EM GUIDE

Treat me like your patient – old and new sounds for healing

LARAAJI (Photo: Nathan Perkel obo Record Culture Magazine – Courtesy of the artist)

Das letzte Album des Free Jazz-Revoluzzers und Saxofonisten Albert Ayler trug bereits 1970 den Namen „Music Is The Healing Force Of The Universe“. Dass Musik eine, wenn nicht gar DIE „heilende Kraft“ für Mensch, Community und die Welt sein konnte, stand damals gar nicht groß zur Debatte. Warum auch? Popmusik hatte gerade erst ihren weltumspannenden Siegeszug begonnen, steckte fast noch in den Kinderschuhen, bewies aber als Jazz und Soul – ersteres immer als Grenzgänger zur „E-Musik“, zweiteres als Studio-Industriemusik im Herzen des Pops zu Hause –, dass es als Soundtrack der Bürgerrechtsbewegung zusammen mit politischen Aktionen, Protesten und Selbstermächtigungen die Wunden des beschädigten Lebens nach der Sklaverei und in der Segregation abmildern und bisweilen heilen konnte. Vor Allem bot Musik einen bis dahin unbekannten Ausweg aus den ghettoisierten Stadtvierteln und in die weite Welt. Nicht nur als Karriere, selbst wenn es mehr und mehr African Americans in die kulturellen Felder zog, sondern auch als afrofuturistische Vision.

Bei Aylers Kollegen Sun Ra kam die Linderung durch eine Spekulation über und die Behauptung von eimen alternativen Leben im All: „Space is the Place“. Während der Planet Erde als Heimstätte von Sklaverei, Jim Crow-Gesetzen und Gewalt gegen Schwarze verflucht und verbrannt war, waren die richtigen Klänge eine Einladung, um Land und Planet zu verlassen. Von einem, der es wissen musste, immerhin wuchs Sun Ra in Birmingham, Alabama auf, über viele Jahrzehnte die am stärksten und brutalsten segregierte Stadt der USA.

Zelebriert wurde das neue (Emanzipations-)Potenzial gerne in langen Konzerten, die bisweilen die Form des Gottesdiensts annahmen, den die Schwarze Bevölkerung der USA ihr Eigen nannte: Den Gospel. Denn schon der Gospel und seine auf meist einfach pentatonischen Patterns der Bluestonleiter basierende, chorische Musik, die nicht als frontale Belehrungen, sondern als gemeinschaftliche, gesanglich-musikalische, spirituelle Erfahrung wahrgenommen wurde, hatte neben dem Kontakt mit Gott noch eine weitere Funktion in den Gemeinden: Gemeinsam gegen die Ungerechtigkeiten des Lebens ansingen, sich gegenseitig heilen – community building. In Form der neuen Schwarzen Musikformen war diese Praxis von ihren lokalen Begrenzungen befreit und als Tonträger (oder als reisende Band) nun überall als schnell verabreichbares Medikament erfahrbar gemacht worden.
Ayler selbst musste bald schon am eigenen Leib erleben, dass die Musik nicht jeden retten konnte, denn was als großes Versprechen und Verheißung gedacht war, stellte sich schon bald als zynischer Witz der Welt ein. Und so verschwand Ayler kurz nach den Aufnahmen zum Album unter mysteriösen Umständen und tauchte erst wieder drei Wochen später aus dem New Yorker East River tot auf. Er wäre sicherlich stolz darauf, dass in Folge und über die letzten fünf Jahrzehnte in den unterschiedlichsten Ecken der Musikwelt der Glaube an die heilende Wirkung von Klang Platz gefunden hat, aufrechterhalten wurde und immer wieder von Neuem be- und gelebt wurde.

Der Yogi spielt die Zither: Laraaji

Nach Spuren dieser Epoche muss man gar nicht lange suchen, denn einige der Musiker:innen der healing epoch sind immer noch am Werk. Der New-Age-Jazz des New Yorker Laraaji trägt die, freilich primär behaupteten, heilenden Kräfte seiner Musik seit über 40 Jahren offen zur Schau. Bei ihm, wie auch bei modernen Vertreter:innen “heilender Sounds“ – die, wie wir später sehen werden, andere musikalische Wurzeln haben, anderen Strömungen entstammen, andere Techniken benutzen und auch andere Ambitionen verfolgen –, liegt eine starke Beeinflussung durch süd-asiatische Denkschulen vor; besonders durch die vedische Religion, ihrer Nachfolgerreligionen und Philosophien (wesentlich der Hinduismus) und brahmanischer Yoga-Lehre.

Diese Einwirkung erkennt man bereits bei den Jazzer:innen der goldenen Ära der 60er Jahre, Alice Coltrane (ab 1970 Swami Satchidananda und später Sathya Sai Baba) unter ihnen die vermutliche bekannteste Vertreterin. Doch auch bei einem Pharoah Sanders, der als „Schüler“ John Coltranes direkten Kontakt zu dessen Frau Alice pflegte, lassen sich deutliche Spuren dieser spiritualistischen Einwirkung nachvollziehen. Während aber bei Pharoah Sanders schon früh die Vokabel „Love“ in den Vordergrund tritt – und dort fraglos eine vergleichbare Funktion einnimmt, wie das in diesem Artikel zentral gestellte Wort „healing“ –, bleibt eine vollumfängliche Verquickung zwischen vedischen Ideen und musikalischem Inhalt aus. Anders bei Laraaji, dessen Inhalte, sowohl musikimmanent (Stimmungen der Instrumente, vor allem der charakteristischen Zither, aber auch auf der textlichen Ebene) als auch außermusikalisch, etwa in Form von Song- und Albennamen, stets durchzogen sind von einer idiosynkratischen Laraaji-Lesart der heilenden Kräfte des Yoga und des ekstatischen Singens/Spielens von Mantras. Nahm in den letzten Jahren der direkte Bezug zu heilenden Wirkungen ab, waren diese insbesondere in den 1980er überdeutlich: die Laraaji-Alben aus jener Phase hießen exemplarisch „Connecting With the Inner Healer Through Music“, „I am Healing“ oder „A Tape for Emotional Cleansing“.
Interessanterweise und nicht unüblich für New Age-Musiker:innen verlagert sich bei Laraaji der Akt der Heilung IN das Individuum; war er bis dahin vor allen Dingen einer, der auf das Zeremoniell des gemeinsamen Erlebens, Thematisierens, Diskursivierens und Berichtens abgezielt hatte. Bei Alice Coltrane und weiteren Vertretern der ersten Spiritual Jazz-Generation (Gary Bartz, Sun Ra, sporadisch auch McCoy Tyner) lag die Gewichtung noch auf dem – aus dem Gospel bekannten – community building und der kollektiven Erfahrung sowohl von Leid wie auch Linderung.

Innere Repatrisierung als Schwarze Heilungsstrategie

Zwar nicht mehr der ersten Generation zugehörig – und vielleicht auch nie wirklich im Spiritual Jazz aufgegangen –, erlebt mit Kahil El’Zabar aus Chicago derzeit ein Musiker eine Renaissance, der durchaus selbst Kontaktpunkte mit Musik als heilender Kraft hatte; nicht zuletzt mit seinem 2020 erschienen Album „A Time for Healing“. Bei El’Zabar fehlt die Kopplung an Vedismus vollständig, stattdessen verfolgt er seit den frühen 70er Jahren eine Philosophie, die man parabolisch als „Heilung durch (innere) Repatrisierung“ bezeichnen könnte. El’Zabars ideologischer Ansatz nennt sich entsprechend „Traditional ¬African Music and Philosophy“. Die “TAMP“ basiert auf den Lehren Harold Murrays, genannt Black Harold oder auch Atu Murray, einem weiteren Musiker aus Chicago, der nach einer Reise durch Afrika eine Aktualisierung der „Back-To-Africa“-Idee des frühen 20. Jahrhunderts predigte – bei Murray nur als kulturelle Rückkehr und nicht als tatsächliche Umsiedlung gedacht. Hier findet die „Heilung“ durch eine kontinuierliche und stets reproduzierte Verbindung zu den „Urvätern“ auf dem afrikanischen Kontinent statt. Die Erfahrung als Afro-American (oder African American) ist demnach die Wunde, die Krankheit, von der es zu genesen heißt. Eine Ansicht, die Murray und El’Zabar sowohl mit Musikern des Art Ensemble of Chicago aber auch den Pyramids (aka Idris Ackamoor & The Pyramids) mittelbar und unmittelbar verbindet. Ebenso ist hier ein Brückenschlag zum Roots-Bewegung auf Jamaika möglich, die zeitgleich – und in der Nachfolgerschaft von Marcus Garvey – eine ähnliche Idee von spiritueller, kultureller und physischer Repatrisierung verfolgte.

Befeuert durch etliche Re-Issues und Wiederentdeckungen der genannten Musiker:innen – und nicht zufällig mit einer neuen Prominenz des Jazz zusammenfallend – hat sich seit etwa 2010 eine aktuelle Generation von Musiker:innen entwickelt, die entweder auf die eine (vedisch) oder die andere (black resp. african american resp. post-colonial) Zugang zur Idee von Musik als Heilmittel gefunden hat. Bis heute mit Rassismus, Ausgrenzung und Gewalt konfrontiert, sehnen sich auch Künstler:innen wie Andre 3000 („Visual Healing“), Shabaka Hutchings („The Healing“; seine Gruppe Sons of Kemet wird explizit als „Vehikel für die Heilung vom Kolonialismus“ bezeichnet) oder die französische Flötistin Naïssam Jalal nach Linderung.

Doch Jazz(-related)-Musiker:innen stehen mit diesen Ideen nicht mehr alleine. Allerorten wird mittlerweile geheilt, dem Trauma begegnet und Seelenfrieden versprochen. Das Online-Musik-Magazin Pitchfork, fragte bereits 2017: „Can Music Heal Trauma?“, andere Media-Outlets wie Resident Advisor, genauso die deutschen öffentlich-rechtlichen Sender ARD und Arte schoben Artikel und Sendungen zur selben oder verwandten Fragestellungen hinterher. Das Magazin des Onlinehändlers Bandcamp, Bandcamp Daily, hat in den letzten sieben Jahren mindestens elf Artikel zu Künstler:innen und ihrer heilenden Musik veröffentlicht. (Beispiele: Fumio Miyashita’s Journey from Martial Arts to Prog to Healing Ambient Music oder For Legendary Vocalist Yungchen Lhamo, Music is Made to Be Healing)

Unter dem Label „Healing“ tummeln sich ständig aktualisierende, neuaufpoppende und wachsende Trends, artists und sogar ganze Subkulturen; Partys, die sich der vorgeblich heilenden Frequenzen der Solfeggio-Reihe widmen, werden präsenter und erleben regen Zulauf. Das Vokabular ist derweil nicht gestreamlined, sondern findet immer wieder neue Ausformulierungen verwandter Phänomene. Da heißt es mal „Heilung durch Sound“, woanders „Stimulation körpereigener Abwehrkräfte durch Klang“ etc.. Die Zugänge und Ambitionen sind mannigfaltig: Es gibt nicht nur einen einzigen Personenkreis, der sich mit „Klang und Heilung“ beschäftigt. Es gibt klassische Musiktherapeut:innen, dann etablierte Musikproduzent:innen, die sich bestimmten Frequenzbereichen verschreiben; Rituale, Zeremonien und gemeinsames Erleben; mal mit, mal ohne Klangschale und Dreamdrum – die gesamtgesellschaftlich ignorierte, verlachte oder verfemte Heileurythmie der Anthroposophie (nach Rudolf Steiner) taucht so plötzlich da auf, wo vor wenigen Jahren noch Techno- und Housemusik auf Festivals den hedonistischen Ton angaben.

Musiktherapie als Wissenschaft, Heilung als Schein?

Die Wirkung von Musiktherapie in der Pflege von Menschen mit Hirntraumata und -läsionen ist genauso wie jene bei an Alzheimer und Demenz erkrankten Patient:innen längst und hinlänglich beschrieben und bewiesen. Musik ist ein sehr direktes Medium, das anders als (geschriebener) Text, Fotografie oder sogar Film keine aufmerksame Auseinandersetzung bedarf, sondern auf einer sehr basalen Ebene Affekte auslöst und Hirnregionen anspricht. Musik wirkt meist aus sich heraus – und aus der Stimulation unseres größten Organs, der Haut. Obwohl (oder gerade, weil) dies zweifellos durch Studien und langjährige Praxis nachgewiesen ist, verschwimmen die Grenzen zwischen „Schulmedizin“ und alternativen Heilmethoden (Naturheilkunde, TCM, aber eben auch Esoterik und Quacksalberei) sehr schnell.

Probleme bereitet dabei schon die Abgrenzung, wo doch selbst die wissenschaftliche Medizin bis heute unterschiedliche Definitionen von „gesund“ und „krank“ anbietet, diese wiederum in Konkurrenz mit rechtlichen Formulierungen und Interpretationen stehen. Wie soll da eine abschließende, erschöpfende Definition des weitaus komplexeren Begriffs „Heilung“ möglich sein?
Der Musiker Hendrik Weber definiert dies für sich wie folgt: „Heilungoder Ganzsein bedeutet für mich, wenn ich ganz »da« sein darf, in Gemeinschaft mit all meinen Erfahrungen, Schmerzen, genialen Momenten, Verfehlungen und liebenswerten Seiten, aber auch mit dem Dunklen und Widersprüchlichen, und es trotzdem weiter fließen und sich verändern darf. Wenn all das, was mich als Menschen ausmacht, bewegt ist und Ausdruck finden darf, geschieht nach meinem Empfinden Heilung. Wenn Gedanken, Körper, Bewegung, Kunst und Musik frei durch das Leben fließen können, dann empfinde ich das als heilsam.“

Pantha du Prince (Photo: Stefan Burger)

Beruhigende Frequenzen von der Plattenglocke: Hendrik Weber

Weber, der in den 2000er Jahren unter dem Pseudonym Pantha du Prince mit elegantem, romantisch beseeltem Deephouse reüssierte, zeigte sich spätestens mit den beiden Alben „Conference of Trees“ (2020) und „Garden Gaia“ (2022) von naturnahen Klangerlebnissen beeinflusst. Dazwischen, 2021, erschien zudem eine LP unter seinem bürgerlichen Namen: „429 Hz Formen Von Stille“. Der Pressetext sprach damals von „sonischer Medizin im besten Sinne“. Elf mehr oder weniger ambiente Tracks schweben in feinen Klanglandschaften, die von verschiedenen Musikinstrumenten geprägt sind: Glocken, Streicher, Zither, um nur einige zu nennen.
Musiktheoretisch gibt hier die reine Stimmung von Webers Plattenglocken “den Ton an”. Statt des zum Standard erhobenen Kammertons a mit 440 Hz (Hertz) ist die Grundstimmung hier auf die Frequenz von 429 Hz abgesenkt. Darauf aufbauend spielt Weber in einer reinen Oberton-Stimmung, die in sich harmonischer, in “Naturtönen” auf das Cent genau gestimmt ist. “Das ist eine mathematisch sehr feine und genaue Vorgehensweise.”
Dieser beherzte Blick auf Zahlen ist kein Zufall, sondern Teil eines Trends, der sich insbesondere in den letzten vier Jahren entwickelt hat und immer mehr Anhänger:innen anzieht. Eine große, wenngleich heterogene bis disparate Szene hat sich gefunden, die ihre Instrumente (insofern möglich und nötig) tiefer (und “natürlicher”) stimmt, als man es in den USA oder Mitteleuropa gewohnt ist.

In diesem Zusammenhang taucht auffallend häufig der Begriff „Solfeggio“ auf. Ursprünglich bloß eine Form der Hör- und Gesangsübung beschreibend, hat sich „Solfeggio“ als Buzzword verselbstständigt. Inzwischen findet sich eine ganze Reihe von Theorien, die unter dem Stichwort Solfeggio zusammengefasst werden. Gemeinsam sind ihnen verschiedene Mutmaßungen über das europäische Tonsystem: Dieses sei durch seine Fixierung auf den Kammerton a deutlich über dem Normalniveau einer natürlichen oder atomaren/molekularen Welt. Entsprechend drückt es Hendrik Weber im Interview so aus: „440 Herz empfinde ich als agitatorisch, aufbrausend und exciting. Eine schnellere Basiswelle läuft durch den Raum, durch die Verstimmung der Obertöne in der wohltemperierten a-440-Hertz Stimmung besteht auch eine Ungenauigkeit im Frequenzspektrum. Diese ermöglicht der klassischen europäischen Musik ihre Akkordwechsel […], ist aber gleichzeitig mathematisch leicht falsch und wirkt dadurch enervierender.“

Zwischen den Chakren mit Lincoln Jesser

Mit dieser Meinung steht Weber nicht alleine da: Auf Reddit, in Blogs und auf den Instagram-Seiten von Musikern aus dem Spektrum finden sich zahlreiche Beiträge und Kommentare, die diese Einschätzung unterschreiben. Inzwischen haben sich zwei Labels für dieses soziale Phänomen etabliert: Solfeggio-Community und 432-Hertz-Community. Erstaunlicherweise (oder vielleicht auch nicht so sehr überraschend) gibt es aktuell noch keinen Konsens darüber, welche Stimmung die „heilsamere“ ist. Unstrittig scheint jedoch zu sein, dass ein neuer „Grundton“ benötigt wird – je nachdem, mit wem man spricht, liegt dieser bei 432 Hertz, 417 Hertz oder eben 429 Hertz.
Einig ist man sich allein, dass “normale Musik” KEINE heilende Wirkung hat, mitunter sogar schadet;die neuartige Musik ist hingegen heilsam, so das Verdikt der Community, deren Superstar der Kalifornier Lincoln Jesser ist. Jesser tauchte um 2013 in der Musikszene auf und produzierte in den ersten Jahren deutlich von der Electronic Dance Music beeinflussten Pop- und Vocal House. Als der Erfolg ausblieb, spezialisierte sich Jesser auf einen ruhigeren, minimalistischeren und – wenn man so will – tribalistischeren Stil elektronischer Musik. Ausgefeilte Sounds sucht man zwar vergeblich, aber Lincoln Jesser hat es trotzdem verstanden, eine Fangemeinde um sich zu scharen. Er nimmt zunehmend für sich in Anspruch, mit seiner Musik heilen zu können, hat sich, glaubt man ihm und seinem markanten, guru-haften Auftreten bei Instagram, mit Meditation, Atemarbeit (Breathwork) und der Natur auseinandergesetzt und darin fortgebildet. Außerdem hat er nach eigenen Angaben verschiedene Formen von Yoga und „Energy Purification“ erlernt. Allein auf Instagram folgen Jesser mittlerweile mehr als eine halbe Million Menschen. Es lohnt sich, sein Profil genauer zu studieren, denn hier werden immer wieder neue Formen der „Reinigung“ und Heilung praktiziert, neue Frequenzen als heilsam definiert – und natürlich taucht auch hier der Begriff der „Solfeggio-Reihe“ auf, die bei Jesser – und anderen Vertreter:innen der Zunft – inzwischen eng mit den Chakren des menschlichen Wesens verknüpft ist. 417 Hz oder 432 Hz sind demnach die Frequenz des Herzchakras, 528 Hz die des Solarplexuschakras usw. usf.
Diese Zahlenmystik wird durch eine neue, eigene Art der Gemeinschaftsbildung aufgefrischt: Partys werden hier zu Zeremonien, bei denen alle in natürlichem Weiß gekleidet kommen sollen und z.B. chemische Drogen verboten sind.

Maria-Wildeis (Photo: courtesy of artist)

Maria Wildeis: Skeptisch gegenüber Yoginis, Business-Influencern und Tellyvangelists

„Diese Bilder kommen mir bekannt vor, da ich als Kind mit meiner Mutter in verschiedenen Ashrams war“, erzählt die Musikerin und Künstlerin Maria Wildeis, die sich mit dem Phänomen der so genannten Solfeggio-Serie auseinandergesetzt hat. In ihrer Installation „HealingFrequencies (Now in 4k!!!)“, die sie im Sommer 2024 im Park des Düsseldorfer Künstlervereins „Malkasten“ aufbaute, fand sie eine ironisierende Form der Thematisierung: Aus einer Anlage des seit seinen Installationen im Berliner Berghain „vergötterten“ Herstellers Funktion One, die hier wie ein anbetbarer Altar im Kunstpark stand, ertönte stündlich eine Soundcollage. Was zunächst wie die Anleitung zu einem Yogakurs anmutete, entfaltete sich nach und nach zu einem Panorama gefundener Schnipsel aus den Tiefen des Internets. Sie selbst schreibt dazu: „Hertzzahlen der Solfeggioreihe wie zum Beispiel 108, 417 und 528 oder die 777, 222 oder 423 wurden von europäischen Yoginis, Business-Influencern und Tellyvangelists zu den neuen, epiphanischen Ikonen im holistischen online Heilungsbetrieb ernannt.“

Im Interview erzählt sie, dass es ihr vor allem darum gehe, die Konstruktion von Klang zu verfolgen; als Musiker:in und Theoretikerin hat sie sich bereits während ihres Studiums am Düsseldorfer Institut für Musik und Medien mit der epistemologischen Natur von Klang auseinandergesetzt: „Der Festlegung auf den Kammerton 440 Hz in Europa gingen politische Entscheidungen und historische Ereignisse voraus. Es ist, das ist klar, eine willkürliche Festlegung, die in der Tat ihre Probleme birgt. Gerade für Sänger:innen ist der Kammerton a eine schwierige Setzung. Er ist eigentlich zu hoch.“

Gleichzeitig überwiege ihre Skepsis gegenüber den meisten Musikheiler:innen: „Ich finde es sehr unterhaltsam, mich mit diesen Typen zu beschäftigen, aber für mich verbergen sich hinter der Beschäftigung mit der „Solfeggio-Reihe“ vor allem Scharlatanerie und falsche Propheten.“ In der Community, die sich aus Alternativmediziner:innen, Esoteriker:innen, Freikirchler:innen, Geschäftsleuten, Selbstoptimierern etc. zusammensetzt, gebe es eine große Sehnsucht nach Wahrheit. Immer mehr Menschen, so Wildeis, fühlten sich entfremdet und wollten wieder „eins“ mit sich selbst werden. Einfache und schnelle Antworten, vergleichbar mit denen der Homöopathie, seien eine willkommene Lösung. So entstehe wieder eine Gemeinschaft, die einen „neuen Sinn“ biete.
Es ist nicht verwunderlich, dass auch der neue Hype von den gleichen Motiven angetrieben wird wie schon die Vorfahren des Spiritual Jazz: Letztlich geht es wohl eher um Community Building, um das Gefühl, nicht allein zu sein mit den Beschädigungen und Kalamitäten, die eine Welt bereithält, die so ausgestattet und gestaltet ist wie die unsere. Dafür haben sich die Menschen in den letzten 60 Jahren der Religion, dem Yoga, den spirituellen Sphären, der Esoterik und alle zusammen der Musik zugewandt. Es gilt wohl das Kernprinzip der Therapie: „Was hilft, das hilft.“

___________________________________________________________________

EM GuideThis article is brought to you as part of the EM GUIDE project – an initiative dedicated to empowering independent music magazines and strengthen the underground music scene in Europe. Read more about the project at emgui.de

Funded by the European Union. Views and opinions expressed are however those of the author(s) only and do not necessarily reflect those of the European Union or the European Education and Culture Executive Agency (EACEA). Neither the European Union nor EACEA can be held responsible for them.

Kaput is a proud member of the  EM GUIDE network.

 

Verlagssitz
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop | Aquinostrasse 1 | Zweites Hinterhaus, 50670 Köln | Germany
Team
Herausgeber & Chefredaktion:
Thomas Venker & Linus Volkmann
Autoren, Fotografen, Kontakt
Advertising
Kaput - Magazin für Insolvenz & Pop
marketing@kaput-mag.com
Impressum – Legal Disclosure
Urheberrecht /
Inhaltliche Verantwortung / Rechtswirksamkeit
Kaput Supporter
Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop dankt seinen Supporter_innen!