Chris Frantz: “Ich fühle mich nicht als Opfer”
Wenn es in den frühen Achtzigern einer Band gelang, Hippies und Punks zu vereinen, waren es die Talking Heads aus New York City. Auf Songs wie „Psycho Killer“ oder „Once In A Lifetime“ fuhren Kurz- wie Langhaarträger:innen gleichermaßen ab. Diese Musik klang komplett neu und ungewöhnlich, wie nichts zuvor.
Obwohl Talking Heads zu den Bands gehörten, die das legendäre CBGB auf der Bowery erst zu dem Punk-Club schlechthin machten, hatte ihr Sound nichts mit den Ramones oder Dictators gemein, schon eher mit Television, der Band von Tom Verlaine, die ebenfalls etwas komplexer zugange waren. Auch der Look der Band entsprach nicht dem Punk-Style: Gekleidet in meist von Chris Frantz’ Mutter gekauften Brooks-Brothers- und Lacoste-Shirts waren die Talking Heads Vorreiter des Normcore, lange bevor es diesen Begriff gab. Die Klamotten waren im Grunde auch egal, denn mit David Byrne hatten Talking Heads einen so exaltierten wie rätselhaften Frontman, dessen merkwürdiger Bewegungs- und Vortragsstil alle Aufmerksamkeit auf sich zog.
Die Fixierung auf Byrne führte häufig dazu, dass die drei anderen Bandmitglieder – Chris Frantz, Tina Weymouth, Jerry Harrison – lediglich als seine Begleitmusiker:innen gesehen wurden, was natürlich nicht stimmt. Maßgeblich für den einzigartigen Sound von Talking Heads war die rhythm section aus Frantz’ Schlagzeugspiel und Tina Weymouth’ markantem Bass – die sich emanzipierte, als Frantz und Weymouth 1980 mit dem Tom Tom Club ein „Nebenprojekt“ ins Leben riefen, das nicht nur enorme Charterfolge feiern konnte, sondern mit „Genius of Love“ und „Wordy Rappinghood“ mindestens zwei Stücke für die Ewigkeit schuf. Die unverkennbare Anfangssequenz von „Genius of Love“ (di-dip, dip-di-di-dip) wurde von Grandmaster Flash & The Furious Five, Mariah Carey und vielen anderen gesamplet, und sogar David Byrne, der selten ein Wort des Lobes für seine Kolleg:innen übrig hatte, bekannte, dass er selbst gern auf diese Idee gekommen wäre.
Warum erzählen wir das alles?
Weil im Sommer „Remain in Love“ (anspielend auf das Talking Heads-Album „Remain in Light“ herauskam, Chris Frantz’ autobiographisches Buch über die drei wichtigen „T“ in seinem Leben: „Talking Heads – Tom Tom Club – Tina“ lautet der Untertitel des Werks, das mit der Schilderung einer behüteten Kindheit in Kentucky zwar recht konventionell beginnt, aber rasch in Richtung Pop-Legendenbildung abbiegt. Frantz erzählt die Geschichte der Talking Heads aus seiner Sicht, in der David Byrne nicht immer gut aussieht. Es ist aber nicht sein vornehmliches Anliegen, andere zu schmähen – vielmehr möchte er die öffentliche Wahrnehmung ein wenig zurechtrücken, den drei Talking Heads neben Byrne die verdiente Aufmerksamkeit verschaffen.
Frantz ist ein großartiger Erzähler: seine Schilderungen der gemeinsamen Europa-Tournee mit den Ramones, der Zusammenarbeit mit Brian Eno oder die Stories rund um die Compass Point Studios in Nassau, Bahamas, wo Talking Heads einige Alben aufnahmen, sind Highlights der Pop-Geschichtsschreibung. Und nicht zuletzt rührt seine unvermindert große Liebe zu Tina Weymouth, mit der er seit 1976 verheiratet ist: „Oh, how I adore her!“, bricht es mitten im Text aus ihm heraus – mit den Worten „I remain in love“ endet das Buch.
Kaput telefonierte mit Chris Frantz einige Tage nach der US-Präsidentschaftswahl, Joe Biden stand bereits als Gewinner fest. Frantz ist gelöster Stimmung, im Hintergrund hört man Tina Weymouth die Beagle-Hündinnen Poppy und Kiki füttern, die Facebook-Freund:innen von Frantz schon aus dem Internet kennen.
Wie geht es Ihnen, zwei Tage nach der Wahl in den USA?
Chris Frantz: Oh, ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie aufgeregt wir waren – und wie erleichtert jetzt. Wissen Sie, in den letzten Jahren waren wir (er meint Familie und Freunde, Anm. cm) so sehr unter Stress, ich habe mich manchmal gefühlt, als müsste ich zusammenbrechen. Die Frage ist ja auch, warum doch so viele Menschen für Trump stimmen, das sollte man nicht unter den Tisch kehren. Aber das liegt an Fox News, wenn man nur diesen Sender schaut, bekommt man nie das komplette Bild serviert. Doch wir sind zuversichtlich: Schon allein durch seine ersten beiden Reden hat Joe Biden gezeigt, dass nun ein anderer Ton herrscht. Er steht für Vernunft, er will jemand sein, der sich kümmert.
Das hoffen wir hierzulande auch! Kommen wir zu Ihrem Buch, „Remain in Love“: Seit wann hatten Sie geplant, eine Biografie zu schreiben?
Vor ungefähr zehn Jahren begann ich darüber nachzudenken, habe mich aber nicht weiter mit dem Schreiben befasst. Als ich 67 wurde (vor knapp drei Jahren, Anm. CM), dachte ich, dass es nun an der Zeit sei: Dass ich besser selbst meine Erinnerungen aufschreibe, bevor es jemand anderes tut, haha!
Ich trat mit Sloane Harris in Kontakt, der ein sehr guter Literaturagent bei ICM in New York ist. Er sagte, dass das Timing sehr gut sei, ich solle drei Kapitel schreiben, die er mit zur Londoner Buchmesse nehmen würde, um sie Verlagen anzubieten – er kam zurück mit zwei Deals, einen für die USA, einen für Großbritannien. Interessiert waren immerhin fünf Verlage, das hat mich sehr gefreut.
Es ist wirklich erstaunlich, wie genau Sie sich erinnern – die Namen von so vielen Studienfreund:innen, Musiker:innen, die verschiedenen Orte und Termine… haben Sie all die Jahre Tagebuch geschrieben?
Ich habe nie Tagebuch geführt – ich bin mit einem sehr guten Gedächtnis gesegnet, das mir erlaubt, aus meinen Erinnerungen zu schöpfen (CF verwendet den Begriff „stew in my own juices“, Anm. CM). Während der Arbeit an „Remain in Love“ musste ich allerdings feststellen, dass es nicht allen Leuten so geht: Ich rief zum Beispiel den Studienfreund an, der mich seinerzeit mit David Byrne bekannt machte – er wusste überhaupt nicht, wovon ich spreche!
Aber natürlich hatte ich nicht mehr alle Daten parat, zum Glück konnte ich Tina zu Rate ziehen: Sie war die Tourmanagerin der Talking Heads, und hat in dieser Funktion nicht nur nach den Shows das Geld eingesammelt, sondern auch alle Belege und Flyer aufgehoben. Das war sehr hilfreich für mich, vor allem, um die Tourdaten der Jahre 1977/’78 nachzuvollziehen. Es war mir schon sehr wichtig, dass alles korrekt ist. Nur bei einer Sache habe ich mich vertan…
… ich weiß, was Sie meinen: Sie schreiben, dass Sie 1977 in einer Londoner Bar von Damon Albarn bedient wurden. Das kann aber nicht sein: Albarn ist mein Jahrgang und hat ’77 bestimmt noch keine alkoholischen Getränke an Bands ausgeschenkt.
Oh, Sie haben aber genau gelesen! Ja, um diese Stelle geht es – ich habe mich glatt um zehn Jahre vertan, haha! Aber 1987 war es dann tatsächlich Damon Albarn, der den Talking Heads in London Cocktails servierte und mir davon erzählte, dass er auch eine Band habe. Das muss ich in einer der nächsten Auflagen natürlich korrigieren!
Ich habe Tränen gelacht über das Kapitel, in dem Sie die gemeinsame Europa-Tournee der Talking Heads mit den Ramones anno 1977 beschreiben…
Oh je, Johnny Ramone war so ein garstiger Typ! Er schimpfte die ganze Zeit, und wollte allen verbieten, wegen ein „paar alter Steine“ (zum Beispiel Stonehenge) aus dem Tourbus zu steigen. Wir Talking Heads interessierten uns sehr für Geschichte und waren von den französischen und englischen Schlössern total begeistert – nichts für Johnny! Er verhielt sich auch Tina gegenüber total unhöflich, es war wirklich schwierig mit ihm. Man soll ja nicht schlecht über die Toten reden, aber er wurde erst nach einer schweren Operation etwas netter. Zu den anderen Ramones hatten wir aber ein sehr gutes Verhältnis!
Hatten Sie das Bedürfnis, die Bedeutung von Tina Weymouth, Jerry Harrison und Ihnen selbst für die Talking Heads zu rehabilitieren? Für viele sind Talking Heads die Band von David Byrne.
Ja, das hatte ich in der Tat. Mir war klar, wenn ich es nicht tun würde, würde es niemand tun – und ganz bestimmt nicht David oder Brian Eno (*lacht). Es gab einiges zu erzählen – und es handelt sich bei meinem Buch ja schließlich um ein „memoir“, also wie ich mich an die Dinge erinnere.
Stehen Sie und Tina mit David Byrne in Kontakt?
Nur auf geschäftlicher Basis: Wir kommunizieren per E-Mail, wenn Lizenzierungen unserer Songs zu klären sind und solche Dinge. Talking Heads-Songs werden oft für Soundtracks und Werbung angefragt, darüber verhandeln wir. Einen privaten Austausch gibt es nicht, dafür ist der Graben einfach zu tief. Ich weiß, dass unsere Fans auf eine Reunion der Talking Heads warten – wir müssten noch nicht mal neue Songs schreiben, das würde ein Selbstläufer! Aber es wird nicht passieren.
Ich bin allerdings immer wieder erstaunt, wenn ich von Davids Aktivitäten lese oder höre: Hätten Sie gedacht, dass David Byrne mal ein Broadway-Musical machen wird? (er meint „American Utopia“, Anm. CM). Wissen Sie, zwischen uns und David bestand eine wundervolle musikalische Verbindung, immerhin haben wir gemeinsam acht Alben in elf Jahren zustande gebracht, es muss also funktioniert haben! Aber ich bin ein Teamplayer, der gerne mit anderen zusammenarbeitet – so ist David nicht. Er will kein gang member sein, er ist ganz bewusst Außenseiter. Es gibt ein Buch von Colin Wilson aus den 1950er Jahren namens „The Outsider“. Darin schreibt Wilson über Künstler wie Van Gogh und den Tänzer Vaslav Nijinsky, die in dem was sie tun, außerordentlich brillant sind – aber sie wollen (oder können) nichts mit der „normalen Welt“ zu tun haben. So ist David auch, und das war mir natürlich schon an der Kunsthochschule aufgefallen. Aber ich wusste auch, dass wir zusammen außergewöhnliche Dinge schaffen können.
Sie haben immerhin in zwei der einflussreichsten Bands der 1970er und 1980er Jahre gespielt…
Ja, und mir ist durchaus bewusst, dass wir Musikgeschichte geschrieben haben. Darauf bin ich stolz – und verstehen Sie mich nicht falsch: Ich fühle mich nicht als Opfer. Ich habe ein gutes Leben!
Übrigens hatten Tina und ich Anfang des Jahres begonnen, mit dem Tom Tom Club zu proben – es sollte im Frühjahr eine Tour geben, aber Sie wissen ja, was dann passierte…
Auch mit „Remain in Love“ wollte ich auch auf Booktour gehen, aber natürlich wurden alle Termine abgesagt. In dieser Woche (am 12.11., Anm. cm) wird es im Rahmen der online stattfindenden Texas Bookfair ein Live-Gespräch mit mir und Kathy Valentine von den Go Go’s geben, die in diesem Jahr auch ihre Autobiographie („All I Ever Wanted“, Texas University Press) veröffentlicht hat.
Haben Sie und Tina jemals überlegt, auf die Bahamas zu ziehen? Die Compass-Point-Studios in Nassau sind im Buch ja sehr präsent.
Nein – außer Segeln und Trinken kann man dort nicht viel tun, haha! Das ist für ein paar Wochen im Jahr sehr schön, und Tina und ich nutzen die Gelegenheit für einen Urlaub so oft wie möglich, aber immer dort leben könnte ich nicht. Die Compass Point Studios existieren leider nicht mehr, ich glaube, in dem Gebäude befindet sich jetzt eine Werbeagentur.
Aus Ihrem Buch habe ich gelernt, dass Tina Weymouth’ Bruder Yann die Glaspyramide des Pariser Louvre entworfen hat.
Yann und Tina sind ganz klar die kreativsten der Weymouth-Geschwister – die anderen (es sind insgesamt sieben, Anm. CM) haben zwar auch einen Draht zur Kunst, würden sich aber niemals einer Sache so hingeben wie Tina und Yann.
Sie haben die Talking Heads schon auf der Hochschule (Rhode Island School of Design) gegründet und sind mit Tina und David nach New York gezogen, um berühmt zu werden – hatten Sie jemals einen Plan B, falls es mit der Musikkarriere nichts würde?
Nein. Es gab keinen Plan B – ich hatte immer den Traum von einer Band, und der hat sich glücklicherweise erfüllt.
In Ihrem Buch gibt es kaum Hinweise auf die Zeit nach dem Ende der Talking Heads – warum schreiben Sie nicht über Shrunken Heads (Harrison, Frantz und Weymouth) oder das Projekt The Heads, das immerhin ein Album mit Gastsänger:innen wie Debbie Harry und Michael Hutchence herausbrachte? („No Talking Just Head“, 1996, Clubhouse Music)
Tja, weil es nicht so viel Spaß gemacht hat wie mit Talking Heads und Tom Tom Club. Wir wollten 1996/97 mit The Heads sogar auf Tournee gehen, mit Johnette Napolitano (Bassistin und Sängerin von Concrete Blonde) als Hauptsängerin. Denn die Aufnahmen waren super gelaufen, auch der Videodreh. Leider stellte sich heraus, dass Johnette an schweren psychischen Störungen litt, sie wurde mit Schizophrenie diagnostiziert – es war mit ihr noch viel komplizierter als mit David!
Aber Spaß beiseite, ich will mich nicht über Johnette lustig machen. Es war für alle sehr schwer, und wir begruben unsere Pläne, auf Tour zu gehen oder weitere Platten aufzunehmen. Wussten Sie, dass Michael Hutchences Beitrag seine letzte Aufnahme überhaupt ist? (Hutchence schrieb die Lyrics zum Song „The King is Gone“ und sang das Stück auch, Anm. CM) Aber Sie haben Recht, ich werde für die nächste Auflage ein Kapitel über Shrunken Heads und The Heads ergänzen. Ich kenne zwar die genauen Verkaufszahlen von „Remain in Love“ nicht, aber es ist eine Paperback-Ausgabe geplant.
Sie schreiben sehr offen über Ihre Kokainsucht…
Ach wissen Sie, es waren die Siebziger und Achtziger Jahre, alle haben Drogen genommen… naja, nicht wirklich alle, Tina und ihre Schwestern waren immer sehr zurückhaltend in dieser Hinsicht. Ich wollte zwar nicht, dass mein Buch eine Biografie im Motley-Crüe-Style wird, aber ich konnte das Drogenthema auch nicht rauslassen. Tina hat mir damals sehr geholfen, beziehungsweise die Pistole auf die Brust gesetzt: Wenn ich nicht aufhören würde, Kokain zu nehmen, wäre unsere Beziehung beendet. Das war’s dann für mich.
Sie und Tina scheinen die langlebigste Ehe im Popgeschäft überhaupt zu führen, oder?
Little Steven (Steven Van Zandt, berühmter Gitarrist aus Bruce Springsteens E-Street-Band, Anm. CM) und seine Frau Maureen haben am selben Tag geheiratet wie Tina und ich – und sie sind auch immer noch verheiratet. War offensichtlich ein guter Tag damals!
Haben Sie Tina eigentlich um Erlaubnis gebeten, über ihr gemeinsames Privatleben zu schreiben?
Während des Schreibprozesses hat sie nichts gesehen – ich habe ihr das Buch erst zu lesen gegeben, als es fertig war. Sie hatte ein paar Hinweise hier und da, und half mir beim Korrigieren und Editieren. Sie schreibt übrigens an einem eigenen Buch, das wird sehr interessant! In meinem Buch habe ich ja manche Dinge nur gestreift, wie zum Beispiel den teilweise empörenden Sexismus, der Tina von Anfang an entgegenschlug.
Tina Weymouth hat einen runden Geburtstag vor sich (am 22.11.) – werden Sie etwas vorbereiten?
Ich backe besser nicht selbst… ich bestelle eine schöne große Mokka-Torte für sie, das ist ihr Lieblingskuchen!
Chris Frantz
“Remain in Love. Talking Heads – Tom Tom Club – Tina”
ISBN: 978-1-4746-1713-0
www.whiterabbitbooks.co.uk