES IST NUR ÜBERGANG” erschien am 10.11.2023 auf Glitterhouse Records / Indigo