Gunnar Otte über „Children Of The Night. Soziale Hierarchien und symbolische Grenzziehungen in Club und Diskotheken“

Fühlst du dich einer Musikszene zugehörig?

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Im Februar diesen Jahres fand in Dortmund der von Jonas Eickhoff initiierte eintägige Kongress “Electronic Body Music. Ordnung in und als Bewegung” statt, bei dem in zahlreichen Vorträgen und anschließenden Diskussionsrunden soziologische sowie kultur- und sozialanthropologische Perspektivnahmen auf die Subkultur beziehungsweise Szene elektronischer Tanzmusik öffentlich zur Diskussion gestellt wurden.

Mit “Electronic Body Music” ging es Eickhoff darum, “Korridore zwischen Sozialwissenschaftlern, die das Feld der elektronischen Musikszene beforschen, und der untersuchten Szene selbst auszuleuchten, auszuloten und auszuhandeln.” Ziel war es dabei nicht Grenzen aufzulösen, sondern vielmehr ging es darum diese “explizit zu thematisieren, um sich dadurch selbst jeweils (anders) zu reflektieren.”

Das heute hier veröffentlichte Interview mit Prof. Dr. Gunnar Otte knüpft an unser bereits veröffentlichtes Gespräch zwischen Christine Preiser und Dr. Jan-Michael Kühn sowie an die bereits veröffentlichten Interviews mit Prof. Heiner Blum und Dr. Nora Hoffmann an – in den kommenden Wochen werden weitere Interviews folgen, sodass am Ende eine umfassende Dokumentation von “Electronic Body Music” vorliegt.

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Prof. Dr. Gunnar Otte

Jonas Eickhoff: Herr Otte, ich möchte mit Ihnen über Ihr Habilitationsprojekt sprechen, welches voraussichtlich 2018 durch den Springer VS-Verlag unter dem Titel „Children Of The Night. Soziale Hierarchien und symbolische Grenzziehungen in Club und Diskotheken“ veröffentlicht werden wird. Was können Sie mir zu der Entstehung berichten? 
Gunnar Otte: Das Projekt ist entstanden aus jahrelanger eigener Erfahrung im Besuch von Clubs und Discos. Meine soziologische Brille sorgt beim Clubbesuch dafür, dass ich mich dafür interessiere, wer das Publikum ist, ohne dass ich es in dem Moment mit Bestimmtheit herausfinden kann. Das betrifft sowohl die Motivation, warum man irgendwo hingeht, wie auch die soziale Zusammensetzung. Manches kann man leicht sehen, zum Beispiel das Geschlechterverhältnis, anderes ist eher verborgen, wie beispielsweise der soziale Hintergrund von Personen. Die Ursprungsidee war also ein Clubpublikum quantitativ zu untersuchen.

Können Sie den Ausgangspunkt von Ihrem Forschungsprojekt vielleicht noch etwas genauer situieren?
Die Idee ist so um 2003 herum im Robert Johnson im Rahmen der Aerobic Plus Partyreihe entstanden, die DJ Ata damals selbst veranstaltet hatte. Da bin ich immer stundenlang auf der Tanzfläche gewesen und dachte mir, man müsste so etwas doch einmal beforschen. Es gab damals kaum Studien, die so etwas untersucht haben. Im Grunde habe ich das ein Jahr später umgesetzt, als ich nach Leipzig gewechselt bin, damals als Post-Doc. Ich hatte die Idee ein Seminar dazu zu machen, in dem empirische Forschungsmethoden im Clubkontext vermittelt werden sollten. Wir haben gedacht, wir könnten einfach eine Auswahl von Einrichtungen aufsuchen, in denen wir mit Einverständnis der Betreiber im Eingangsbereich der Clubs während des Realbetriebs eine kurze schriftliche Befragung von Besuchern machen. Das ist der Kern der Forschung geworden.

Was ist auf der Grafik zu sehen, mit der wir den Artikel aufgemacht haben?
Hierbei handelt es sich um eine Grafik zu unserer Untersuchung in Leipzig in 2004. Es gab damals nach unseren Recherchen ungefähr 45 Einrichtungen in Leipzig, in welchen man mehr oder weniger regelmäßig abends tanzen konnte. Das ist recht viel für eine Stadt von 500.000 Einwohnern. Wir konnten nicht alle Clubs untersuchen und haben daher eine Auswahl getroffen – die Grafik zeigt mit 17, 18 Einrichtungen die Auswahl. Wir waren aber nicht in allen. Wir sind in 13 Publika gewesen und haben die Leute zu all diesen hier verzeichneten Einrichtungen gefragt, wie oft sie diese besuchen, sodass wir dann etwas mehr als diese 13 Publika abgedeckt haben. Die Idee ist es gewesen, dass wir Publika untersuchen wollten, die relativ heterogen sind, die das ganze Spektrum des Nightlifes abdecken, das heißt wir haben versucht von der Musikseite her alle größeren Szenen, die es so gibt, abzudecken. Insofern ist das eine Untersuchung, die vom Techno- und House-Publikum über das Indie- und Hip-Hop-Publikum bis zur Gothic-Szene im Grunde alles umfasst. Wir haben versucht auch verschiedene Einrichtungstypen zu erfassen. Also haben wir genauso eine klassische Großraumdisko am Stadtrand dabei wie ein wichtiges Kulturzentrum im Zentrum, welches auch öffentliche Zuschüsse geniesst, wir haben so einige Clubs, die eine Art gehobene Nische abdecken, und wir haben ein alternatives Projekt untersucht, welches sich genuin als non-kommerziell versteht und in einem besetzten Fabrikgebäude untergebracht ist, unter jahrelanger städtischer Duldung und unter verschiedenen Musikschwerpunkten Abend- und Nachtprogramm macht. Das ist das Spektrum.

Wie ist die Forschung vor Ort konkret abgelaufen?
Wir sind mit einem Kurzfragebogen reingegangen, mit dem Anspruch, dass wir in den nächtlichen Publika eine Zufallsauswahl von Gästen realisieren wollten – wir haben also jeden x-ten Neuankömmling gebeten an einem Stehtisch den Fragebogen auszufüllen – für zum Teil Getränkegutscheine oder ein Schlüsselband, oder was man damals ganz cool fand, um die Leute dazu zu bewegen mit zu machen. Und das hat sehr gut funktioniert. Wir haben eine hohe Response-Rate bekommen. Die Leute waren sehr interessiert, vielleicht auch weil es sehr ungewöhnlich war in diesem Clubkontext eine Befragung zu machen. Man musste natürlich auf ein paar Dinge achten, also dass man nicht allzu alkoholisierte Leute, die das alles nicht ernst nehmen, mit reinkriegt. Solche Fälle haben wir nachträglich aussortiert. Aber wir haben recht belastbare Daten bekommen. Das ist der Kern der Studie, dass wir solche statistischen Publikumsbeschreibungen machen können. Und was wir darüber hinaus machen können, ist, dass man sich Publikumsvernetzungen anschaut. Also dadurch, dass wir von jeder Person wissen wie oft sie wo hingeht, kann man anschauen, wie die Publika vernetzt sind und man kann gewisse Marktnischen identifizieren. Auf der Grafik sieht man zum Beispiel ganz interessante Sachen.

Welche?
Beispielsweise ein Gothic-Club in Leipzig, der ist allenfalls noch mit dem Heavy-Metal-Bereich vernetzt, aber führt ansonsten ein Nischendasein, weil die Gothic-Szene eine ist, die besonders stark polarisiert. Entweder man ist voll in der Szene drin und geht nur in diese Szene oder man ist draußen und findet die eigenartig.
Das ist bei anderen Szenen anders. So gibt es beispielsweise bei einem wichtigen HipHop-Club und einem Club mit relativ schicken Publikum auch einen Übergang zu der elektronischen Musikszene. Zum einen sind hier musikbezogene Vernetzungen zu sehen. Zum anderen sieht man aber auch zum Beispiel, dass die Leute nach, wenn man so will, ideologischen Orientierungen das Nachtleben bevölkern: Nicht-Kommerzialität, musikalische Kennerschaft, Wertauthentizität reklamierend. Also man sieht, dass die Publika über solche eher politischen, ideologischen Dimensionen vernetzt sind. Das kann man unter anderem aus dem Datenmaterial ziehen.
(Gunnar Otte zeigt eine weitere Grafik)

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Hier sieht man, wie das Nachtleben strukturiert ist. Das kennt man von Bourdieu, eine multiple Korrespondenzanalyse dieses Marktes an verschiedenen Nightlife-Einrichtungen. In diesem Kurzfragebogen haben wir die Leute befragt, wohin sie wie oft gehen. Wir haben Musikpräferenzen, Genrepräferenzen und Szenezugehörigkeiten abgefragt, sowie welche Freizeitkultureinrichtungen besucht werden. Und wir haben ein paar Fragen zum Kleidungsstil erhoben, also wie zieht man sich an, wenn man weggeht, worauf legt man wert? Wir haben zum Drogenkonsum gefragt und zur Soziodemographie . Wenn man die Grafik als eine Art Feld des Nachtlebens oder als ein Markt von Tanzlokalitäten auffasst, sieht man, dass es im Prinzip auf der Ebene der ästhetischen und der praxisbezogenen Merkmale zwei Hauptdimensionen gibt.

Können Sie diese Dimensionen hier skizzieren?
Man sieht, dass an dem einen Pol sehr viel gitarrenorientierte Musikvorlieben vorzufinden sind und auf der anderen Seite gibt es hier den Bereich von HipHop, Black Music und elektronischer Musik. Eine Hauptunterscheidungslinie ist jene zwischen der Gitarrenmusik als dem Soundparadigma der 70er-Jahre und auf dieser Seite und der damals noch vergleichsweise modischen, noch relativ neuen anderen Genres. Das war wie gesagt 2004, da war zwar bereits der größte Hype um die Technoszene vorbei, aber es war noch relativ aktuell. Man sieht auch, dass damit gewisse andere Merkmale korrelieren. So stylen sich zum Beispiel im Bereich HipHop und Black Music die Leute sehr stark auf. Hier geht es also darum, modisch und sexy gekleidet zu sein, oder auch das Solarium und Fitnessstudios regelmäßig zu besuchen. Solche Attribute werden am anderen Pol eher gering geschätzt.

Und die andere Achse?
Diese Achse spiegelt im wesentlichen das Ausmaß dessen, was ich Musikkapital nenne, in Anlehnung an BourdieuDie eine Achse ist also eher eine Körperkapitaldimension, wenn man Körperkapital operationalisiert als eine Orientierung an Mainstreammoden. Jeder hat natürlich eine Art Körperkapital, auch in der Gothic-Szene hat man ein sehr spezifisches Körperkapital, aber es ist eines, welches sich gegen den Mainstream sperrt. Die andere Achse, also die nach welcher Sie jetzt fragen, spiegelt hingegen das Musikkapital – und das ist die Dimension, die das Szenemodell von Hitzler stärker erfasst, weil dort ja die Vorstellung ist, dass man Szene als eine Art Modell konzentrischer Kreise sehen kann, mit dem Szenekern in der Mitte; dort findet man die Organisationseliten, Leute, die zentral an den Werten und Ästhetiken der Szene dran sind. Das sind in Musikszenen Leute, die sich sehr stark für Musik interessieren. Bei ihnen haben wir erfragt, welche Szeneerfahrungen oder auch welche szenespezifischen Objekte sie haben? Hat man beispielsweise Erfahrung darin, als DJ aufzulegen? Oder wohlmöglich sogar im Musikproduzieren? Wie regelmäßig liest man Musikzeitschriften? Wie viele Platten hat man? Nur sehr wenige Leute, vielleicht 5 Prozent der Befragten, haben schon einmal Musikrezensionen geschrieben. Man sieht oben auf der Grafik den Pol der Leute mit hohem Musikkapital und am anderen Ende den mit geringem.

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Was bietet nun eine sozialstrukturelle Perspektive analytisch an?
Das Interessante ist, wenn man sich auf die sozialstrukturelle Ebene begibt und schaut, was sich hinter diesen kulturellen, ästhetischen Merkmalen verbirgt. Man sieht die Dominanz eines sozialen Klassengegensatzes – ein studentisches Publikum, Leute, die Abitur oder Hochschulabschluss haben. Die Neigung zu Gitarrenmusik ist zum Beispiel relativ stark bildungsstrukturiert, und diejenigen, die einen Realschulabschluss haben oder Auszubildende sind, tendieren stärker in Richtung von elektronischer Musik oder Black Music. Das sind natürlich Korrelationen, das heißt es ist nicht so, dass es keine Leute gibt, die einen Hochschulabschluss haben und sich für elektronische Musik interessieren, aber es nicht das Typische. Außerdem gibt es eine Geschlechterstruktur: Die weiblichen Befragten sind im Rahmen der Musikszene eher in der Peripherie angesiedelt, das heißt sie haben relativ wenig Musikkapital in diesem Sinne, haben seltener als die männlichen Besucher Drogenerfahrungen jeglicher Art, sind auch politisch eher neutral, während man zum Beispiel sieht, dass die politische Linksorientierung eher bei hohem Musikkapital zu finden ist, genauso wie auch die Affinität zur gitarrenorientierten Musik. Eine weitere Strukturierungslinie ist das Räumliche, so ist die Südvorstadt Leipzigs damals und wohl auch bis heute die Hochburg des linken Leipzigs. Die Leute, die dort wohnen, gehen in dort gelegene Clubs wie das Conne Island, während die Leute aus dem Umland entweder im Umland bleiben oder in die City von Leipzig fahren. Zudem an dieser Stelle als Randnotiz zur Erläuterung: Wir haben in drei Einrichtungen versucht Leute zu identifizieren, die typische Besucher sind – in einer Großraumdisko, in einem Indieclub und in einem Technoclub – und haben dort Leute angesprochen, ob sie Lust hätten mit ihrer Clique zusammen, mit der sie normalerweise ausgehen, eine Gruppendiskussion mit uns zu führen, außerhalb des Clubs an einem anderen Termin.

Was haben Sie in diesen Gruppendiskussionen erfragt? Was ist in eben jenen Gruppendiskussionen geschärft worden, welche Diskurskategorien sind zu Tage getreten?
Warum geht ihr dorthin, wo ihr oft hingeht? Was findet ihr in eurem Stammclub gut? Oder auch nicht gut? Wo würdet ihr nie hingehen, welche Clubs meidet ihr? Da ist aufgefallen, dass die Diskurskategorie „Der Süden“ für manche ein primäres Ausgehkriterium ist, gerade für diejenigen, die im Süden von Leipzig wohnen. Und man geht nicht in „Die Stadt“, weil da „Die Dörfler“ am Samstagabend hinkommen. Das sind so typische Diskurs- oder Distinktionskategorien, die das widerspiegeln, was wir auf dieser sozialstrukturellen Ebene finden.Dieses Datenmaterial ist noch etwas erweitert worden: Wir haben ungefähr mit einem halben Dutzend Betreibern von Clubs und Diskotheken Interviews geführt, sodass wir auch die Anbieterseite ganz gut kennen. Und ich habe Flyer inhaltsanalytisch untersucht.

Unter welchen Fragestellungen haben Sie diese inhaltsanalytisch untersucht?
Was mich interessiert hat ist, mit welchen Informationen und mit welcher Ästhetik werden Flyer gemacht? Man kann recht klar feststellen, dass das Segment Black Music viel stärker mit körperlichen Merkmalen operiert, also, wenn man so will, das Flirten in den Blickpunkt der Außendarstellung rückt und dass dort beispielsweise auch mit vergüngstigten Getränkepreisen geworben wird, wohingegen man in dem eher subkulturellen Bereich informationshaltige Flyer findet. Dort wird viel genauer das Line-Up aufgelistet oder es werden die Genres, die bestimmte DJs an dem Abend präsentieren werden, darunter gedruckt. Zudem gibt es auf der Rückseite des Flyers eine Art Kurzvorstellung der DJs. Es gibt also auf der Ebene dieser Außendarstellung von Clubs Unterschiede, die letzten Endes dann auch die Unterschiede im Publikum widerspiegeln. Insofern ist es eine Studie, die sehr ganzheitlich versucht über verschiedene Datenarten abzubilden, wie das Nachtleben organisiert ist.

Die Kategorie der Szene, die in Ihrer Untersuchung auch abgefragt worden ist, was hat damit auf sich?
Es gibt bei uns zwei Operationalisierungen des Szenekonzepts. Das eine ist, dass wir das Musikkapital als eine Variable betrachten, die darüber informiert, wie nah man einem Szenekern steht oder wie stark man in einer Peripherie einer Szene ist. Wenn man so will, ist das ein Versuch objektiviert die Positionen in diesem Spektrum konzentrischer Kreise abzubilden. Zum anderen haben wir die subjektiven Selbstzurechnungen oder so eine Art identifikatorische Variable offen abgefragt. Wir fragten also, ob es bestimmte Szenen gibt, denen sich die Befragten selbst zurechnen, beispielsweise der Techno- oder der House-Szene? Wobei die Leute verschiedene Sachen eintragen konnten. Wenn ich mich richtig erinnere ist es so, dass etwa die Hälfte oder eine knappe Mehrheit des Publikums eine Szeneaffinität angibt. Manche mehrere, manche nur eine. Manche sehr Spezialisierte, die dann sagen ich bin ein Freund des 78er-Punk und andere sagen einfach generell elektronische Musikszene.

Stand der Szenebegriff explizit im Fragebogen oder war es offener formuliert?
Wir haben den Szenebegriff benutzt, denn das ist, glaube ich, schon eine populäre Alltagskategorie. Die Leute können damit etwas anfangen und das ist einfacher damit zu operieren, als wenn man da hinschreibt: Bist Du Teil einer Subkultur? Denn der Begriff ist eher fragwürdig heutzutage. Wir haben gefragt: „Fühlst du dich einer Musikszene zugehörig oder nahestehend? Wenn ja, welcher oder welchen?“ Und was die Leute dann für die Selbstzurechnung als Kriterien erachteten, das wissen wir nicht. Das kann man in dieser Kürze dort nicht mitbekommen. Das sind eher Sachen, die wir über die Gruppendiskussionen erfahren haben, wobei wir da nicht explizit nach der Szenezugehörigkeit gefragt haben. Da ging es uns eher um die Identifikation mit bestimmten Publika und die Abgrenzung gegenüber anderen Publika.

Die Personen, die mit Ihnen geforscht haben, waren das Personen, die sich auch selbst verschiedenen Szenen zugerechnet haben, oder kamen diese aus ganz anderen Feldern, vielleicht auch ganz anderen Forschungsbereichen?
Das Team, das die quantitativen Daten erhoben hat, das hat sich aus den studentischen Teilnehmern eines Seminars rekrutiert – am Institut für Kulturwissenschaften in Leipzig. Ich glaube wir waren in etwa 12, 14 Leute. Die Studenten an dem Institut für Kulturwissenschaften sind seit jeher extrem kulturinteressiert – also mit einem sehr weiten Kulturbegriff wohlgemerkt. Das waren fast alles Leute, die sehr, sehr musikbegeistert in der einen oder anderen Form waren. Und das interessante war, dass wir in diesem Seminar mehr oder weniger für alle Musikszenen einen Experten hatten. In der Regel war es dann so, dass die Leute in Szenen gegangen sind, die sie selber kannten. Es gab einzelne, die gesagt haben, “ne, da möchte ich nicht hin, in einer Funktion als Interviewer möchte ich nicht auftauchen”. Die sind dann woanders hingegangen. Aber wir haben schon versucht im Auftreten der Interviewer beziehungsweise derjenigen, die die Fragebögen ausgegeben haben ein bisschen „szeneadäquat“ angepasst zu sein. Sprich im Gothicclub wurde auch schwarz getragen. Das hat ganz gut gepasst und die Interviewer wurden gut angenommen und identifiziert als Leute, die irgendwie dazugehören.

Noch einmal zu dem Ausgangspunkt Ihrer Forschungsarbeit, über die wir hier sprechen. Können Sie explizieren, was „neu“ war an Ihrer Perspektive, an Ihrer Forschungsfrage – in Relation zu dem damaligen Forschungsstand? Und wie ist Ihre damalige Forschungsarbeit, die Datenerhebung und auch Ausarbeitung liegt ja schon etwas zurück, auch wenn die Publikation selbst noch nicht erschienen ist, in Ihre weitere oder die Forschungspraxis des beteiligten Teams eingegangen?
Man muss vielleicht dazu sagen, dass das Projekt am Anfang sehr klein gestartet ist. Das war die Idee der Lehrforschung das mal auszuprobieren, ob so etwas funktioniert. Ob man überhaupt mit einer Fragebogenmethode in solchen Kontexten arbeiten kann. Das war nicht so klar. Das hat dann überraschend gut funktioniert. Und ursprünglich war die Idee, wenn es dann gut läuft, dann kann man mal vielleicht einen Aufsatz daraus machen. Das war nie geplant, dass da ein Buch draus wird. Die Idee dafür ist eigentlich erst im Forschungsprozess entstanden, als die umfangreichen Daten vorhanden waren und noch weitere hinzukamen. Und dass es dann hinterher meine Habilitationsschrift geworden ist, war auch verschiedenen Umständen geschuldet. Insofern war das nicht so aufgehängt. Es haben sich auch nach und nach noch Fragen entwickelt, die ich am Anfang gar nicht gesehen hatte.

Können Sie dies noch etwas ausführen?
Am Anfang hatte ich relativ stark eine ungleichheitstheoretische oder auch kultursoziologische Perspektive. Klar, ich habe mich dann in das Feld der Jugendforschung begeben, weil es um eine Zielgruppe von überwiegend jungen Leuten ging. Die meisten Leute, die wir befragt haben, waren so zwischen 18 und 25 Jahre alt. Aber was sich im Laufe der Zeit herauskristallisiert hat, ist, dass man das Ganze auch sehr stark wirtschaftssoziologisch untersuchen kann – das ist der Versuch einen lokalen Markt für kulturelle Dienstleistungen zu untersuchen. Die Marktsoziologie ist ein interessantes Gebiet innerhalb der Soziologie, welches Märkte stärker, als es die Ökonomen machen, auch empirisch untersucht und man kommt sehr schnell dahin zu erkennen, dass man so einen Markt hier nicht allein über einen Preis-Einkommens-Mechanismus beschreiben kann, weil der Markt im Sinne der Eintrittspreise oder der Getränkepreise in den Clubs in Leipzig zumindest zu der damaligen Zeit relativ wenig reguliert hat, wer wo hingeht. Man muss dazu sagen, dass wir es dabei mit einem Markt zu tun hatten, der geringe Zutrittsbarrieren für die Szenegänger geboten hat. Die Eintrittspreise lagen damals typischerweise bei drei bis sechs Euro – also weit entfernt von Eintrittspreisen, wie man sie zum Teil in anderen europäischen Großstädten heute in einschlägigen In-Clubs bezahlen muss und es gab zu der damaligen Zeit auch eine recht niederschwellige Türpolitik.

Weshalb?
Weil es eine sehr starke Konkurrenz auf dem Clubmarkt gab, da es in Leipzig sehr viele Leerstände gab und viele Leute aus der Erfahrung eigener Prekarität Clubs gegründet haben. Insofern sind das Untersuchungsbedingungen gewesen, unter denen sich die Leute relativ frei aussuchen konnten, wo sie hingehen. Es war nicht so stark über eine Türpolitik geregelt, wie das in anderen Großstädten heutzutage der Fall ist.
Zurück zu der eigentlichen Frage: Es sind verschiedene soziologische Teilfragen impliziert, die mich letztlich daran interessiert haben und insofern ist auch die Idee da, dass man mit den Erkenntnissen verschiedene Teilgebiete der Soziologie bereichern kann. Trotzdem ist es bei solchen Studien schon ein Problem, dass man immer einem lokalen Kontext verhaftet ist und es nicht ganz klar ist, inwieweit Ergebnisse, die wir hier erzielt haben, von diesen lokalen Rahmenbedingungen auf andere Kontexte generalisiert werden können. Das ist gerade auch vor dem Hintergrund, den ich gerade geschildert habe, nicht ganz klar. Das muss man immer einschränkend dazu sagen. Was ich versucht habe ist mit den Indikatoren, die ich genutzt habe, um das Musikkapital zu erfassen, eine Art Messinstrument zu entwickeln. Hier gibt es durchaus eine Weiterführung. Also ich habe zum Beispiel in einer Publikation mit einem sehr ähnlichen Fragebogen gearbeitet, um das Sonne Mond Sterne Festival in Thüringen zu untersuchen. Insofern ist das schon auch der Versuch etwas anzubieten auf der Ebene der Erfassung theoretischer Konzepte, was man auch in anderen Untersuchungen anbringen kann. Aber ich glaube nicht, dass dort inzwischen besonders viel geschehen ist. Insofern ist das nach wie vor eine relativ einzigartige Untersuchung.

Sie haben ja bereits dargestellt, wie auf Grund ihres persönlichen und soziologischen Hintergrunds das Feld für Sie interessant wurde und warum es so im Rahmen des Forschungsprojekts zu bestimmten Fragestellungen kam. Mich interessiert ebenfalls, inwieweit Ihr Forschungsprojekt Eingang finden konnte in die Lebenswelt der dort Erforschten? Fanden diese es irgendwie interessant, dass sich mit einem sozialwissenschaftlich beschäftigt wird? Erhoffen diese sich Beschreibungen für sich zu entdecken und diese sich auf unterschiedliche Weisen anzueignen, um somit zu „anderen“ Reflektionsleistungen in der Lage zu sein? Gab es denn im Nachgang Rückfragen zu den Forschungsergebnissen von den TeilnehmerInnen der Gruppendiskussionen?
Es gab wenig Rückfragen. Wir hatten mit dem Team zwei öffentliche Veranstaltungen in Leipzig, bei welchen wir Ergebnisse vorgestellt haben – diese zogen aber ein akademisches Publikum an. Zudem gab es eine Veranstaltung, zu der ich eingeladen war, wo es um lokale Kultur und Musik ging, bei der  ich  in einer Art Kneipe einen Vortrag gehalten habe.
Im Gegenzug zu der Bereitschaft von einigen Betreibern uns Interviews zu geben und den Zugang zu ihren Clubs ermöglichen, habe ich für drei Einrichtungen eine Art Expertise zu deren Publikum geschrieben. Aber sonst haben wir nichts direkt an das Ausgehpublikum zurückgespiegelt.

Es wurde selbst von denen, die in den Gruppendiskussionen “intensiver” in die Forschung miteingebunden waren Nichts nachgefragt?
Ich kann mich zumindest nicht daran erinnern. Aus meiner Erfahrung kann ich auch sagen, dass das nicht so oft passiert. Man kann zu dem Zeitpunkt auch wenig machen, höchstens eine Webseite einrichten, auf der beizeiten Publikationen oder Ergebnisse drauf stehen. Aber wenn das soweit ist, haben das die meisten schon wieder vergessen. Deswegen ist da relativ wenig gelaufen. Wobei die Ergebnisse für diejenigen durchaus interessant wären, die selbst über Fragen wie „Wer bin ich eigentlich in dem Publikum, in dem ich mich befinde?“ und „Was macht eigentlich Clubpublika und Szenen aus?” reflektieren, die sich also für den ungleichheitssoziologische Blick interessieren. In mancher Hinsicht liefern die Ergebnisse allerdings auch bereits bekanntes, wie etwa beim Thema der Geschlechterungleichheit im Nightlife – das weiß jeder intuitiv, der regelmäßig ausgeht: DJs sind überwiegend männlich, Türsteher auch, und ebenso die sogenannte Organisationselite, die Leute also die das Booking machen, und die Clubbesitzer selbst – das Barpersonal hingegen ist zum Großteil weiblich. Entsprechend ist es vielleicht nicht so verwunderlich, dass die Leute mit dem hohen Musikkapital auch typischerweise Männer sind. Das ist etwas, was wir in den Untersuchungsergebnissen finden, und was man gauch alltagsweltlich weiß. Was ich sogesehen aber interessant finde ist, dass wir zum Beispiel überhaupt nicht das Ergebnis finden konnten, dass im Nachtleben Regeln außer Kraft gesetzt sind, die tagsüber gelten und dass es gewissermaßen eine Spielwiese für jedermann und jederfrau unabhängig von persönlichen Merkmalen ist, sondern es ist so, dass jeder dieser 17 Clubs, die wir untersucht haben, ein sehr eigenständiges Profil besitzt. Und man kann das nicht leicht verallgemeinern. Es ist beispielsweise nicht so wie es die Jugendstudien der Birmingham Schule der Cultural Studies suggerieren, dass dies ein dichotomer, klassenbasierter Markt wäre – also hier die Arbeiterjugendlichen auf der einen Seite und die bürgerlichen auf der anderen zu finden sind. Es gibt diese Unterschiede nur zum Teil.

Können Sie das konkretisieren?
Zum Beispiel ist dass Indierockpublikum extrem akademisch. Es weist eine massive Klassenbasis oder auch Bildungsbasis auf –  im Umkehrschluss gibt es bei anderen Genres auch Clubs, die eher von eher weniger privilegierten jungen Leuten, was die sozioökonomische Herkunft angeht, besucht werden. Es gibt aber genauso Clubs, die ein sozial sehr heterogenes Besucherprofil aufweisen – mit Ausnahme des Genderbias. Das Publikum dieser Clubs ist dann sehr, sehr stark über das Musikkapital strukturiert und umgekehrt gibt es die Großraumdiskothek als Einrichtung, von der sich gerade Leute angezogen fühlen, die sich sehr stark über ihren Körper definieren und die schön sein wollen für eine Nacht und die die Musik nur als Begleitmedium in Anspruch nehmen. Insofern ist eine Hauptmessage der Untersuchung, dass es so etwas wie einen wirklich individualisierten Clubmarkt nicht gibt. Individualisiert würde für mich heißen, dass sozialstrukturelle Merkmale der Person in allen Einrichtungen gleich verteilt sind. Also dass es keine Unterschiede der Publika im Hinblick auf die soziale Herkunft, die Bildung, das Geschlecht, und solche Dinge gibt. Oder auch der räumlichen Ortsbezüge. Individualisiert würde weitergehend heißen, dass die Leute für sich selbst festlegen, was für einen Musikgeschmack sie haben und in welche  Musikszene sie ihre Zeit investieren. Es gibt Publika, die auch so sind, aber man kann das nicht auf den gesamten Markt beziehen. Und insofern finde ich es ganz interessant darüber nachzudenken, ob die in öffentlichen Diskursen vorzufindende Einstellung wirklich zutrifft, dass hier jeder willkommen ist oder dass hier völlig verschiedene Leute völlig gleichberechtigt miteinander feiern. Selbst bei einer relativ niedrigschwelligen Türpolitik finden sich die Publika sehr stark selbstselektiv zusammen.

Vielen Dank für das Interview, Herr Prof. Dr. Otte!
Vielleicht darf ich aber noch eine Sache ergänzen. Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass wir bewusst in einzelnen Szenen auch mehrere Einrichtungen untersucht haben. Was in der Szeneforschung häufig gemacht wird, ist, dass eine Szene als ein Konstrukt genommen wird und man so tut, als ob es keine szeneninterne Differenzierung gibt. Ich würde wahrscheinlich zustimmen, dass man über verschiedene Lokalitäten hinweg finden würde, dass zum Beispiel die elektronische Musikszene in Leipzig keine besonders starken Bezüge nach der sozialen Herkunft hat. Das streut dort von Leuten, die die Schule abgebrochen haben, bis zu Akademikern. Alle findet man in der elektronischen Musikszene. Wenn man dann aber in einzelne Einrichtungen geht, dann gilt das nicht mehr. Außer eben in manchen Einrichtungen, wo das Publikum von der sozialen Herkunft relativ stark entkoppelt ist, weil sich das Publikum dort in der Tat wie vielleicht in dem Hitzlerschen Szenemodell sehr stark über die Musik und über sonstige ästhetische Merkmale definiert. Insofern kehren auf der Ebene konkreter Kontexte oftmals dann doch wieder Sozialstrukturmerkmale zurück. Das ist etwas, was man mit quantitativen Mitteln ganz gut zeigen kann, also inwieweit dieser Szenezugang oder dieser Zugang zu einzelnen Clubs tatsächlich losgelöst von solchen Strukturmerkmalen ist oder nicht. Insofern ist das, was ich vorlege, vielleicht eine differenzierte empirische Beschreibung dessen, wie solche Szenen strukturiert sind. Also an dem Teil steht es dann durchaus auch im Konflikt mit der These individualisierter Szenezugehörigkeiten von Hitzler.

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