Nagel

Nervosität, Autismus, Verlorenheit

Früher musste man Texte über den Autoren Nagel noch mit langen Ausführungen zu seiner Punkcombo Muff Potter beginnen. Das kann man sich mittlerweile getrost schenken, mit Vorleserjobs für Autoren wie John Niven und Irvine Welsh sowie drei eigenen Büchern ist er ein, ja sagen wir es doch: seriöser Autor geworden.
Auch wenn der Titel des aktuellen Buchs, “Drive-By-Shots”, eine Mischung aus Fotobuch, Reiseführer, internationaler Sozialstudie und individuellen Fettnäpfchen, eher reißerisch klingt. Es handelt sich dabei aber natürlich um einen Verweis auf den früheren Black Flag Sänger Henry Rollins und dessen mit Geschlechteridentitäten spielenden Projekt “Henrietta Collins and the Wifebeating Childhaters”.

Für Kaput berichtet Nagel ab Dienstag jeden Tag von seiner Lesetour mit einem Bild und ein paar Gedanken dazu.

“Drive-By-Shots” ist ja an dem Tag erschienen, oder zumindest publik gemacht worden, als der grauenhafte Anschlag auf das Satiremagazin Charlie Hebdo in Paris stattgefunden hat. Was ging dir denn da durch den Kopf?
Hm, ich glaube da verwechselst du mich mit Michel Houellebecq? Keine Sorge, das passiert mir öfter, seit ich mir diese neue Rauchtechnik angewöhnt habe. Tatsächlich erschien mein Buch am 12. März, und da ist nichts dermaßen Aufregendes passiert. Natürlich hätte ich es aus Promozwecken begrüßt, wenn es an dem Tag irgendein Drive-By Shooting in Neukölln in die Tagesschau geschafft hätte. Aber woher nehmen, wenn nicht selbst anzetteln.

Nein, ich irre mich da nicht. Ich weiß noch, dass es da ein Facebook-Posting von dir oder deinem Verlag gab, und dass das “Drive-by-Shots” mir natürlich sofort in Auge gestoßen ist. Apropos Vermarktung: du hast ja eine Serie mit Videos gepostet, wo andere Autoren deine Texte lesen. Wie bist du an die Auswahl rangegangen?
Das sind alles Freunde und Bekannte, die zufällig im Buch erwähnt werden und nun einen kurzen Auszug lesen, in dem sie selbst vorkommen. Aus meiner Perspektive. Ein irres Verwirrspiel!
Bisher dabei: John Niven, Ludwig Plath (Touchy Mob), Uta Bierbaum, Sergie Loobkoff (Samiam), Hendrik Otremba (Messer) und mein ehemaliger Bandkollege Thorsten Brameier.

Das Buch beginnt ja damit, dass dir ein Mädchen eine Kamera schenkt. Was für eine verrückte Geschichte, wie du ja selbst schreibst: Hast du denn noch Kontakt zu ihr? Weiß sie vom dem Buch, das sie damit mitzuverantworten hat? Und hat das Karma auch sie belohnt?
Leider ist der Kontakt zu „Vicky“ nach zwei e-Mails abgebrochen, weswegen ich ihren Namen im Buch geändert habe. Aber wie sie mir schrieb, war sie mit unserem ungleichen Tauschgeschäft (wertige Nikon Spiegelreflex gegen 1-Euro-Polaroid) auch im Nachhinein noch sehr glücklich. Ich hätte im Buch gerne ein paar der 759 verschwommenen Fotos gezeigt, die sich noch auf ihrer Speicherkarte befanden, als sie mir die Nikon überreichte… bei den Lesungen nehme ich mir diese Freiheit manchmal. Diese Bilder sind einfach zu gut, um sie nicht zu zeigen. Also „gut“ im Sinne von „unfassbar schlecht“. Sie erzählen mehr über Nervosität, Autismus, Langeweile, Verlorenheit und Manie, als ich in Worte fassen könnte.

Das Buch ist auch ein Manifest deiner Reiselust. Ein Faible, das ich kenne und teile. Wobei es mir auf dem Reisen meistens schwerfällt, direkt auch etwas daraus selbst zu erschaffen, da ich mich dann doch immer ganz und gar auf den Ort einlassen will. Wie ist das bei dir: hast du das alles wirklich on the road geschrieben?
Ich habe nichts davon unterwegs geschrieben und auch keine dieser Reisen unternommen, um darüber zu schreiben. Aber ich bin manischer Tagebuchschreiber, und das seit über 20 Jahren und nicht nur auf Reisen. Auch wenn ich nicht vorhabe, Tagebucheinträge zu veröffentlichen und das Buch trotz der offensichtlichen autobiografischen Bezüge als literarisch und fiktionalisiert sehe (jede “Been here, done that”-Unterhaltung an irgendeinem Kneipentresen ist ja letztlich fiktionalisiert, schon allein aus Entertainmentgründen), ist es im Nachhinein oft hilfreich, notiert zu haben: Wie fühle ich mich an diesem Ort? Was ist hier los? Was will ich hier eigentlich? ,bevor man am Ende schlauer ist und vieles davon vergisst.
Entstanden sind viele der Texte eigentlich durch die Lesungen der letzten Jahre. Da habe ich oft Bilder gezeigt und Anekdoten dazu erzählt, um dieses oft doch sehr dröge Lesungsdings zu durchbrechen. Irgendwann entstand die Idee, ein Buch daraus zu machen. Im gewissen Sinne handelt es sich bei Drive-By Shots also um ein Live-Album. Wobei das Verschriftlichen dann natürlich nochmal eine ganz andere Sache ist. Wie schwierig es sein kann, Texten einen beiläufigen, direkten Ton zu geben, davon konnte ja schon Jack Kerouac ein Lied singen, als er acht Jahre lang an „On the Road“ gearbeitet hat.

Wirken sich die Leseerfahrungen auf die Texte aus?
Es war schon interessant, da mal den umgekehrten Weg zu gehen: erst der Livevortrag, dann das Produkt. Bei Musik ja nicht ungewöhnlich, in der Literatur eher selten. Manche Texte wurden durch die Livedarbietung enorm modifiziert: Erweitert, gestrafft, geändert, verworfen. Und dann kommen gerade unterwegs immer wieder Fotos dazu, die einen Bezug zu etwas ganz anderem herstellen, nach dem man gar nicht gesucht hat, der sich dann aber förmlich aufdrängt.
Manches Mal habe ich auch wirklich von meinem Publikum gelernt. Dass es sich bei der Bronzestatue neben einem einsamen Trinker auf einer Bank in Dublin um den alkoholaffinen irischen Schriftsteller Brendan Behan handelt, hat mir zum Beispiel nach einer Lesung in Kiel der ältere Herr vom Büchertisch erzählt. Ich habe mir daraufhin Behans Bücher besorgt, die Story bekam dadurch nochmal einen ganz anderen Twist.
Man muss dabei aber auch aufpassen. Nur weil etwas live funktioniert muss das noch nicht buchkompatibel sein. Zwei Kapitel, die bei den Lesungen immer Spaß gemacht haben, haben es letztlich nicht ins Buch geschafft, die waren einfach zu Gag- und Pointenlastig. Live lustig, in einem Buch eher kalauerig.
Bezeichnenderweise hat es die einzige Reise, die ich unternommen habe, um darüber zu schreiben, ebenfalls nicht ins Buch geschafft. Das war Kiew, im Frühjahr 2014 war ich dort. Ich dachte, dass es da doch bestimmt interessant sei gerade, und ein bisschen Osteuropa dem Buch noch gut tun könnte. Aber es ist dann zumindest für dieses Buch nichts dabei herumgekommen.
Etwa die Hälfte der Texte aus Drive-By Shots habe ich noch nie live vorgetragen, zum Teil weil sie erst später entstanden sind, zum Teil weil sie sich dazu weniger eignen als andere. Ich habe mir aber vorgenommen, bis Ende April jeden Text aus dem Buch wenigstens einmal live vorgetragen zu haben.

Die Mischung der Orte ist interessant: Gießen und Algier, Mosel und San Francisco. Wo andere Autoren das unhippe hinten unter fallen lassen, scheinst du gerade im Kontrast der scheinbar klaren Zuweisungen einen Reiz zu spüren.
Diese Idee des Exotischen und Authentischen auf Reisen wird im Buch ja auch thematisiert. Was soll das überhaupt sein, in einer von Wikipedia, Google Earth und Lonely Planet völlig durchleuchteten Welt? Ich kann mit diesen Begriffen daher nicht viel anfangen. Wenn ich es versuche, dann muss ich feststellen, dass die elftgrößte Stadt Thüringens mir exotischer erscheint und in dem Moment des Dort-gestrandet-seins mehr mit mir macht als zum Beispiel ein so auserzählter Ort wie New York City, zu dem mir wirklich gar nichts einfällt. Im Grunde ging es für mich immer um zwei Dinge: zum einen das Bild, zum anderen die Geschichte dazu. Oder auch mal umgekehrt. Aber das sollte zusammen passen.

Wird es einen Teil 2 geben? Wird das eine Serie?
Das kann ich mir gut vorstellen. Ich habe das bei Henry Rollins immer mit Neid verfolgt: Er geht auf Reisen, bringt ein Buch darüber heraus, geht damit auf Tour, schreibt darüber wieder ein Buch … Auch wenn mir das im Ergebnis meist etwas zu distanzlos und redundant ist, wäre es eine schöne Sache, so eine Maschine, die sich von sich selbst ernährt und einfach weiterrollt. An Bildern und Geschichten mangelt es jedenfalls nicht. Aber das ist ja nur ein Aspekt, der andere und sehr viel aufwändigere ist die Arbeit zuhause. Und da habe ich jetzt erstmal ein, zwei andere Sachen geplant.

 

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