"Kommst du mit in den Alltag? Lebenswelten von Musiker*innen"

“Sei einfach kein Arschloch”

»Never get old« und »Sex, drugs and rock’n’roll«. Das sind die Mythen. Und die Koordinaten, zwischen denen sich der Popkosmos aufspannt. Aber wie sieht das eigentlich im wahren Leben aus? Hinter allen Bühnen und Kulissen: Wie wirkt sich das Alter auf eine Musiker:innenkarriere aus? Kann ein Frank Spilker dem Alter gelassener entgegengehen als eine Christiane Rösinger? Wird es, wenn man älter wird, auch schwieriger, mit Musik Geld zu verdienen? Lohnt sich das überhaupt finanziell, Musiker:in zu sein in Deutschland? Oder sind das eh alles reiche Erb:innen?

Über Besuche beim Jobcenter und jünger retouchierte Bandfotos liest man selten in Musiker:innen-Interviews. Alles, was den Mythos zum Wackeln bringen würde, wird lieber nicht angefasst. Schließlich verkauft man nicht nur Musik, sondern auch einen Traum. Oder?

André Jegodka, Konzert- und Partyveranstalter aus Berlin bricht in dem von ihm herausgegebenen Buch »Kommst du mit in den Alltag« mit diesen Tabus und bringt in 15 Gesprächen Künstler:innen unterschiedlichen Geschlechts und Backgrounds zusammen, um sie über all das reden zu lassen, was sonst ungesagt bleibt: Wie reagieren eigentlich Freund:innen und Familie auf den Musiker:innen-Job? Kann man überhaupt Kinder haben, wenn man beruflich kreativ ist? Und wie hält man als Künstler:in Freundschaften zu festangestellten Eight-to-Fivern? Tut man sich etwa gut daran, jemanden zu ehelichen, damit man sich auch »wenn es mal nicht so läuft« noch den Zahnarzt leisten kann?

Gespräche u. a. mit Albertine Sarges, Peter Hein (Fehlfarben), Sophie Löw (Culk), Masha Qrella, Carsten Friedrichs (Superpunk), Christin Nichols, Christiane Rösinger, Hendrik Otremba, Michael Girke (Jetzt!), Frank Spilker (Die Sterne), Katharina Kollmann (Nichtseattle), Jan Müller (Tocotronic), Jana Sotzko, Jonas Poppe (Oum Shatt), Julie Miess, Tobias Bamborschke , Bernadette La Hengst, Max Gruber (Drangsal), Paul Buschnegg (Pauls Jets), Paul Pötsch (Trümmer), Pedro Crescenti (International Music), Rick McPhail (Tocotronic)…

…und hier ein Gespräch mit Herausgeber André Jegodka:

Kaput: Ich finde es erstaunlich, wie offen die Musiker:innen antworten – gab es dennoch Fälle/Leute, die ihre Antworten nochmal durchgehen oder ändern wollten?
André Jegodka: Es haben alle Künstler*innen ihre Interviews natürlich noch mal zur Korrektur bekommen und Kleinigkeiten geändert. Grundsätzlich hatte ich aber den Eindruck, dass es vielen ein Bedürfnis war über ihren Alltag zu sprechen. Die 15 Interviews grenzen sich ja bewusst von Standard-Rock-Interviews ab. Diese besagte Offenheit ist natürlich auch das Verdienst der tollen Interview*innen, die einen sehr guten Zugang zu den Künstler*innen gefunden haben

Gab es Leute, die nicht über Karriere und Geldverdienen sprechen wollten?
Nein, gar nicht. Ich war selber überrascht, wie positiv das Feedback war. Es geht in dem Buch ja nicht nur um die Karriere, das Wort war bei vielen schon ein rotes Tuch, da saßen sie aber schon im Interview und konnten nicht mehr weg (*lacht). In dem Buch geht es aber ja um die Veränderung der Realität als Künstler*in, und neben Karriere und Geld ging es ja auch darum, wie ihr Umfeld sich verändert hat und wie sich Arbeitsweisen verändert haben. Und ums Älterwerden ging es auch. Ich denke darüber redet keiner mit inniger Freude, aber das Thema war gut eingewoben und hat während der Interviews nicht zu Entrüstung geführt. Generell gab es aber auch nur zwei Anfragen für die Interviews, die unbeantwortet geblieben sind. Dies liegt aber auch daran, dass Martin Schüler, der die Hälfe der Interviews geführt hat, und ich viele der Interviewgäste persönlich kennen und mit ihnen befreundet sind

Schön finde ich auch, dass immer mehrere Leute zusammen interviewt werden – stand die Idee schon zu Anfang fest oder hat sich das im Lauf der Zeit entwickelt?
Die Idee ist ja in der Pandemie entstanden. Das Konzept war aber von Anfang an schon in meinem Kopf. Ich arbeite als Konzertveranstalter und da redest du mit den Künstler*innen und bekommst viel mit. Und was letztendlich deine Identität oder Lebensrealität in der Musikindustrie definiert, ist leider immer noch das Geschlecht. Daher war das von Anfang an geplante Set-Up immer eine männlich gelesene Person und eine weiblich gelesene Person zu interviewen, um eine diversere Perspektive zu bekommen. Damit nicht zwei alte Typen da sitzen, die über diese Themen reden. So was gibt es ja wie Sand am Meer.

Ich lese gerade das Gespräch mit Christin Nichols und John Moods und finde es schon erstaunlich, wie selbstkritisch sie ist und wie (scheinbar) leicht ihm alles fällt – sehe ich das nur durch meine Brille so, oder hast du unterschiedliche Herangehensweisen bei Frauen und Männern entdeckt?
Es ist schon so, dass viele Künstlerinnen im Buch von ihren Erfahrungen erzählt haben, die sie über Jahre im Business gemacht haben. Das bestimmt natürlich den sozialen und kulturellen Habitus und definiert die Perspektive nachhaltig. Wobei ich diesen Umstand nicht nur explizit dem Musikbereich zuordnen würde. Diese Ungerechtigkeit gibt es an der Uni, im Sportverein, in der Familie oder sonst wo. Dein Geschlecht bestimmt immer noch deinen Umgang mit Dingen. Obwohl, sich da schon viel getan hat, ist es immer noch ein langer Weg, um diesen Missstand zu überwinden.

Vor einigen Jahren erschien das Buch “Wovon lebst du eigentlich” von Jörn Morisse und Rasmus Engler – wie unterscheidet sich deins davon?
Ich habe das Buch nur überflogen und kann dazu gar nicht so viel sagen. Bei „Kommst du mit in den Alltag“ ist Ökonomie nur ein Zugang von vielen zur Lebenswelt. Natürlich bestimmt Geld – oder um es negativ zu formulieren – pleite zu sein dein Bewusstsein. Wenn du dein berufliches Umfeld professionalisieren möchtest, brauchst du Geld. Wenn du eine Familie gründen möchtest, brauchst du Geld, und wenn du älter wirst und auf Tour nicht im Bus schlafen möchtest und größere Entspannungsphasen brauchst, kostet das auch Geld. Daher: It‘s different, but the same. Du brauchst auch im Musikbereich, wenn du dort länger sein und dich wohlfühlen möchtest, einfach ökomische Ressourcen, mit denen du entspannt durchs Leben gehen kannst.

Um nochmal auf das Buch von Morisse und Engler zurückzukommen, das 2007 erschienen ist: Was ist heute anders? Es gab ja zum Beispiel auch Corona – hat das deiner Ansicht nach die Strategien von Indie-Musiker:innen verändert?
Ja schon, alle sind ganz heiß auf die Fördergelder. Im Buch haben Künstler*innen auch erzählt, dass sie in der Pandemie mehr Geld mit den Corona-Hilfen hatten, als vorher von ihrer Kunst. Ein sehr schwieriger Zustand oder auch eine Grundfrage, wie sich die DIY/Indie- Szene entwickeln möchte. Ich werde ja selber vom Musicboard und der Initative Musik gefördert, da es ohne diese Hilfen sehr schwer ist, nicht-kommerzielle Ideen und Projekte umzusetzen. Auf der anderen Seite ist es eine Grundsatzfrage. Indie kommt ja von Independent und Fördermittel zu erhalten ein zweischneidiges Schwert. Jede Förderung ist ja auch ein Abtreten von Unabhängigkeit und da sollte sich die freie Szene schon überlegen, was sie möchte. Soll es wie beim Theater sein, welches durchgefördert ist – oder lebst du prekär und musst noch kellnern gehen, hast dafür aber deine Unabhängigkeit und nicht den ganzen bürokratischen Mehraufwand.

Kaput: Die interviewten Künstler:innen kommen aus Deutschland und Österreich – hast du Einblicke in andere Länder, zum Beispiel wie Indie-Künstler:innen in Großbritannien über die Runden kommen? Oder in den USA?
Viele meiner nicht-deutschen Freunde sind immer total begeistert davon, welche Möglichkeiten es hier in Deutschland gibt. Besonders Fördermittel. Im englischsprachigen Raum musst du eben mehrere Jobs machen, mit denen du dein Bohemeleben querfinanzierst. Dafür hast du weniger Zeit für deine Kunst. Oder du bist eben ein „rich kid“, dann ist alles einfacher.

Du arbeitest selbst im “Underground” 🙂 Erkennst du in den Gesprächen dich, deine Arbeitsweisen/Probleme/Glücksmomente wieder? Was treibt dich an?
Mein guter Freund Paul Pötsch, der ja auch im Buch vorkommt, hat mich mal in einem Interview als unermüdlichen Kämpfer für den Underground bezeichnet. Ein tolles Kompliment. Daher habe ich schon viele Anknüpfungspunkte, an denen ich mich wiedererkenne. Wir machen das ja alle aus einem gewissen Idealismus und intrinsischer Motivation heraus. Diese Motivation wird natürlich oft auf die Probe gestellt und das Leben wird komplexer. Ich persönlich kann mir nicht vorstellen, über Jahre in ein Büro zu gehen oder was common people sonst so machen. Ich kann jetzt nicht für die Musiker*innen sprechen, aber trotz vieler Entbehrungen habe ich meinen absoluten Traumberuf. Die ganzen tollen Menschen, die du kennenlernst und die tolle Musik – das möchte ich nicht missen. Das macht mich jeden Tag glücklich!

Siehst du Parallelen bei den Interviewten? Oder steht jede Story für sich?
Da wären wir wieder beim Habitus. Klar gibt es gleiche Erfahrungen. Ich finde aber jede Lebensrealität dann schon sehr individuell. Wo kommst du her? Welches Geschlecht hast du? Wie ist dein Umfeld? Fragen, die dich als Mensch definieren.

Dein Lieblingsmoment im Buch:
Das ist eine schwierige Frage. Da möchte ich kein Interview hervorheben. Ein Satz, der bei mir hängen geblieben ist, stammt von Rick McPhail: “Vielleicht zehn Prozent Talent und dann neunzig Prozent einfach ein guter Mensch sein“ – sei einfach kein Arschloch. In der Musikindustrie gibt es mehr Arschlöcher als Fliegen auf einem Kackhaufen an einem heißen Sommertag, daher ist es schon ein guter Ratschlag, sich nicht zu stark von seinem Ego leiten zu lassen. Was generell im Leben auch ein guter Ratschlag ist.

 

“Kommst du mit in den Alltag? Lebenswelten von Musiker*innen”
Andre Jegodka (Hg.) Ventil Verlag
(ISBN 978-3-95575-188-3)
www.ventil-verlag.de

Veranstaltungen zum Buch-Release:
7. Juni: Bauwagen-Café, Dresden
8. Juni: Hairdresser On Fire, Köln
14. Juni: Buchhandlung Blattgold, Hamburg
15. Juni: Ventil-Verlagsbuchhandlung, Berlin
23. Juni: Ilses Erika Biergarten, Leipzig

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