Es muss nicht immer alles klar definiert sein!
Mit seinem Bandprojekt Richie Dagger’s Crime verbindet der in Seattle lebende Musiker Richie Nelson Einflüsse aus R&B, Soul, psychedelischem Funk und Ambient Musik . Dass Nelson eine klassische Ausbildung hat und unkonventionelle Produktionstechniken nutzt, definiert seinen eindringlichen und Genre übergreifenden eigenen Stil, was man auf der im Sommer veröffentlichte EP “Tenderness”, die Cover von stilistisch so unterschiedlichen Bands wie Joe Jackson, Jamie XX und Gonjasufi enthält, nachhaltig nach hören kann.
Wegen des neunstündigen Zeitunterschiedes zwischen Seattle und Köln trinke ich gerade mein Feierabendbier, als mir Richie Nelson mit dem Morgenkaffee in der Hand quasi zur selben Zeit, aber zu unterschiedlichen Tageszeiten bei Skype gegenüber sitzt.
Kennengelernt habe ich Richie als er gerade mal neunzehn Jahre alt war und mit nerdiger Brille, buntem Pulli und unglaublich interessiertem Blick bei mir im Seminarraum an der University of Washington in der ersten Reihe saß. Während meiner drei Jahre langen Lehrtätigkeit als Teaching Assistant am Department of Germanics blieb er mein Schüler, absolvierte bei mir seine Bachelorarbeit und die Jahre danach entwickelte sich eine Freundschaft. Auch aufgrund ähnlicher musikalischer Interessen hielten wir, trotz der großen Distanz Kontakt, als ich zurück nach Köln zog.
Richie, das letzte Mal als ich Seattle besucht und mit dir Zeit verbracht habe, muss so um die drei Jahre her sein. Du hattest gerade ein Label gegründet.
Ja, ich habe mit meinem besten Freund das Label CTPAK Records gegründet. Es ist allerdings ein bisschen schwierig, weil man bei einem Label auch Leute braucht, die sich um die Organisation kümmern, also um Verkauf, Marketing, Presse und so weiter. Wir sind ein Kollektiv von ungefähr 20 Leuten und wir alle wollen lieber nur Künstler_innen sein. Es läuft aber, wir veröffentlichen Musik online, auf CD und Kassette. Im Kremwerk, einem Nightclub, der viele queere Events veranstaltet und in dem viel elektronische Musik gespielt wird, hatten wir eine zeitlang eine monatliche Partyreihe – aber leider mussten wir pausieren. Ich stelle aber weiterhin Shows mit meiner Band zusammen, für die wir andere Bands und DJs buchen.
Deine Band Richie Dagger’s Crime ist der Grund, warum wir heute skypen. Warum hast du den Bandnamen nach einem Song der Punkband The Germs aus den 70ern gewählt? Dein Name ist Richie, Kurzform für Richard, aber das kann doch nicht der einzige Grund gewesen sein, oder?
Ich schätze, das war die erste direkte Verbindung dazu, doch. Meine erste Musikliebe war Punk, von da aus habe ich mich musikalisch entwickelt. Davor habe ich nur Top-40-Rocksongs als Kind im Radio gehört und dann Orchestermusik gespielt, aber das war alles nie wirklich interessant für mich. Also ist der Name auch eine Ode an diese Punk-Wurzeln. Aber stilistisch fühle ich mich orientierungslos, in einer Form steckenzubleiben, so funktioniert mein Kopf einfach nicht. Ich finde es wirklich bewundernswert, wenn Künstler_innen ein Album aufnehmen und ich einen handfesten Stil heraushören kann, aber das ist nicht das, was ich bei meinem Projekt vorhabe. Einen Bandnamen zu haben, der aus einem Genre kommt, welches das komplette Gegenteil meines Sounds ist, verwirrt die Leute und es öffnet ihre Horizonte, es muss nicht immer alles klar definiert sein!
Auch wenn deine Musik stilistisch nicht Punk ist, dein Mindset ist es.
Ja, ich denke, stilistisch nicht festgelegt zu sein, ist Punkrock auf eine Weise. Unsere EP “Tenderness” ist bisher das Eindeutigste und Poppigste, was ich je gemacht habe. Das war eine Erweiterung und eine Herausforderung für mich.
Inwieweit war deine Band beim Entstehungsprozess der EP beteiligt?
Die Band agiert wie eine Funkgroup. Nicht so sehr, was die Musik selbst angeht, aber bei unseren Auftritten und Proben entsteht viel im Spiel. Ich habe aufgehört, die meisten Musikinstrumente selbst zu performen, das machen die anderen Musiker_innen und ich konzentriere mich darauf, Frontman zu sein. Das ist neu für mich. Ich lerne noch, eine Bühnenpersönlichkeit zu sein. Ich bin schüchtern und bekomme ziemliches Lampenfieber, aber wir alle haben uns im Laufe der Shows entwickelt, ebenso die finale Bandbesetzung. Die Bandmitglieder habe ich durch Freunde und Freundesfreunde gefunden, manche gingen wieder, manche blieben. Und jetzt sind wir fast eine Familie, wir funktionieren zusammen. Die meisten Songs schreibe ich selbst und gebe die Noten im Anschluss an die Bandmitglieder und dann verbringen wir ein paar Monate damit, alles zu optimieren. Also ist die EP, sowie alles andere, auch eine Kollaboration.
Du hast es angesprochen: Richie Dagger’s Crime entsteht aus einem großen Pool an eklektischen Musiker_innen aus Seattle heraus. Zum Beispiel sind Eric Padget (Vince Mira, Devotchka, Corespondents), Chris Anderson (Gorillaz, Mos Def) und Coreena dabei. An Songwriter_innen fehlt es also nicht Wie kam es gerade vor diesem Hintergrund zur Idee, eine Ep mit Coverversionen aufzunehmen.
Die EP ist mit meinem guten Freund Kjell Nelson entstanden,der als Produzent fungierte. Normalerweise produziere ich selbst, das war also ein kleines Experiment, das viel Freude bereitet hat. Kjell hat Styles hinzugefügt, die ich normalerweise nicht nutze. Ein großer Teil dessen prägt das Covern oder besser die Reinterpretation der verschiedenen Songs. “Just a little bit” ist zum Beispiel kein Cover bis zur Bridge. Die Gesangsmelodie der Bridge ist eine Interpretation von “Tell me” von Groove Theory. Und “It’s only noise” ist im Grunde ein Jamie XX Song, der aber keinen Gesang im Original hat, diesen habe ich hinzugefügt. Wir haben je ein kleines Sample des Originalsongs genommen und darauf aufgebaut.
Du hast unter anderem Songs von Joe Jackson, Jamie XX und Gonjasufi gecovert. Hast du Feedback von einigen der Musiker_innen, die du reinterpretiert hast, bekommen?
Natürlich habe ich zunächst von allen die Erlaubnis zur Verarbeitung ihrer Musik erfragt. Von Gonjasufi habe ich gehört, dass er “Sheep” sehr gern mochte. Dave Wakeling von General Public hat “Tenderness” auch gut gefallen. “Chloe Dancer” wurde ja von Andy Wood, der ja leider nicht mehr lebt, für Mother Love Bone geschrieben – aber Sean Smith, ein großartiger Songschreiber und Sänger aus Seattle, der Andy Wood gut kannte, schaute bei der Aufnahme vorbei und gab uns positives Feedback und somit quasi die Erlaubnis.
Kannst du ein paar Worte zu der professionellen Tänzerin im Video zu “Sheep” sagen?
Die Tänzerin ist The Lady B, eine wundervolle Dragqueen-Künstlerin. In Seattle ist sie Kult. Ich kenne sie durch das LGBT-Künstlerkollektiv Lion’s Main, dem einige meiner Freunde angehören. Sie ist der Star des Videos.
Empfindest du den Auftritt von Lady B als politisches Statement?
Ja, ich finde das Video sehr politisch. Es ist metaphorisch dafür, wer wirklich frei als er/sie selbst lebt. The Lady B verkörpert diese Erfahrung inmitten all derjenigen, die an ihren Smartphones hängen. Wir nehmen Politik viel über unsere Bildschirme wahr. Es geht doch bei Politik darum, uns frei bewegen und ausdrücken zu dürfen und ohne Unterdrückung zu leben. Es ist egal, auf welcher Seite man steht, das ist das, wonach jeder strebt. Schafe in der Herde wissen manchmal nicht, dass sie gar nicht so individuell dem Hirten hinterherblöken und doch nur Teil einer Gruppe sind. Ist das bei uns nicht ähnlich? Das ganze Video handelt von dem Schäfer, den Schafen und dem Löwen. Und man fragt sich, wer wen in dem Video verkörpert. Das finde ich aber auch gut so, denn schlussendlich bist du einfach du und es ist wichtig, sich nicht in fest strukturierten Rahmen zu verzetteln, das macht einen doch nur wirr.
Du warst der einzige Studierende in meinen Seminaren, der die männliche und weibliche Form des Deutschen konstant verwendet hat. Ich fand es sehr mutig, weil du dadurch mehr Fehler gemacht hast als andere. Ich fand es aber auch sehr gut, weil du damit die Wichtigkeit von Gender equality deutlich zum Ausdruck gebracht hast.
Das ist ja super. Ich weiß das gar nicht mehr so genau, und weiß auch nicht, ob ich völlig verstanden habe, was ich da tat, als ich die deutsche Sprache auf diese Art und Weise verwendet habe. Aber in der Tat reflektiert es meinen Standpunkt.
Träumen und danach streben, derjenige/diejenige zu sein, der/die man sein will, das findet sich als narratives Motiv auch in deinem neuen Musikvideo zu “Steppin’ Out”, einem Cover von Joe Jackson. Es gibt eine magisch-realistische Nahtstelle zwischen der realen Welt und einer Traumwelt. Das Video bietet insofern eine interessante Analyse des Originalsongs.
Ich denke, das Musikvideo handelt von Liebe und einer magischen Welt, aber wenn man es direkt interpretiert, kann man die Verhaltensweise der Hauptfigur auch als Stalking deuten. Das finde ich allerdings etwas riskant. Das kam aber irgendwie am Ende dabei heraus. Dennoch finde ich, dass Kameramann Danger Charles und Produzent Lucas Celler ein guter Film gelungen ist.
Es war ein ziemlich verrückter Shoot. Wir haben uns gemeinsam zwei Tage vorbereitet und dann fünf Nächte gedreht. Wir haben diese Woche alle in meinem Studio geschlafen, sind um 14 Uhr aufgewacht und haben um 16 Uhr angefangen zu arbeiten, weil wir im Dunkeln drehen mussten. Der Taxifahrer war super. Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir mitten in der Nacht drehen müssen, aber die Sonne ging so spät erst unter. Wir hatten ihn im Vorhinein engagiert und ich habe mich etwas schlecht gefühlt, da er Familie hat. Aber er hatte wohl auch viel Spaß und er mag den Originalsong sehr. Das Stressigste aber war der Shot vom “Public Market Center” Neonschild am Seattler Pike Place Markt. Gegenüber auf der 1st Avenue ist ein Taxihaltestand, auf dem wir geparkt haben. Eigentlich ist er aber für Taxen gedacht, die dort kurzzeitig stehen und Leute aus dem Stripclub gegenüber abholen. Wir mussten aber dort halten, um das Neonschild aufnehmen zu können. Ständig haben Leute uns angeschrien. Ich bin überrascht, dass die Polizei uns keinmal angehalten hat. Auch weil wir manchmal mitten auf der Straße stoppen mussten, um die Autofahrt und die Lyrics anzupassen. Es ist aber alles gut gegangen. Und ich hab mein Ziel erreicht, dass Seattle aussieht wie eine richtig große Stadt.
Große Stadt, große Ziele. Ich hörte du planst eine Albumveröffentlichung.
Zunächst werde ich im November zwei Songs daraus auskoppeln – das gesamte 15-Track Album erscheint hoffentlich im Februar oder März. Auf unserer bandcamp-Seite und bei CTPAK.org kann man die Musik als mp3, CD oder Kassette kaufen – eine Vinyl-Edition ist ebenfalls angedacht.
Richie, hast du so etwas wie einen großen Traum für deine Karriere?
Ich genieße es, Musik zu machen. Ich empfinde es als ein großes Privileg, einen Song zu notieren und danach die Band einzuladen ihn für mich zu interpretieren. . Ich hab wirklich Glück und freu mich darüber.