Ein kaputer Abend im Soyya mit Gray und Non Vegan Vegetable

Lobgesang der Harmonie und Soundexploration


Lobgesang der Harmonie und Soundexploration

Das Soyya, eine noch recht neue Underground-Location im rechtsrheinischen Köln, erstrahlt in Rosa. Gray, aka Stefanie Grawe, steht in jenem Teil des Raumes, der zur Bühne deklariert wurde, wirkt versunken hinter ihrem Laptop und kreiert elektronische Sounds. Es klingt gut, allzu schnell aber könnte man geneigt sein, das routiniert abzugleichen und einzusortieren: übereinander gelagerte Patterns (,Loops’), wie sie von Tangerine Dream und anderen Vertretern der sogenannten Berlin School bereits verwendet worden sind, bevor diese Teil des breit gefächerten Genres Ambient wurden. Allerdings wissen sich gerade die von Gray verwendeten Sounds, trotz gegebener Bezüge, den gegebenen Verlockungen aufgesetzter Retromanie zu verweigern. Nach einer Weile nimmt sich die Musikerin eine bereitstehende weiße E- Gitarre, um mit dieser mehreren, bereits übereinander laufenden Synthesizer-Linien weitere kleine Melodien hinzuzufügen. Zu hören sind dann unter anderem Terzen, wie sie unter anderem auch in Backgroundchören gerne verwendet werden; ein Lobgesang der Harmonie, der hier aber funktioniert.

Die grundlegende Frage dahinter, die von kritischen Geistern, einst insbesondere von Adorno ausgehend, immer wieder gestellt wird, ist an sich eine ganz simple, aber dennoch gewichtige:
Darf Musik heutzutage überhaupt noch so schön klingen?
Ist es nicht vielmehr schon lange Verrat an künstlerischer Sache und ästhetischem Anspruch dieser Art der musikalischen Harmonie zu huldigen, zumal vor dem Hintergrund der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse und vielleicht auch mehr oder weniger damit in Zusammenhang stehender persönlicher Problematiken?
Für die meisten Künstler_innen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts scheinen sich derartige Fragen gar nicht gestellt zu haben und so wirkt ihre Musik, ganz unabhängig von den jeweils gegebenen Zeitumständen, stets wohlklingend. Übersehen (und überhört) wird dabei, dass selbst deren Klänge, die wir heute generell als harmonisch empfinden, erst etabliert werden mussten; jegliche Musik war irgendwann Ars Nova.

Gerade in ihren gegenkulturell orientierten Segmenten steht populäre Musik in einem permanenten Spannungsverhältnis zu klassischen, aber auch eigenen Tradition der Harmonien und damit oft indizierter Harmonie. Vor dem Hintergrund sozialer Devianz oder auch politischer Dissidenz erscheint Musik viel mehr als Ausdruck der Verletzungen, Klage oder auch Anklage, was vielleicht am deutlichsten im Punk zu Tage trat. Allerdings sind selbst dessen Dissonanzen nur recht bedingt wirklich musikalischer Natur gewesen, sondern offenbarten sich vielmehr vor allem durch Habitus, Kleidung, Performance und Rezeptionsmodus. Aber selbst in den Subkulturen gibt es die mehr oder weniger durchgängig konsonant schwingende und Harmonie verbreitende Musik. Gerade derartige Klänge, seien sie in entsprechenden Segmenten des Ambient angesiedelt oder auch im Trance Techno, erscheinen jedoch dann oft auch als purer Eskapismus, zumal sie häufig an den Konsum von Drogen gekoppelt sind, daneben gelegentlich auch gerne esoterische Bezüge aufweisen.

All dies hat zunächst nur höchst bedingt mit dem eingangs kurz geschilderten Konzerterlebnis zu tun, dem unmittelbaren Genuss der Klänge und Rhythmen. Den könnte man durchaus auch für sich stehen lassen. Allerdings wird dies letztendlich nicht Anspruch und Zumutung der Sache gerecht, wenn auch jedes Urteil über Musik (oder andere Formen der Kunst) völlig zweifelsohne notwendigerweise eine Anmaßung darstellt, welche allerdings zentraler Teil kultureller Praxis ist – wir alle beurteilen stets. Denn mit dem Gang in die Öffentlichkeit machen Künstler_innen Statements, die Reaktionen wollen und auch verdienen und längst nicht nur der Applaus oder das nicht näher begründete „Hat mir gut gefallen!“ ist deren Brot.

Der Abend im Soyya wird an dieser Stelle daher zum Anlass genommen, einige weitergehende ästhetische Reflexionen über Harmonien und Harmonie im weiten Bereich der populären Musik zu skizzieren. Selbstverständlich gab es ihn ebenfalls, den wohl verdienten Beifall an jenem Abend: für Gray, aber auch für Non Vegan Melodies, den ersten Act der Veranstaltung.

Jenes Trio, bestehend aus Paul Lytton, Georg Wissel und Matthias Kaiser, hat mit Harmonien ebenso wenig am Hut, wie mit durchgängigem Rhythmus oder auch nur Melodien im Sinne von Tonfolgen mit einem gewissen Wiedererkennungswert – letzteres dem Bandnamen zum Trotz. Die Musiker setzen sämtliche musikalische Regeln bewusst außer Kraft, um völlig ungebunden interagieren zu können. Dabei wird das traditionelle Instrumentarium von Saxophon, Geige und Percussion immer wieder mit Hilfsmittels wie etwa Plastikbechern oder Metallplättchen präpariert beziehungsweise um das eine oder andere Utensil aus der Haushaltwarenabteilung des Supermarktes oder dem Baumarkt ergänzt. Dementsprechend pochte und ploppte es oder es knarrte, knallte, zischte und quäkte durch den Raum, ein einziger intensiver Trialog der Soundereignisse. Auch ein derartiger radikaler Ansatz freier Improvisation ist grundsätzlich alles andere als neu. Gleichwohl stellt aber jedes der Ergebnisse, die eine solche künstlerische Vorgehensweise zeitigt, notwendigerweise eine weitere und damit neue Momentaufnahme in Sachen musikalischer Dekonstruktion und kollektiver Klangforschung dar. Non Vegan Melodies inkludieren vielfach das nun einmal musikgeschichtlich emanzipierte Geräusch in ihre spannungsvolle und dadurch spannende musikalische Konversation. Der so entstehende Dreiklang der Gruppe ist aber ganz bewusst ein dissonanter.

Immens erweiterte technische Möglichkeiten bieten Künstler_innen wie Gray allerdings schon lange die Möglichkeit alleine aufzutreten und wie eine komplette Band zu klingen. Sogar die einzelnen Töne der Gitarre können somit, einmal in Echtzeit aufgenommen und in Endlosschleife abgespielt, zum Dreiklang werden, der bei ihr ein harmonischer ist. Auch in dieser Musik entstehen durch die Übereinanderlagerung von Patterns und Sounds durchaus auch Reibungen und Spannungen. Gleichwohl hat da jemand schlichtweg die Chuzpe eine Musik zu präsentieren, die einfach nur schön ist – und das ist gut so! Denn schöne Musik im Sinne überwiegend konsonanter Musik (über die diversen Facetten des Schönen, das schon lange gar nicht mehr wirklich schön sein muss, streiten sich die Geister bekanntlich gerne) erscheint im Allgemeinen doch oft eher als uncool, gerät schnell gar mehr oder weniger in Verdacht: sie sei allzu oberflächlich, mit allzu wenig künstlerischem Tiefgang (da zu wenig unbedingt erwartetes Leiden ausdrückend), würde eine allzu einfache Rezeption anstreben, es ginge ihr am Ende gar um Konsum (von was auch immer) und Kommerz. All das gibt es, völlig zweifelsohne, zumal im musikindustriell produzierten Übermaß. Aber dies rechtfertigt eben noch lange kein grundsätzliches Verdikt des harmonisch Schönen; die Auslassungen der Urteilenden bedürfen grundsätzlich der vorherigen Einlassung auf das konkret Gegebene.

Interessanterweise kombinierte das unlängst im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Köln ist kaput“ präsentierte Line-Up zwei Extreme miteinander. Zum einen eine Musik, welche sich mangels musikalischer Konventionen unmittelbaren Zugängen zu entziehen sucht, zum anderen eine, die eben angesichts der Verwendung konventioneller Mittel vermeintlich leicht erschließbar erscheint. Aber längst nicht nur diese ungewöhnliche Verbindung ist an sich von Interesse. Denn auch die Musik spricht, zunächst für sich selbst. Auch ohne gesungene Texte ist sie im übertragenen Sinne mehr oder wenig deutlich lesbarer, vor allem aber auch emotional zugänglicher Text. Musik ,spricht’ aber stets auch durch das Drumherum, wie etwa die Cover oder auch nur Formate ihrer Veröffentlichung, die sonstige Form ihrer visuellen Darbietung wie etwa Performance oder auch Outfit der Beteiligten. Und so werden unter anderem auch die jeweiligen Instrumente zu Zeichen mit expliziten oder impliziten Bedeutungen vor dem Hintergrund entsprechender kulturell etablierter Codes- ein Saxophon mit einem leeren Trinkbecher im Schalltrichter hat schon rein visuell eine andere Message als die weiße E-Gitarre von Gray.

Diese Gitarre der Marke Epiphone, ist ein Nachbau der Gibson Les Paul, eines Modells, das sehr häufig in diversen Varianten des Rock Verwendung findet. Die Künstlerin speist ihr Instrument mit hellem klaren Sound direkt in ihr sonstiges elektronisches Instrumentarium ein und versieht das Signal lediglich mit etwas Hall. Auch darüber hinaus entsagt sie sich völlig der gegebenen und dominierenden Tradition von verzerrten Klängen und ekstatischer bis peinlicher Darbietung. Auch für derartigen Verzicht bietet die mittlerweile lange Geschichte populärer Musik durchaus Referenzpunkte wie etwa Manuel Göttsching, Michael Rother oder auch Mike Oldfield. Vielleicht stellt deren Gitarrenspiel und Musik für Gray sogar das dar, was in Interviews oder auch Reviews und Features so gerne unter der zumeist unscharf bleibenden Kategorie „Einfluss“ erwähnt wird. An dieser Stelle geht es aber um den Einsatz der Gitarre in ihrer Musik an sich und nicht um eventuell vorhandene bewusste oder auch lediglich unbewusste Bezugnahmen. Die weiße Epiphone schafft zusätzliche Soundoptionen, ihre Verwendung stellt aber auch darüber hinaus eine bezeichnende Aussage dar. Denn es bräuchte es dieser Gitarre eigentlich doch gar nicht. Musikalisch und handwerklich ist das Instrument degradiert, ein eher unwichtiger Teil des Ganzen, der letztendlich leicht durch weitere Keyboardparts oder auch Samples von Gitarrenparts ersetzt werden könnte, visuell fungiert sie aber als zentrales Requisit einer coolen Performance, die vielleicht gar keine sein will – und auch das ist gut so!

Es ist jedoch längst nicht nur der soziale und visuelle Rahmen dieses Abends und dieser schönen Musik von Gray und die sich daraus ergebende Dissonanz, welche den hier angestimmten Lobgesang der Harmonie gestattet. Vielmehr sind auch die von der Künstlerin verwendeten Sounds und deren oft subtile Übereinanderlagerung ebenso erwähnenswert sowie die Stimmungen, die diese auszudrücken und zu evozieren vermag. Gerade im Bereich der elektronischen Musik werden immer wieder Soundexplorationen unternommen, wenn auch ganz andere als etwa bei Non Vegan Melodies. Trotzdem geht es in beiden Fällen um eine intensive Auseinandersetzung mit dem eigentlichen Material der Musik, dem Klang. Welche intentionale Anordnung der dabei für gut befundenen Klangereignisse dann künstlerisch jeweils präferiert wird, ob Pop oder Experiment, ist am Ende dieses Tages im Kölner Soyya (und darüber hinaus) vielleicht gar nicht so wichtig, wenn es nur jeweils so überzeugend geschieht, wie hier präsentiert.

Zur weiteren Lektüre empfohlen:

Adorno, Theodor. W. (2003 [1970]). Ästhetische Theorie. Frankfurt: Suhrkamp.

Eco, Umberto (Hg.) (2006). Die Geschichte der Schönheit. München: Dtv.

Frith, Simon (1996). Performing Rites. On The Value Of Popular Music. Cambridge (Mass.).:
Harvard University Press.

Hebdige, Dick (1988 [1979]). Subculture. The Meaning of Style. London, New York:
Routledge.

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