Record of the Week

Der Englische Garten “Bei Tag und Nacht” Tapete Records

Der Englische Garten
“Bei Tag und Nacht”
Tapete Records

Bernd Hartwich, der zu den Gründungsmitgliedern von Der Englische Garten gehört, ist vor wenigen Tagen gestorben. Ich kannte ihn nicht, aber alle Nachrufe, die sich mit ihm befassen, lassen keinen anderen Schluss zu als den, dass er ein super Typ gewesen sein muss.

Mit den Merricks trug Bernd Hartwich in den 1990er Jahren dazu bei, der scheinbaren Allgegenwart der Hamburger Musikszene ein Münchner Äquivalent zur Seite zu stellen, etwa in Form des Albums „The Sound Of Munich“ (1997), das sich offensiv auf die Disco-Vergangenheit der Stadt berief. Dass das darauffolgende Album „Escape From Planet Munich“ hieß, mag andeuten, dass Konsistenz und Kontinuität Hartwichs Sache nicht waren, vielleicht auch aus dem Grund, dass diese Begriffe bei analytischer Betrachtung genauso gut für Stillstand und langweilige Routine stehen können (Vergleiche den Nachruf von Michael Bartle auf br.de).
Auf taz.de schreibt Julian Weber, dass Hartwich bis zuletzt als Nachtportier in einem Hotel gearbeitet habe. Das zeigt, dass Hartwich sich mit voller Hingabe der Musik gewidmet hat, sei es als Musiker, Produzent (auch des vorliegenden Albums) oder DJ: Nur ein wahrer Besessener lässt sich nicht ablenken von einer bürgerlichen Karriere in der wirklichen Welt (die sich ohnehin zusehends destabilisiert).

Auch wenn es heißt, Bernd Hartwich habe immer wieder neue Genres und Spielarten der Musik entdeckt, denen er seine Aufmerksamkeit angedeihen ließ, gelten doch Madness und NRBQ als diejenigen Bands, die für ihn einen besonderen Stellenwert einnehmen. Auf facebook notiert Thomas Meinecke, der das bereits erwähnte Merricks-Album „The Sound of Munich“ produzierte und eng mit dem Musiker befreundet war, Hartwichs Lieblingsstück von NRBQ sei „Magnet“ gewesen. Wer das Stückt kennt, wird das sofort verstehen. Sowohl textlich als auch musikalisch ist der Song in einem Spannungsfeld aus Nähe und Distanz situiert, das enorm anziehend wirkt. „Magnet“ ist völlig unsentimental und gleitet stattdessen spielerisch zwischen Extremen hin und her, ohne sich entscheiden zu müssen. Dadurch entsteht eine Leichtigkeit, die der Welt ein bisschen entrückt ist.

Das ist ein Zustand, der sich auch auf dem neuen Album von Der Englische Garten abzeichnet. Das Songwriting nimmt sich so verfeinert und distinguiert aus, dass die Grobheit des Alltags ins Abseits zu geraten scheint. „Bei Tag und Nacht“ imaginiert sich in Gegenwelten hinein, bei „München 70“ werden die Songtexte als Schauplatz alter Folgen von „Der Kommissar“ entworfen – wir sehen Tommi Piper und Sabine Sinjen als Hippies in Schwabing vor uns.  Die Musik dazu ist perfekt ausbalanciert zwischen einer grazil schwebenden Qualität und einer druckvollen Präsenz, die in hohem Maße über die tollen Bläsersätze kreiert wird. Kenntnisreich zitiert Der Englische Garten coole Musik aus Brasilien (Samba), Jamaica (Ska), Nordamerika (Soul), Trinidad (Calypso) und verknüpft sie zu schwungvoll universaler Popmusik. Die Tendenz zu Verfeinerung bewirkt, dass die Melodien sich nicht aufdrängen, sondern heranschleichen.

Dennoch strahlt diese Musik nichts Verhuschtes aus, ist in jedem Moment ganz da und zum sofortigen Gebrauch bestimmt. Auch wenn es sich womöglich ein wenig bemüht und konstruiert liest (als müssten Bernd Hartwichs Vorlieben einen konkreten Widerhall in der Musik seiner Band finden! Aber es IST ja auch so, glaube ich) besteht hier eine Parallele zu Madness, deren Songs auf einer Oberflächenebene stets als Gebrauchspop wahrgenommen werden können, sich aber immanent auf erhöhtem Komplexitätsniveau bewegen (vergleiche etwa „One Better Day“). Was in dieser Hinsicht verfolgt wird, ist ein Ansatz, der Können nicht ausstellt, sondern verschleiert durch Leichtigkeit und Laissez-faire. Ziemlich sympathisch.

Dabei sollte nicht der Eindruck entstehen, dass dieses Album gänzlich frei sei von Widersprüchen und Divergenzen. In „Ruf doch mal an“, einem meiner Lieblingsstücke (interessant auch hier wieder der Bezug auf die 70er Jahre – mit dem Spruch „Ruf doch mal an“ warben früher Telefonzellen dafür, benutzt zu werden), kontrastiert die luftige Flüchtigkeit der Musik mit der im Text verhandelten schwerwiegenden Angst vor Jobverlust, was im Effekt dazu führt, dass weder Luftigkeit noch Schwere dominieren kann. Der Englische Garten flaniert durch Zwischenräume bewusst gewählter Unentschiedenheit, und es klingt total klasse.
Mario Lasar

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