Mutter – „30 Jahre Hauptsache Musik“
Ein Beitrag von Ralf Krämer
„Weil du heut’ Geburtstag hast, ist bei uns was los!“
Warum sollte das nur für Kindergeburtstage gelten? Auch bei Plattenfirmen ist mittlerweile die Freude groß, wenn sich die Veröffentlichungsdaten ihrer Tonträger jähren. Dann hagelt es „Geschenke“, in Form von längst bekanntem, oft aufpoliertem Material, das – gerne mit ein paar Zugaben und in Vitrinen-tauglicher Verpackung – einmal mehr auf den Markt geworfen wird. So klettern gerade Wham! und die Rolling Stones auf dem Jubiläumsticket die Verkaufscharts hoch. Nun hat sich hier auch noch die Berliner Band Mutter eingereiht und feiert den 30. Geburtstag ihres Albums „Hauptsache Musik“ mit einer „aufwendigen Box“. Wird hier nicht der Albumtitel als überholt entlarvt? Oder gar als nostalgische Lüge?
Davon, dass Musik die Hauptsache ist, kann sicher nicht die Rede sein, wenn demnächst zu ihrem 40. Geburtstag die Wham!-Single „Last Christmas“ für knappe 30 Euro zu haben sein wird. Da erscheint es wie ein Schnäppchen, wenn die Rolling Stones bereits den ersten Geburtstag ihres Albums „Hackney Diamonds“ mit einer „Limited First Anniversary Package“-Doppel-LP zum Preis von 44,99 € feiern. Im Schnitt noch mehr für’s Geld bekommt, wer auch nach 25 Jahren noch nicht genug von „The K&D Sessions“ von Kruder&Dorfmeister hat. Deren „Anniversary Edition“ wartet für gut 90 Euro mit nicht weniger als 6 LPs auf.
Studiert man hin und wieder die Verkaufscharts einschlägiger Versandhandel, entsteht der Eindruck, dass eine ganze Industrie dabei ist, sich an der chronischen Nostalgie einer Wohlstandshörerschaft gesund zu stoßen. Und wenn gerade kein eigenes Jubiläum zur Hand ist, leiht man sich einfach den Geburtstag eines Religionsstifters, um etwa die Veröffentlichung von „The Jethro Tull Christmas Album – Fresh Snow At Christmas (Limited Deluxe Mediabook)“ drei Wochen vor Weihnachten zu rechtfertigen. Oder man sorgt gleich selbst für die eigene Wiedergeburt und schenkt sich zur „erstmaligen Neuabmischung der originalen Mehrspur-Master“ von „Queen 1“ eine „Limited Super Deluxe Collector’s Edition“ mit sechs CDs, einer LP plus Buch für knapp 175 €. Das hätte zuletzt nicht mal für zwei Innenraum-Tickets für die Tribute-Band One Vision of Queen gereicht.
In dieses große Game um die letzten freien Zentimeter in den heimischen Medienregalen steigen nun also auch Mutter ein, jene Berliner Band mit Wolfsburger Hintergrund, der man bekanntlich vieles zutraut (gerade erst hat sich ihr Albumtitel „Europa gegen Amerika“ aus dem Jahr 2001 einmal mehr als prophetisch erwiesen).
Aber das? Der 30. Geburtstag von „Hauptsache Musik“ wird mit einer „aufwendigen Box“ begangen, inkl. „4 CDs, 1 Vinyl, einer Beilage und Postkarte.“ Das Album wird ja gerne den Skeptischen entgegengehalten, die mit der Band um Frontmann Max Müller vor allem ins Mark gehenden Rock verbinden, der schwer ist, hart, schwitzend, laut, tendenziell unbequem: „Hör doch mal! Zu „Die Erde wird der schönste Platz im All“ kann man ganz wunderbar auf Hochzeiten tanzen.“ Im körnigen Musikvideo zu Mutters „größtem Hit“ sieht Max Müller auch gar nicht mehr wie Christian Bale in „The Machinist“ aus, sondern wie Noel Gallagher, dessen Band bekanntlich im Jahr der Erstveröffentlichung von „Hauptsache Musik“ selbst mit dem ersten Album an den Start ging. Sollten sich Oasis etwa hier ein Beispiel genommen haben, möglicherweise, weil sich Noel und Liam mit der Mutter-Platte aus dem Vorjahr „Du bist nicht mein Bruder“ besonders gut identifizieren konnten? Definitely Maybe. Was wäre passiert, wenn eine Sendung wie „Wetten, daß?“ den Song mit dem „Schönsten Platz im All“ einfach mal einem Millionenpublikum vorgestellt hätte? Wer weiß?
Und schon steht die Überleitung zu den Fragen: Was war das eigentlich für ein Album, dieses „Hauptsache Musik“? Hat es seinen Ruf der Zugänglichkeit zurecht? Beim Wiederhören, auch unter dem Eindruck der fünf jüngeren, musikalisch relativ geschlossenen Mutter-Alben aus den letzten zehn Jahren, fällt auf, dass „Hauptsache Musik“ sich keineswegs auf seine „Zugänglichkeit“ beschränken lässt. Vielmehr handelt es sich hier um ein Meisterwerk des konzeptionellen Eklektizismus. Zu den meisten der 21 Songs stellen sich umgehend Assoziationen mit herausragenden Melodien, Mustern und Klangfarben aus der populären Musik zurückliegender Jahrzehnte ein. Bereits beim Auftakt „Freunde und Freundinnen“ klingt die Geige von Gastmusikerin Gudrid Bassir verdächtig nach Scarlet Rivera, Bob Dylans Violinistin aus der Mitte der 1970e Jahre. Gleich darauf erinnert „Jeder weiß etwas“ mit einem dezent swingenden, entspannten Singsang wie Yo La Tengo. Das hinreißend verschlurfte „Wer ist das Mädchen“ geht als freie Aneignung der Eurythmics-Single „Who’s that girl“ in LP-Geschwindigkeit durch. Und so weiter.
„Hauptsache Musik“ – dieser Titel soll ja auf ein Shopping-Erlebnis von Jörg Buttgereit zurückgehen. Auf einem Berliner Flohmarkt habe der Berliner Regisseur, Autor und Godzilla-Experte die Vinyl-Angebote eines türkischen Händlers durchstöbert. Als er ohne Ergebnis weitergehen wollte, soll der Händler nach dem Warum? gefragt haben. Es sei nichts für seinen Geschmack dabei, meinte Buttgereit, worauf der Händler mit den Worten konterte: „Ist doch egal. Hauptsache, Musik!“ Und ja, auch heute stellt sich beim Hören dieses Werks jenes Gefühl an, das einem beim Durchblättern einer Plattenkiste mit Schnäppchen überkommen kann: Jedes Cover eine eigene Welt, manche erschließen sich sofort, man lacht, gruselt sich, blättert rasch weiter, oder noch einmal zurück. Auch im Laufe dieses einen Mutter-Albums wird eben eine große Bandbreite populärer Musik abgebildet, von Noise bis irgendwas mit Schlager. Weitere Beispiele: In „Was sich zu sehen lohnt“ wirkt die repititiv gniedelnde Geige, als hätte man sie im Velvet Underground ausgebuddelt. „Leben wie in einem 50er Jahre Heimat“ – nomen est omen – verweist mit seinem einlullenden Singsang über einem Teppich aus verhallten Westerngitarren und Keyboardsounds zugleich zurück und nach vorn, auf das Heinz-Rühmann-Cover „Regenwurm,“ das 18 Jahre später auf dem Mutter-Album „Mein kleiner Krieg“ für Grusel sorgen sollte.
Soweit zum 1994 erschienenen Album. Es läge nahe, in der nun vorliegenden Box nicht mehr zu vermuten, als eben dieses, ergänzt durch ein Sammelsurium aus mehr oder weniger interessantem, zusätzlichen Material. Aber: Weit gefehlt. Die ursprüngliche Version von „Hauptsache Musik“ ist hier gar nicht enthalten. Vielmehr hat Frank Behnke, ehemaliger Gitarrist und nun Verwalter vom bandeigenen „Archiv des Grauens“ die Songs des Albums noch einmal zusammengestellt, allerdings mit Takes vom „Camp Fire“, Demos, Live-Versionen von Mutter-Konzerten und Cover-Versionen anderer (eher obskurer) Bands (u.a. Skin&Bones feat. Margit Pirsch). Davon wird hier etliches zum ersten Mal veröffentlicht, einiges war vor vier Jahren, allerdings nur als Download, auf dem erweiterten Re-Release „Meine Hauptsache? Musik!“ erschienen. Dabei lässt einmal mehr „Elton John“ aufhorchen, ein Art Country-Talkin’-Blues, in dem über Weltberühmtheit als Fessel sinniert wird, als das Einzige, das möglicherweise jemanden wie Elton John daran hindern könnte, etwas „absolut böses“ zu tun. Eine hübsch naive Kuriosität, die auch Anlass gibt, auf „Vermächtnis“ zu verweisen, eine atmosphärisch ähnliche, aber ungleich dringlichere Wutbürger-Variante von Becketts „Letztem Band“. In der Kurzfassung erschien dieser manische Monolog bereits 1999 auf Max Müllers Soloalbum „Endlich Tot“. Ende letzten Jahres gab es die Langfassung als CD-Beilage zu Müllers Kunstband „Mein Vermächtnis“, in dem der multipel begabte Künstler Acrylbilder von uniformierten Nationalsozialisten und dem unschuldig schmunzelnden Heinz Rühmann minimalistische Filzstiftskizzen von Kriegsszenen gegenüberstellt. Auch im Vergleich zu diesem sezierenden Blick in die dunkle Seele Deutschlands fällt auf, wie leicht und beschwingt „Hauptsache Musik“ daherkommt.
Von einigen düsteren Ausreißern abgesehen klingt diese Songs auch in ihren „neuen“ Versionen wie ein Soundtrack zu einem Film namens: „Die eher unbeschwerten Jahren in Berlin, Mitte der 1990er.“ Unter großem Tamm-Tamm zogen 1994 die Alliierten aus der Stadt ab. Nach der Hektik des politischen Umbruchs hatte man noch ein paar entspannte Jahre, vor dem großen Hype mit Billigfliegern und Regierungsumzug. Und während in der nostalgischen Rückschau damals ganz Berlin ein einziger Technoclub gewesen zu sein scheint, erinnert „Hauptsache Musik“ nun einmal mehr daran, dass Füße nicht ausschließlich zum Tanzen gemacht sind, sondern auch ganz wunderbar hochgelegt werden können.
Vor rückhaltloser Entspannung bewahren dabei die doppelten Böden. Der Track „Es ist nur Musik“ liefert (nun ohne versetzten Chorgesang) den Kontrapunkt zum programmatischen Albumtitel. Und prägnanter als in „Ihr seid alle schön“ mit dem fiesen, der Titelzeile hintenangestellten „für mich“, lässt sich der weltumarmende Hedonismus jener Zeit wohl nicht auf den Punkt bringen. Nicht von ungefähr zählt dieser geniale Song zu den wenigen älteren Nummern, die Mutter bis in jüngste Zeit immer wieder auch auf ihren Konzerten gespielt haben – als bejubelte Live-Version mit Whitney-Houston-Gedächtnis-Keyboard scheint sie nun vom großen Scheitern positiver Affirmation zu zeugen. Bedrückend. Hinreißend.
Haben wir es bei „30 Jahre Hauptsache Musik“ (die beiliegende Vinyl-Scheibe fasst die vier CDs noch einmal zu einem „Best Of“ zusammen) also mit einem der raren „guten“ Fälle von Tonträger-Upcycling zu tun? Sollte man alle anderen Jubiläums-Edition als blöden Kommerz verdammen? Naja, vielen Fans dürfte es ziemlich egal sein, solange noch das Gefühl überwiegt, dass sie für ihr Geld einen tatsächlichen Mehrwert bekommen und nicht einfach abgezockt werden. Wer darüber hinaus nach Zeichen der Zeit in der Veröffentlichungspolitik von Plattenfirmen und der Preispolitik von Konzertveranstaltenden sucht, könnte zu dem Schluß kommen, dass die Klassengesellschaft sich natürlich auch in der Zugänglichkeit von Populärkultur immer stärker zeigt. Die größeren Hallen werden von Acts belegt, die sich immer weniger Menschen leisten können. Pop- und Rock-Konzerte als Statussymbol laufen dem (hoch subventionierten) Opernbesuch den Rang ab. Zugleich werden die Archive geplündert, Outtakes und Alternativversionen der Fangemeinde vorgelegt, als würde man die ursprüngliche Auswahl der Verantwortlichen relativieren und es dem Publikum überlassen, selbst zu entscheiden, welche Version eines Songs denn nun die mit dem größten Hörwert sei. Das kann man als anti-kuratorischen, pseudo-demokratischen Luxus für Vielverdiener mit zu viel Freizeit belächeln, oder einfach als zwangsläufige Konsequenz aus der ansonsten nahezu totalen Verfügbarkeit von (komprimierter, statt aufwendig verpackter) Musik im digitalen Zeitalter abnicken.
Mutter, soviel dürfte deutlich geworden sein, gehen auch hier ihren eigenen Weg. Ihre seltenen Konzerte blieben bislang mindestens erschwinglich, sind manchmal sogar umsonst, wie unlängst auf einem Open-Air-Konzert im Rahmen eines Straßenfestes in Berlin-Mitte. Anders gesagt: Wenn sie den Regeln eines Marktes folgen, dann sind es eher die des Kunstmarktes. Die „30 Jahre Hauptsache Musik“-Box wird auf nachhaltigem Weg vertrieben: Sie ist auf 100 Stück limitiert und wird nur auf Bestellung vom Label Minimalkombinat einzeln handgeklöppelt. Den Preis erfährt man auf Nachfrage. Vielleicht gibt es ja Ermäßigung für Bedürftige – beim Soli-Preis ist die Grenze nach oben bekanntlich offen.
„30 Jahre Hauptsache Musik“, seit 3.10.2024 bei Minimalkombinat