Nagel

Unterwegs zu dir

Sein aktuelles Buch trägt den Titel “Drive-By-Shots”. Er den Namen Nagel.
Für Kaput berichtet er täglich von seiner aktuellen Lesetour, gut dosiert mit einem Bild und ein paar Gedanken dazu. 

Erster Tourtag, 23.03.2015, Frankfurt, Brotfabrik.

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Als ich vor gut einem Jahr in „Mainhattan“ (Insider) zu Gast war, um mit Oliver Koletzki und dem hr-Sinfonieorchester in der Jahrhunderthalle einen Song über Rausch, Klokabinen und Dopaminmangel vorzutragen, da wurde tags drauf in FFM-City unter großem Zuschauerandrang der Uni-Turm gesprengt. Ich kam gerade aus dem beliebten Offenbacher Technotempel Robert Johnson und musste den letzten Kilometer zum Hotel wegen Vollsperrung zu Fuß zurücklegen. Na, da haben wir uns gegenseitig vielleicht neugierig gemustert, der Frankfurter Frühaufsteher und ich!
Vor ein paar Tagen erst wurde dann ja unter großem (Blockupy-)Zuschauerandrang der neue EZB-Turm gesprengt. Na ja, fast. Ganz schön was los in der ewig eigentlichen Hauptstadt, wo die Hotels am Wochenende nur die Hälfte kosten und Restaurants als Ruhetag gerne den Sonntag wählen.
Zum Glück war ich diesmal an einem Montag dort.
Ein früher Feierabend in der Brotfabrik, so dass ich pünktlich um 23 Uhr an einem Stehausschank im Bahnhofsviertel den Jörg-Fauser-Literaturpreis für die dreistesten Lügen entgegennehmen konnte. Aus der Laudatio: “Er ist neu in der Frankfurter Schule, doch es gefällt ihm hier eigentlich ganz gut.”
Morgens dann noch flugs zum Bockenheimer Szenetreff Extrablatt, wo man auf der Speisekarte mit frechem Despotenklamauk und Wortspielhölle seine Kultigkeit unter Beweis zu stellen versucht.
Da macht der Durchreisende natürlich mit und schließt den tocotronischen Kreis: Ich weiß wieder, warum ich euch so hasse, Erlebnisgastronomien jeder Stadt!

Zweiter Tourtag, 24.03.2015, Esslingen, Komma.

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Im idyllischen Esslingen an der Neckar kredenzte man meiner damaligen Band bei einem gemeinsamen Konzert mit der Gruppe Superpunk einmal das „interessanteste” Catering der Bandgeschichte: Jeder einen Gut & Günstig Feta aus dem Backofen. Beilagen? – Bourgeoise Kommerzscheiße!

Punk erschien auf einmal doch nicht mehr so attraktiv. Wir unterschrieben sofort bei einem Major, die Gruppe Superpunk löste sich kurz danach auf (kausaler Zusammenhang nicht erwiesen). Schön war aber das horny Punkerpärchen, das bei unserer Zugabe plötzlich wild fummelnd zwischen den Monitorboxen herumrollte. Ba-Wü entklemmt! Dieses libidinöse Erlebnis hat es später sogar in meinen ersten Roman geschafft.

Aus dem wiederum trug ich 2007 im Komma vor. Es war der letzte Tag einer Lesetour mit Aaron Cometbus und Jörn Morisse. Die Stimmung bei Punkveteran Cometbus war gut, denn zum ersten Mal auf der Tour hatte es ein wenig Bullenstress gegeben. Bereits kurz hinter der Landesgrenze waren wir von schwäbischen Polizisten herausgewunken und der Wagen komplett gefilzt worden.
Polizist: „Und, wo kommen Sie her, wo wollen Sie hin, wer sind Sie eigentlich?“
Ich: „Ja also, wir wollen nach Esslingen am Neckar, wir sind Schriftsteller, wir sind auf Lesetour.“
Polizist, skeptisch ins zugemüllte Fahrzeug schielend: „Ja, genau! Auf Weinlesetour!“
Ba-Wü humorvoll!

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Mittlerweile bin ich alleine unterwegs, fahre mit der Deutschen Bahn, werde à la carte versorgt („Einmal Pom-Döner ohne Döner, bitte!“) und gelte nicht als Suffi, sondern als distinguierter Literat, wenn ich vormittags schon Alkoholisches zu mir nehme. So jedenfalls träume ich es mir zurecht, als ich mich auf den Weg zu Kessler mache, der ältesten Sektkellerei Deutschlands. Aufregend schon der Blick auf die Website: der Zugang ist ab 18! Kennt man doch sonst nur von You Porn und Kollegen.
Ob es sich bei Kessler etwa um eine Natursektkellerei handelt?
Ba-Wü jetzt total enthemmt?
Zum Esslingen am Nektar, wo Punks auf Bühnen heavypettingen und schon Minderjährige an der Bushaltestelle mit ihrer Polygamie prahlen, ja, zu diesem frivolen Früchtchen von einer Stadt würde es jedenfalls passen.


Dritter Tourtag, 25.03.2015, Heidelberg, Karlstorbahnhof.

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Kaum eine deutsche Stadt wird von Gästen, darunter viele aus Fernost, so ausgiebig fotografiert wie die kurpfälzische Residenzstadt Heidelberg (Quelle: Klischee).
Bei mir reichte es immer nur zur Dokumentation des Pennälerhumors in hiesigen Backstageräumen, von der Stadt drumherum habe ich auch diesmal wieder kaum etwas mitbekommen.
Warum immer ausgerechnet Heidelberg von mir mit Nichtbeachtung gestraft wird, keine Ahnung. Die Küchenpsychologie bietet an: Rückzug wegen Schönheit? Zuviele “Sehenswürdigkeiten” auf einem Fleck? Trotzige Abwehrreaktion also auf das als dreiste Bevormundung empfundene Adjektiv “würdig”, oder auf einen als sportiv&neoliberal&anstrengend empfundenen Erlebnisdruck? Internet is our Tourismus? Your Pansen drives me crazy?
Egal jetzt. Beziehungsweise, auf neudeutsch: Ach, like mir doch die Sacknaht.
Was ich immerhin gesehen habe: einige lange Tunnel, die die Viertel dieser eigenartigen Stadt miteinander verbinden (aus dem Taxi), eins der teuersten Wohnviertel Europas (aus der Ferne), und auf der anderen Flussseite dann den Karlstorbahnhof (von außen, von innen und von unten).
Wie man in diesem Club als Künstler behandelt wird, ein Traum! Was der Karlstorbahnhof als Aushängeschild der frisch gekürten „Unesco City of Literature“ zur Zeit alles an Lesungen veranstaltet, auch irre. Ein paar Tage vor mir waren erst Heinz Strunk, dann Gereon Klug, dann Jochen Distelmeyer dort. Ich habe sie alle auf die Gästeliste geschrieben, denn I believe in Verbundenheit.

Apropos Hamburg, Kulturbetrieb, Verbundenheit. Auf solch ein Apropos hätte ich gerne verzichtet, aber auch das hat mir Heidelberg diesmal verhagelt.
Es waren Leute wie Jürgen “Jogger” Reichert, damals als freier Promoter in Hamburg arbeitend, die meiner kleinen DIY-Band in den frühen Nuller Jahren die Angst vor dem Weg aus der eng gewordenen Punkszene in Richtung Größeres genommen haben. Wenn es in der nicht gerade unzynischen Musikindustrie Leute wie diesen Menschen gab, dann musste da auch Platz für uns sein, haben wir uns gedacht, als wir bei einer großem Plattenfirma unterschrieben und ihn für die Promotion unserer neuen Platte engagierten.
Ich teilte seinen Musikgeschmack nicht. Überhaupt nicht. Aber wie er über Musik redete! Diese Leidenschaft! Und der ganze Typ. Seine Integrität, seine Herzlichkeit und nicht zuletzt seine Lache waren extrem inspirierend und ansteckend. Ganz genau so jemanden hatte man sich immer als großen Bruder gewünscht.
Zuletzt sah ich ihn letzten Sommer, mit leuchtenden Augen bei einem Steve-Stevens-Gitarrensolo auf dem Billy-Idol-Konzert in der Spandauer Zitadelle.
Wie ich heute erfahren habe, hat Jogger seinem Leben Anfang der Woche ein Ende gesetzt.
You will be dearly missed, mate.
Und fuck you, Tod.

Vierter Tourtag, 26.03.2015, Wiesbaden, Schlachthof. 

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“Man sei Charlie, verkündet etwas anbiedernd die schicke neue (auf alt gemachte) Fassade des Schlachthof.” (Foto: Nagel)

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“Backstageraum, in dem Einkaufswagen voller Handtücher direkt unter einem alten Muff-Potter-Plakat parkt.” (Foto: Nagel)

“In Wiesbaden rettete ich mich nach einem Stadtbummel schweißüberströmt auf das Gelände des Kulturzentrums Schlachthof, von dem ich annahm, dass es dort wenigstens noch ein bisschen Dreck und Freiheit duftete“, heißt es in einem Drive-By-Shots-Kapitel kokett. Tatsächlich bin ich nirgends in Deutschland so oft aufgetreten wie hier. Die Ankündigungen des Schlachthofs behaupten seit Jahren, ich hätte einen eigenen Fähranleger im Schiersteiner Hafen. Markus Göres (of Staatsakt-Fame) zieht das solange durch, bis ihm endlich jemand glaubt. Ich selbst bin schon fast so weit.
Doch diesmal, kribbel kribbel, ist etwas neu – der ganze Laden nämlich! Alter Schlachthof steht noch, wird aber bald abgerissen, neues Kesselhaus wurde gerade eingeweiht. Tatsächlich: kaum etwas wiederzuerkennen hier!

Man sei Charlie, verkündet etwas anbiedernd die schicke neue (auf alt gemachte) Fassade des Schlachthof.

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“Um den kulturpolitischen Auftrag zu unterstreichen liegen an Parkbänken feingeistige Schmöker aus.” (Foto: Nagel)

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“Das Kesselhaus selbst ist schon zur Hälfte fertig gestellt.” (Foto: Nagel)

Um den kulturpolitischen Auftrag zu unterstreichen liegen an Parkbänken feingeistige Schmöker aus, und im neuen Lustgarten stoße ich auf eine homoerotische Skulptur (das Foto hat sich selbst zensiert, Anm. der Red.), die mich an meine gemeinsame Schlachthof-Lesung mit Linus Volkmann vor ein paar Jahren erinnert. Ich hatte wieder einmal eine Passage aus meinem eigenen Buch nicht verstanden, woraufhin Volkmann, aufgegeilt durch Wissensvorsprung und Helfersyndromhormone, endlich sein wahres Gesicht zeigen konnte.

Das Kesselhaus selbst ist schon zur Hälfte fertig gestellt, und die Betreiber verblüffen durch Schlitzohrigkeit, indem sie im Backstageraum einen Einkaufswagen voller Handtücher direkt unter einem alten Muff-Potter-Plakat parken. Ein ebenso aufmerksamer wie augenzwinkernder Wink auf die ebenfalls im obengenannten Buch enthaltene Geschichte darüber, wie die Hälfte meiner damaligen Band beim Auschecken in einem Hotel in Algier einmal des Handtuchraubs überführt wurde.
Die Lesung ist so überdurchschnittlich schlecht besucht (beziehungsweise positive thinking: unterdurchschnittlich gut), dass ich an die neue Heinz-Strunk-Kolumne in der TITANIC denken muss, die ich ein paar Stunden zuvor erst im Zug las – so „schonungslos” wurde über Gefühle des künstlerischen und beruflichen Scheiterns selten geschrieben, jedenfalls nicht in einem Satiremagazin. Mir jedenfalls spricht Strunk in diesem Moment so sehr “aus der Seele”, dass ich ihn spontan gleich wieder auf meine Gästelisten schreibe.

Nach dem Auftritt am düsteren Eingang des Kesselhaus in der Muttke stehen und rauchen. Dabei Zeuge werden, wie 2000 euphorisierte Menschen das ausverkaufte STEEL-PANTHER-Konzert in der Halle nebenan verlassen. Off-Gefühl completed.

Ungewollte Tristesse-Zugabe später im Hotel: Auf ARD interpretieren Campino, Joy Denalane, Wolfgang Niedecken und andere SPD-Minister mit staatstragend-betroffener Miene den “Redemption Song“ von Bob Marley. Don´t they know it´s not christmas time anymore?
Lieber würde ich, ertappe ich mich zu denken, Markus Göres, Linus Volkmann, Ulrich Wickert, Heinz Strunk und irgendwen von Steel Panther auf SWR 12 einen Song von der ersten Skrewdriver-Platte performen sehen.
Sparen Sie sich den Shitstorm, Sie tote Hose, die waren da noch nicht rechts.

Fünfter Tourtag, 27.03.2015, Essen, Zeche Carl.

Nagel-ScherbenLas ich tags zuvor noch gegen Steel Panther an, sind es heute Ton Steine Scherben, die den anderen Flügel des Clubs beschallen. Deren Setlist liest sich beeindruckend, ich habe mal ein paar Jahre fast nichts anderes gehört. Die vielen jungen Leute auf der Bühne senken den Altersdurchschnitt im Publikum enorm, fällt mir beim ersten Song „Wenn die Nacht am tiefsten …“ auf. Dann muss ich selbst „auf Schicht“.

Essen ist gut drauf und die Stimmung bei uns euphorischer als nebenan. Erleichterung und Freude. Ein bisschen Competition ist ja immer. Meine Zugabe heißt „Hessen and Hell“, die drüben „Die letzte Schlacht gewinnen wir“, und das hätte ich dann doch noch gerne gesehen.
Nagel-Sleep Nagel-DrinknSpäter die Frage: Halligalli mit den hippen Kids im Hotel Shanghai, oder Schlafrevolution in Ibis-Land? Oder geht auch beides?
Von der Kombination Alkoholkonsum und Geschlechtsverkehr jedenfalls rät Essen dringend ab. Und Essen muss es ja wissen. Warum Essen das wissen muss? Gute Frage.


Sechster Tourtag, 28.03.2015, Bonn, Limes.

Die drei Konstanten auf dieser Tour:

  1. Das Ibis-Hotel
  2. Tex Rubinowitz
  3. Intimissimi Italian Lingerie

Nach dem Ibis heißt vor dem Ibis. Laut meinem Booker “reiner Zufall”. Ich dagegen vermute, dass hier jemand eine Fortsetzung meines Schlägerei-mit-einem-Angestellten-der-Hotelkette-Ibis-Kapitels aus dem neuen Buch provozieren möchte. Aber nicht mit mir. Nie wieder werde ich nachts um 4 für einen betrunkenen Schotten nach einem Glas Milch fragen!
Fun Fact: Ich habe diesmal auch gar keinen betrunkenen Schotten dabei.
Vorteil: Jeden Tag eine frische Ausgabe der HÖRZU.
Luxusproblem: Bei den fantastischen Routingskills meines Bookers immer erst einen Late-Check-Out, kurz darauf einen Early-Check-In verlangen müssen.

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Beim Mittagessen lese ich meine täglichen ein bis zwei Kapitel “Irma”. Tex Rubinowitz neuer Roman ist sehr gut und sehr kurzweilig, Lektüre für einen Rutsch eigentlich. Doch es ist seit Jahren immer dasselbe: vor jeder Tour packe ich viele Bücher ein, denn dieses Mal habe ich ja wirklich Zeit zu lesen. Trotz kurzer Fahrstrecken, vielleicht auch gerade wegen der kurzen Fahrstrecken, komme ich auch in dieser Woche kaum dazu. Denn da sind ja auch noch die Zeitungen und Zeitschriften, gedruckter Lokalkolorit, der eigene Vortrag abends und “sowieso” (Konzentrationsschwäche, Internet, Kater). Als stumme Vorwürfe hängen mir die dicken und dünnen Schinken um den Hals. Man lernt aus nichts.
Tex und Irma werden diese Woche also häppchenweise genossen und dadurch zu treuen Begleitern. Und zu Olga Grjasnowa, Franz Hessel und Wendy Guerra gewinne ich schon dadurch enorme Bindung, dass ich sie einmal ungelesen durch ganz Westdeutschland schleppe.

Im Limes Musikcafé meine übliche Anregung: bitte beim Einlass nicht so leise Loungemusik laufen lassen, da fühlen sich die Gäste immer unbehaglich und E-Kultur-gegängelt. Fünf Minuten später kleinlaut gegen Crustpunk-Live-Bootleg-Gebretter anschreien: Geht´s vielleicht doch etwas loungiger?
Zwecks Rauchen und ein bisschen Peace&Quiet spaziere ich vor dem Auftritt zum Rhein. Konkurrenz heute: Ein Johann König mit seinem Comedy-Programm “Feuer im Haus ist teuer, geh raus” in der Beethovenhalle. Nie von gehört, bestimmt ausverkauft. Der TRIO-Revival-Abend mit Coverband und Peter Behrens dagegen fällt aus.

Verlass ist auf den italienischen Unterwäschehersteller Intimissimi, dessen Reklame mir diese Woche in jeder Stadt dutzendfach begegnete. Mit deren Werbeetat könnte man vielleicht den griechischen Staatshaushalt sanieren, doch Kapitalismus geht anders. Ich fühle mich mittlerweile seltsam einsam, wenn das Model mich für länger als 30 Minuten nicht von einer Litfaßsäule be-reh-äugt hat. Nicht mehr lange, und ich werde mich der aggressiven Offensive geschlagen geben und mir genau dieses Dessous-Set endlich zulegen.

Siebter Tourtag, 29.03.2015, Siegen, Vortex.

Sonntagnachmittag, Nordrhein-Westfalen, Nieselregen, Nahverkehr. Als hätte man mir mein ganz persönliches Blair Witch Project maßgeschneidert.

Bonn, Hangelar, St. Augustin, Siegburg.
Verwaltungsgebäude aus den Siebzigern, verwaiste Parkplätze, Baustellen im Regen.

Hennef, Eitorf, Schladern (Sieg).
Garagentore hinter Jägerzäunen, feucht und bemoost, Satellitenschüsseln zwischen Dachpfannen, Jalousien hinter Kunsttoffbalkonverkleidungen, Teerpappe, Klinker.

Wissen (Sieg), Betzdorf (Sieg), Kirchen, Brachbach.
Die Bäume kahl, die Passagiere im Regionalexpress trübe und stumm. Nur die Damen vom Kegelclub wiehern so brutal das Abteil zusammen, als gelte es, mit exaltierter Lautstärke sämtliche Mängel auszugleichen. Ich steuere mit Darkside auf den Kopfhörern dagegen.

In Siegen Kübel- statt Nieselregen. “Ganz normales Siegener Wetter halt”, sagt der Veranstalter achselzuckend. Im Hotel ist demnächst “das perfekte Udo-Lindenberg-Double” Ansgar Hüttenmüller zu Gast. Der Besitzer öffnet erst nach Klopfen, in Ballonseide und total stramm. Hier heißt die Kneipe noch Wirtschaft. Das Zimmer aber erfreulich schön. Auf holzverkleidete Twin-Peaks-Art gemütlich.

Gleich weiter zur Nachmittagslesung im Vortex, Siegen-Weidenau. “Frei, Sozial, National – Unser Gebied!” tönte es an der Bahnunterführung schon bei meinem letzten Besuch in unnachahmlich deutscher Rechts-Schreibung. Aus Charly´s Pokerclub nebenan ist mittlerweile die “Tex-Ass Pokerlounge” geworden, heute allerdings geschlossen. Keine Intimissimi-Reklame weit und breit. Dafür Tourposter von Bands mit Namen wie “Ohrenfeindt”, “Lay Down Rotten” und “Wilde Zeiten”. Am Abend spielt hier noch die britische Rockabilly-Band “Frenzy”.

Entschuldigung, lieber Leser, aber ich denke mir das alles ja nicht aus.

Nagel-PosterDie nette Behandlung und die gute Stimmung bei der Kaffee & Kuchen-Lesung kompensieren einiges, und nachdem ich in den letzten Tagen schon Steel Panther, Ton Steine Scherben und Peter Behrens verpasst habe, heute ein früher Feierabend. The Goonies um 20:15 auf RTL 2 (und ein bisschen Tex und Irma in den Werbepausen) kann mir niemand mehr nehmen.

 

 

Achter Tourtag, 30.03.2015, Wuppertal, Utopiastadt.

Nach einem halben Day Off entspannt in Siegen aufwachen, der Stadt, in die sich laut Thomas Gsella Baumärkte zum Sterben zurückziehen. Na gut. Umsteigen in Hagen, wo man wohl nicht mal als Baumarkt tot über dem (Bau-)Zaun hängen möchte.
Heute empfängt Hagen Nagel mit Hagel. Hätte man sich auch wieder nicht ausdenken können. Oder wollen.

NagelImmenkoetterAbends meine erste Lesung ever in Wuppertal. Ich werde als “Thomas Nagelschmidt aus Hamburg” angekündigt. Mutmaßungen über Nagel, a neverending story. Besser erstmal was einschmeißen. Die Pappen der Uralt-Achtundsechziger Gebr. Immenkötter sind von hervorragender Qualität. Nichts wie rein in die Schwebebahn.
Mein Freund Wiesmann wohnte einst in dieser Stadt, auf einem Bauwagenplatz unter einer Autobahnbrücke, wir waren dreckig, jung und dagegen.

SMS an Wiesi: “Unter welcher Brücke habt ihr nochmal gewohnt?”
Antwort: “Selbstmörderbrücke.”
Ach ja!

Mittlerweile ist er Vater eines sehr feschen Jungen, die beiden sind die Stars in meinem Kapitel “Samstag, 20 Uhr: Völkermord im AZ Wuppertal”, auf dessen Vortrag in eben dieser Stadt ich mich seit Tagen freue.
Das Publikum freut sich mit mir.

Bumsvoll ist es im Utopiastadt/Hutmacher, jeder bitte nur einen Stuhl. Kann man eigentlich von “Ausverkauft” sprechen, wenn der Eintritt frei ist?

– Warum nicht, liest sich doch so schön: AUSVERKAUFT!

Nachts mit Tex und Irma in die Kiste und dort dem einlullenden Radau von Orkan “Niklas” lauschen. Noch finde ich es schön.

 

NagelRadNeunter Tourtag, 31.03.2015, Hamburg, Uebel und Gefährlich.

Nasskaltes Wetter und Presslufthammergeräusche am Wuppertaler Hbf. Fehlt nur noch die sekretorische Diarhhö. Oder ein Zugausfall. Und der kommt. Und, wie man weiß, kommt er selten allein: Niklas hat das ganze Land verwüstet, wegen Sturmschäden geht in NRW fast nichts mehr.
Mietwagenfirmen googeln, alles ausgebucht. Dann hält plötzlich ein ICE neben mir. Auf der Anzeige am Gleis steht: Zug endet hier. Ich steige trotzdem ein. Nur mal kurz weg vom Lärm, weg vom Wetter. Plötzlich fährt der fast leere Zug los. Ein bisschen spooky. Aber immerhin Richtung Norden!

Für meinen persönlichen Verkehrschaos-Liveticker gibt es Like-Rekorde bei Facebook. Nichts gefällt den Leuten so gut wie das Scheitern der anderen.
Naja gut, ich habe aber auch “Gefällt mir = Mitleid” drunter geschrieben …

In Dortmund Hbf Chaos und Mobstimmung. Zwei Stunden im Wind stehen, die ganze Zeit über soll es demnächst weiter Richtung Hamburg gehen, irgendwie vielleicht mal sehen. Dann Hagel. Dann Sonne. NRW bipolar. Viele Reisende sind kurz vorm Pogrom, ich beobachte aber auch Szenen der Solidarität und Zärtlichkeit. In meinem Kopf.

Endstation Osnabrück. Hinter Huchting liegt ein Graben. Und ein Baum. In der Oberleitung. Bookingmaschine Tom Produkt stellt nochmal ihre Skills unter Beweis und organisiert einen Privatshuttle nach Hamburg. Zukunftsmusik Osnabrück, im Herbst werde ich bei euch auf Knien lesen. Irgendwie vielleicht mal sehen jedenfalls. 1000 Dank!

A1, A7 und Elbtunnel gehen gut, nur die Stresemannstraße ist und bleibt eine Bitch. Nach neun Stunden Reise erreiche ich kurz nach meinem Publikum das Uebel & Gefährlich. Gegen den Bunker tost es ordentlich, der Dom nebenan macht heute off, Drive-By Shots dagegen findet statt. Survivalparty, Getränke, Knutschen, Freunde. Hamburg hat mich noch nie, wirklich NOCH NIE enttäuscht. Auch ich möchte Hamburg niemals enttäuschen. Ein schöner letzter Abend dieses ersten Tourabschnitts.

Jetzt anderthalb Wochen frei (Osterferien), dann geht es weiter. Mit meiner Lesetour, aber nicht mit diesem Tagebuch. Auch wenn Drive-By Shots Teil 2 sich hier fast wie von selbst schreibt und knipst – irgendwann ist ja auch mal gut, wie man im Westfälischen sagt.
Wenn Ihnen das alles gefallen hat, dann gehen Sie nun gerne los und kaufen ein Buch. Meins zum Beispiel. Oder besuchen mich demnächst irgendwo.

Küsschen,

Ihr

Thorsten Thomas Messer Vogel Nagelsen 2000 Nagelschmidt.

 

Drive-By Shots live:

10.04. Fürstenwalde, Park Club
12.04. Münster, Pension Schmidt
17.04. Gießen, Alte Kupferschmiede
19.04. Köln, WDR (1Live Klubbing)
21.04. Berlin, Fahimi
24.04. Bernburg, Hotel Wien
25.04. Altenburg, Finnegans Bar
26.04. Darmstadt, 603 qm
27.04. Kassel, GoldGrube
28.04. Erfurt, Engelsburg
29.04. Leipzig, Werk 2
06.05. Koblenz, Luxor
22.05. Trier, Ex-Haus
24.05. Mannheim, Maifeld Derby Festival
26.05. Köln, Die Wohngemeinschaft

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