Interview mit Axel Ganz – Georgien

„Der TÜV Rheinland würde einen Herzanfall bekommen”

Axel Ganz und Heike Kurth in ihrem Haus in Telavi (Foto: Axel Ganz/Heike Kurth)


Der Düsseldorfer Musiker Axel Ganz lebt seit drei Jahren in Georgien. Obwohl er die Sprache nur in Ansätzen beherrscht, ist er in der Zeit tief in das kaukasische Land eingetaucht.  Im Interview mit Alexandra Wehrmann erzählt er über Konsonanten-Verklumpungen, die Situation von Minderheiten im Land und die lebendige Club-Szene in der Hauptstadt Tbilissi (Tiflis).

 

Axel, du lebst seit drei Jahren in Georgien. Wie erlebst du das Land?

Axel Glanz: In Georgien ist alles eher improvisiert, geflickt, rostig. Man sieht irgendwelche rostigen Gaszähler und Rohre und denkt: „Wenn das der TÜV Rheinland sehen würde, die würden einen Herzanfall bekommen.“ Die Straßen haben keine Gehwege. Manche sind noch nicht einmal asphaltiert. Tbilissi (Tiflis) ist eine europäisch-asiatische Metropole, die ungefähr so viele Einwohner hat wie München. Anderthalb Millionen. Alle anderen Städte sind wesentlich kleiner. Es gibt im ganzen Land gerade mal drei, die mehr als 100.000 Einwohner haben. Das war’s. Insgesamt leben vier Millionen Menschen in Georgien. Insofern ist alles ein bisschen kleiner als in Deutschland.

Was hat dich nach Georgien verschlagen?

Meine Frau Heike und ich, wir hatten beide schon immer eine Affinität zum Osten. Ich war 2014 in Kamtschatka, das war meine erste Russland-Reise. Ich wollte am Ende Asiens Vulkane erwandern. Heike ist in der DDR sozialisiert und hat von daher einen anderen Blick auf die Dinge. 2018 waren sie in Kirgistan – und kam begeistert zurück. Zu der Zeit entstand die Idee, dass wir zusammen ins Ausland gehen. Heike ist Lehrerin und hat sich dann auf eine Auslandsstelle beworben. Bei der Bewerbung konnte man mehrere Länder angeben, in denen man gerne arbeiten möchte. Wir haben damals Russland angegeben, Kirgistan, Mongolei, Armenien und eben – Georgien. Letzteres ist es dann geworden.

Sulkhanishvili-Straße in Telavi, auf der Axel Ganz und Heike Kurth wohnen, mit Blick auf den Kaukasus (Foto: Axel Ganz)


Was wusstest du über das Land?

Ich hatte mir vor zehn Jahren mal ein Buch über georgische Klöster im Antiquariat gekauft. Davon abgesehen: wenig, eigentlich nichts.

Wo wohnt ihr in Georgien?

Wir wohnen in Telavi. Das liegt ungefähr 80 Kilometer östlich von Tbilissi. Die Entfernung fühlt sich allerdings viel größer an, weil wir über ein Mittelgebirge, über einen Pass fahren müssen. Mit dem Auto braucht man für die Strecke ungefähr zweieinhalb Stunden. Telavi ist die Landeshauptstadt der Region Kachetien. Es hat aber nur 18.000 Einwohner. Kachetien ist die Weingegend schlechthin in Georgien. Da sind die Georgier sehr stolz drauf. Sie sagen von sich, dass sie das älteste Weinanbaugebiet der Welt seien. Angeblich wird dort schon seit 7000 Jahren Wein angebaut. Der Wein wird in Tonkrügen gekeltert, den sogenannten Kwewris, die in die Erde eingelassen werden. Es gibt überall Weingüter. Und es gibt ganz viele unterschiedliche Rebsorten, weit über 100. Wein ist auch ein wichtiger Wirtschaftszweig.

Blick vom Abano-Pass (2862 Meter) nach Tuschetien (Foto: Axel Ganz)

Wie muss man sich Telavi vorstellen?

Telavi ist auf jeden Fall Provinz. Es ist schon ein großer Unterschied, ob man dort lebt oder in Tbilissi. In Tbilissi gibt es natürlich eine ganze Reihe von Ausländern. Auch Deutsche. Auch Kollegen von Heike. Das ist in Telavi anders. Dort ist kulturell zum Beispiel auch sehr wenig los. Das war für uns anfangs ungewohnt, wir waren ja, bis wir dorthin kamen, nur städtisches Leben gewohnt. Die Provinz hat aber durchaus auch ihre Vorzüge. Wir haben das Glück gehabt, dass wir relativ günstig ein Haus anmieten konnten, mit eigenem Garten, mit eigenem Brunnen. Wir haben uns Hühner angeschafft, eine Katze und pflegen seitdem eine Art Landleben. Das wollten wir immer schon mal machen.

Wie gut sprichst du mittlerweile Georgisch?

Ich kann leidlich auf Georgisch einkaufen, kann ungefähr zum Ausdruck bringen, was ich haben möchte. Aber verstehen kann ich so gut wie nichts. Wir hätten eigentlich in den drei Jahren, die wir mittlerweile in Telavi sind, schon mehr lernen müssen, aber Georgisch ist eine schwere Sprache. Sie gehört zu den kaukasischen Sprachen und hat nichts mit slawischen Sprachen zu tun. Für uns klingt Georgisch sehr fremd, man kann keine Wörter ableiten. Abgesehen von einigen modernen Wörtern wie Interneti zum Beispiel. Oder Schlagbaumi. Meine Frau hat mir mal erzählt, dass sich die Polen und die Georgier darüber streiten, welche Sprache die längsten Konsonanten-Verklumpungen hat. In manchen Worten folgen fünf, sechs Konsonanten aufeinander. Georgisch ist eine von weltweit 23 Sprachen mit einem eigenen Alphabet. Und die Georgier sind unheimlich stolz auf ihre Sprache. Genauso wie sie stolz auf ihren Wein sind. Und auf ihre Literatur.

Typische Häuser in der Kleinstadt Gombori, zwischen Tbilissi nach Telavi, (Foto: Axel Ganz)

Wie stabil ist die politische Situation in Georgien derzeit?

Die Lage ist sehr kompliziert – das war sie auch schon vor dem Krieg. Georgien war eine der ersten Sowjetrepubliken, die bereits während des Zerfalls der Sowjetunion begonnen haben, sich abzunabeln. Im Kaukasus gab es traditionell sehr starke Freiheitsbestrebungen bei den meisten Ethnien, die damals zur Sowjetunion und heute noch zu Russland gehören. Im Fall von Tschetschenien haben wir das mitbekommen. Die Tschetschenen wollten ja auch in die Unabhängigkeit. In Georgien gab es 1989, also zwei Jahre vor dem Ende der Sowjetunion, die ersten großen Demonstrationen für die Unabhängigkeit, für Freiheit, in Tbilissi. Die wurden damals blutig niedergeschlagen. Es gab 21 Tote. Heute findest du in jeder georgischen Stadt eine Straße, die nach dem Tag benannt ist, an dem die Demonstrationen damals stattfanden. Das war der 9. April. 1989, Das Datum war für die Georgier ein großer Einschnitt. Da ging der Unabhängigkeitskampf für sie richtig los. Zusammen mit den baltischen Staaten haben sie sich dann früh losgesagt. Zum Zeitpunkt des Endes der Sowjetunion war Georgien selbst auch ein multiethnischer Staat. Es gab viele Russen, die dort gelebt haben, Armenier, Aserbaidschaner, auch Griechen und Assyrer. Der ganze Kaukasus ist ein Flickenteppich an Mini-Ethnien. Da gab es auch in den Neunziger Jahren schon Auseinandersetzungen. In deren Verlauf hat sich beispielsweise Abchasien von Georgien abgespalten. Die Abchasier verstehen sich selbst als eigenen Staat, werden aber von den meisten anderen Ländern nicht als solcher anerkannt. Ähnlich ist es mit Südossetien. Beide Regionen stehen unter der Kontrolle von Russland, sind wirtschaftlich und infrastrukturell von den Russen abhängig. In vielerlei Hinsicht gibt es also Parallelen zur Ukraine.

Schäfer mit Herde im Dorf Kisikhevi (Foto: Axel Ganz)

Inwiefern hat sich die Situation durch den Krieg in der Ukraine verändert?

Der Ukraine-Krieg hat natürlich einen sehr großen Einfluss auf die politische Situation in Georgien. Die Regierungspartei „Georgischer Traum“, von der einige Georgier meinen, sie müsste eigentlich eher „Russischer Traum“ heißen, fährt nicht erst seit Kriegsbeginn einen sehr moderaten Kurs gegenüber Russland. Die Regierungspartei hat sich nicht den westlichen Sanktionen angeschlossen, sondern gesagt, sie müssten ihren eigenen Weg finden. Die Opposition hingegen beschuldigt die Regierung, viel zu russlandfreundlich zu sein, Erfüllungsgehilfe der russischen Politik zu sein. Sie fordert eine Politik, die in Richtung EU-Mitgliedschaft geht. Vor dem Hintergrund hat die ukrainische Regierung seit Februar sehr starken Druck auf die georgische Regierung ausgeübt. Einer der jüngsten Vorwürfe der Ukrainer war, dass über Georgien Waffen nach Russland geschmuggelt würden. Es wird großer Druck aufgebaut, um den amtierenden Premierminister Irakli Gharibaschwili zum Rücktritt zu bewegen. Und man weiß nicht, was danach kommen würde. Es ist also eine sehr heikle Situation.

Wie denkt die georgische Bevölkerung über den Krieg?

Wenn du durch Georgien gehst, ist alles Blau-Gelb. Alle hängen in Solidarität mit der Ukraine ihre Fahnen raus. Jeder zweite Joghurt-Becher im Kühlregal ist blau-gelb. Der Anteil der Bevölkerung, die sich mehr westliche Integration wünscht, ist sehr groß. Im Juni fand in Tbilissi die größte Demonstration seit den Neunzigern statt, 160.000 Menschen kamen unter dem Slogan „Home to Europe“ zusammen und brachten zum Ausdruck, dass sie mit dem Kurs der Regierungspartei nicht einverstanden sind.

Ilia-Chavchavadze-Avenue, der Boulevard schlechthin in Vake, dem teuren und hippen Viertel in Tbilissi (Foto: Axel Ganz)

Georgien erlebt ja schon seit einigen Jahren einen ziemlichen Boom als Reiseland.

Der Boom ging meiner Erinnerung nach schon in den Nuller Jahren los. 2018 war Georgien dann Gastland der Frankfurter Buchmesse. Das hat noch mal einen großen Schub für den Georgien-Tourismus gebracht. Seitdem kommen viel mehr Touristen ins Land. Es gibt in erster Linie zwei Gruppen von Reisenden. Zum einen die jüngeren Backpacker:innen, die bergwandern und Abenteuer-Touren machen. Zum anderen das etwas bürgerlichere Publikum, das sich in erster Linie für die Kultur des Landes interessiert, für Klöster und Wein.

Man liest ja in Deutschland immer viel über die Clublandschaft in Tbilissi. Wie nimmst du die aus der Nähe wahr?

Auf uns macht Tbilissi als kulturelles und politisches Zentrum einen sehr lebendigen Eindruck. Die Stadt hat ein total vielfältiges Kulturleben. Wenn man es plakativ sagen will: Es hat mich an Berlin in den Neunziger Jahren erinnert. Total viele Freiräume. Ein Kulturleben, das von spannendster temporärer Subkultur bis zur Hochkultur reicht. Wo es immer etwas zu entdecken gibt. Es gibt sehr viele alte Gebäude, Industriebrachen, wo man etwas machen kann. Das ist hier in Deutschland nicht mehr der Fall, selbst in Berlin nicht. Mit Beginn der Nuller Jahre ist in Tbilissi eine Szene für elektronische Musik entstanden. Es gibt ein wegweisendes Festival, das „4GB Festival“. Das hat nichts mit Gigabyte zu tun, sondern es sind die Initialen des berühmten georgischen DJs Gio Bakanidze, der mittlerweile verstorben ist und zu dessen Ehren das Festival ins Leben gerufen wurde. Das muss man sich so ähnlich vorstellen wie die Fusion in Deutschland. Da wird drei Tage lang Techno-Kultur in vielen Spielarten gefeiert. Später ist dann das Bassiani entstanden, das ist der legendäre Techno-Club unter dem Stadion. Der Club wird gerne mit dem Berliner Berghain verglichen. Überhaupt eifern die Clubs in Tbilissi der Berliner Clubkultur nach. Sie haben die besten Anlangen, es ist alles State of the Art, wie in Europa. Da wird an nichts gespart. Es gibt insgesamt vier Clubs, die dieses internationale Niveau haben: Bassiani, Khidi, Mtkvarze und TES. Im Mtkvarze hat im November 2019 noch Tolouse Low Tracks gespielt. Das TES ist ein relativ neuer Club, eine Industriebrache mit einem alten Kraftwerk aus den Zwanziger Jahren, direkt am Fluss gelegen. Mit großem Hof, mit einer Insel-Bar wie früher im Ego Club, mit einer super Anlage. Wenn ich dort bin, denke ich immer: Wow, so habe ich mir das früher erträumt. Und die machen das hier. Es ist wirklich fantastisch, was für Möglichkeiten es in Tbilissi gibt. Inzwischen habe ich erfahren, dass die Clubs dort für bestimmte Communitys eine Bedeutung über die Musik hinaus haben, die ein vergleichbarer Club in Deutschland nicht in dem Maße hat. Weil die Gesellschaft zwischen Liberalität und Konservativität, zwischen Orthodoxie und Öffnung nach Europa schwankt, haben es schwule oder lesbische Pärchen eben nach wie vor nicht so leicht, geschweige denn Trans-Personen. Die sind nach wie vor gezwungen, ein Schattenleben zu führen. Die einzigen Freiräume für Minderheiten in Tbilissi sind diese Clubs. Sie haben jede Nacht geöffnet, meist ab Mitternacht.

Restaurant-Garten in Shalauri bei Telavi (Foto: Axel Ganz)

Trittst du mit deinem Solo-Projekt Pondskater auch in Georgien auf?

Während der ersten beiden Corona-Jahre ging leider fast nichts. Aber in diesem Frühjahr konnte ich zaghafte Kontakte zur Tbilissier Musikszene knüpfen. Der künstlerische Leiter des TES ist DJ Generali Minerali, ein junger georgischer Musiker. Er agiert als DJ international und kuratiert das Programm des TES. Der fand das interessant, was ich mache, und hat mich eingeladen, einen Vortrag über Live Coding zu halten. Neulich hatte ich dann eine Radioshow, das heißt, es war kein Publikum im Club, sondern mein Set wurde live gestreamt. Wenn ich nach Georgien zurückkomme, möchte ich auf jeden Fall mehr machen.

Hat sich die neue Umgebung auf deine Musik ausgewirkt?

Georgien pflegt seine traditionelle Musik. Mehrstimmiger Gesang, da sind sie ganz groß drin. So etwas wird man in meiner Musik nicht wiederfinden. Der Einfluss ist eher indirekter Natur. Die Situation in Georgien war für mich ideal, um Musik zu machen. Ich habe mir in unserem Haus in Telavi ein kleines Studio eingerichtet, in dem ich sehr konzentriert arbeiten kann. Am Anfang dachte ich, dass ich viele Field Recordings machen würde, das habe ich in Deutschland zehn Jahre lang gemacht. Letzten Endes habe ich mich dann aber eher auf andere Sachen konzentriert. Ich wollte hin zu algorhythmischer Musik. Ich habe mich ein bisschen über mich selbst gewundert, dass ich mich in dieses für mich total unbekannte Thema eingearbeitet habe. Am Ende sind jetzt in mein neues Pondskater-Album „Way Out Ouest“ aber doch ein paar Spuren mit Stimmen aus alten georgischen Schwarz-Weiß-Filmen eingeflossen.

TES (Foto: Heike Kurth)

Du hast die algorhythmische Musik, das sogenannte Live Coding, schon erwähnt. Wie funktioniert das genau?

Live Coding ist eine besondere Art, Musik zu performen. Die Künstler:innen sitzen vor einem leeren Editor. Und ihr Bildschirm wird via Beamer für die Konzertbesucher:innen übertragen, sodass jede:r sehen kann, welche Befehle du eingibst. Live Coding ist nur dann Live Coding, wenn der Code übertragen wird. Puristen sprechen sogar nur dann von Live Coding, wenn man mit dem komplett leeren Editor anfängt. In dem Fall passiert vielleicht am Anfang noch recht wenig. Nur eine Kick Drum, nur ein Beat. In der Folge kommen Elemente dazu, andere werden wieder weggenommen – so entsteht ein Track. Diese Art, Musik zu machen, unterscheidet sich sehr stark davon, wie ich vorher Musik gemacht habe. Da sind die Songs im Proberaum entstanden. Erst wenn sie fertig waren, bin ich damit auf die Bühne gegangen. Live Coding funktioniert ganz anders. Man improvisiert. Der gleiche Ansatz wie im Jazz. Ich persönlich fange allerdings nicht mit dem komplett leeren Editor an, sondern bereite Codes vor – und variiere die dann. Einige Puristen belächeln das. Viele Andere sind aber offener, was das angeht. Manche Live Coder steuern auch externe Instrumente an, Synthesizer oder Drum Machines. Das mache ich teilweise auch.

Und inwiefern passt ein Tonträger zu dieser Art von Musik? Du hast ja gerade erzählt, dass das Ganze von Improvisation lebt.

Ich bin halt immer noch ich, mit meiner ganzen Musiksozialisation. Auch wenn ich seit vier Jahren code, schleppe ich natürlich trotzdem meine anderen Ideen und Konventionen noch mit. Vielleicht mache ich deshalb immer noch Platten oder Kassetten oder Veröffentlichungen. Weil ich das immer noch gut finde. Aber ich habe tatsächlich festgestellt, dass es von meinen Stücken oft mehrere Versionen gibt. Weil mich das improvisatorische Element dazu bringt, das Stück nie zweimal gleich klingen zu lassen.

Aghmashenebeli Street, die größte Durchgangsstraße in ganz Telavi, mit Blick natürlich auf den Kaukasus (Foto: Axel Ganz)

Ich möchte noch mal auf ein anderes Thema kommen, das du eben schon kurz angerissen hast. Die Minderheiten. Hast du den Eindruck, dass sich die Situation für sie zumindest langsam verbessert?

Nach dem Gesetzt gibt es die gleichen Rechte für Minderheiten, für religiöse, ethnische oder sexuelle, wie für die Mehrheitsgesellschaft. Aber das ist eben nur auf dem Papier der Fall. Im vergangenen Jahr war eine LGBTQ Pride in Tbilissi geplant. Da gab es schon im Vorfeld schwere Ausschreitungen und sogar einen Todesfall. Das wurde in Europa zurecht als Rückfall in die Barbarei wahrgenommen. Natürlich ist das schlimm. Und es sollte sich ändern. Aber wo kommt dieses Land her? Wenn man sich die Staaten drumherum anschaut, Aserbaidschan, Armenien, Iran, Russland. Alle Nachbarländer sind noch viel restriktiver, was Minderheiten- und Freiheitsrechte angeht. Damit verglichen ist Georgien schon weiter. Man sollte das Land dabei unterstützen, seinen Weg in die Liberalität zu gehen. Diese konservativen Kräfte werden sich auf lange Sicht nicht halten können.

Du hast uns jetzt sehr viel über Georgien erzählt. Schauen wir doch mal in die andere Richtung. Wie denkt man in Georgien über Deutschland?

Deutschland wird in Georgien auf jeden Fall sehr geschätzt. Die Georgier:innen lieben Autos auf eine noch kindlichere Art als die Deutschen. Und sie lieben deutsche Autos. Irgendwann wurde mir fast zwangsläufig die Frage gestellt: „Axel, warum hast du eigentlich kein deutsches Auto?“ Wir haben uns in Georgien ein japanisches Auto gekauft. Für die Einheimischen ist es schwer zu verstehen, dass das für mich nicht wichtig ist. Von den Autos abgesehen wird Deutschland sehr geschätzt für die Wirtschaft, für den Wohlstand, für die Perfektion. Für die Konsumgüter, die man bekommt. Und für die Arbeit, die so gut bezahlt ist. Deswegen möchten viele Georgier:innen gerne in Deutschland studieren oder arbeiten. Machen ja auch viele. Die meisten gehen allerdings wieder zurück. Von der Mentalität her empfinden die Georgier:innen uns Deutsche allerdings – wie manche andere Nation auch – als etwas kaltherzig, als nicht besonders gastfreundlich und wenig aufgeschlossen.

Wie sieht es mit kulturellen Unterschieden, vielleicht sogar Missverständnissen aus?
Termine machen ist so ein Ding. Am Anfang habe ich versucht, in Georgien Termine zu machen wie ich es in Deutschland tue. Für Workshops zum Thema 3D-Design oder CAD zum Beispiel. Ich wollte Termine zwei, drei, vier Wochen im Voraus vereinbaren. Das funktioniert in Georgien nicht. Man plant dort nicht länger als zwei, drei Tage im Voraus. Außer bei größeren Firmen, die international Geschäfte machen. Georgier:innen lesen auch viel weniger E-Mails als Deutsche. Mit Älteren tritt man besser persönlich in Kontakt. Und mit Jüngeren über Social Media und Messenger-Dienste. Mit den Musikern aus Tbilissi kommuniziere ich zum Beispiel nur über den Instagram-Messenger. Weil ich weiß, die lesen keine E-Mails.

Dariali Street im hippen und teuren Szeneviertel Vake, Tbilissi (Foto: Axel Ganz)

Was vermisst du, wenn du in Deutschland bist, an Georgien am meisten?

Die wunderbare Landschaft, die unheimlich vielfältig und abwechslungsreich ist. Den faszinierenden Blick auf die Berge, das ist ein riesiges Natur-Theater, das wir direkt vor der Haustür haben. Die Dreitausender sind von Telavi weniger als 20 Kilometer entfernt und sehen jeden Tag anders aus. Das begeistert mich nach drei Jahren im Land immer noch. Ich vermisse aber auch die Lebensart. Sie erinnert mich an meine Kindheit. Ich bin ja in den sechziger Jahren geboren – und habe immer den Eindruck, nach Hause zu kommen, wenn ich nach Georgien komme. In Georgien gibt es auf dem Land Lebensweisen, die es bei uns schon sehr lange nicht mehr gibt. Landwirtschaft zur Selbstversorgung zu betreiben, ist zum Beispiel völlig selbstverständlich. Oder Hühner zu halten. Gemüse einzumachen. Am Straßenrand sitzen ältere Damen und verkaufen das, was sie gerade eingemacht haben. Ohne das jetzt romantisieren zu wollen: Ich finde es total schön, dass es diese Traditionen in Georgien noch gibt. Ich fühle mich in dem Land sehr wohl. Jeder kann dort machen, was er will. Es gibt einfach mehr Freiräume. In Deutschland kommt immer sofort die Bauaufsicht. Du kannst nicht so viel selber machen. In Georgien dengelt und bastelt jeder an seiner Immobilie, seinem Auto, seinem Garten herum, wie er lustig ist. Es gibt einen Grundton für eine entspannte Lebensart. Es ist halt alles nicht so perfekt. Man bekommt im Baumarkt nicht den super Parkettboden. Aber braucht man den wirklich? Oder kann man auch ohne ihn glücklich werden?

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