Deichkind – Kulturkritik mit Daunen- und Fleecejacke

Neues von Deichkind, neues vom Dauerzustand


Das neue Album von Deichkind heißt „Neues vom Dauerzustand“. Ein Titel, bei dem man hängen bleibt. Dabei wird ja gerade der Spannungswert der News durch das Wort „Dauerzustand“ direkt relativiert. Der Titel passt auch zum aktuellen Bandstatus: 25 Jahre gibt es die Institution Deichkind mittlerweile. Auf ihrem achten Album bleibt sich die Hamburger Gruppe einerseits treu, ihr markanter Bierduschen-Rave-Sound dauert an. Andererseits wirken einige Songs ambivalenter und noch referenzreicher als sonst.

 

Ein Beitrag von Philipp Kressmann, Photos von Rainer Holz (aus einer “Kochen mit Deichkind”-Story aus dem Jahr 2006 des Intro Magazins).

Es gibt eine Stelle auf dem neuen Album „Neues vom Dauerzustand“, in dem sich Deichkind kurz über die Floskel „persönlichstes Album“ lustig machen. Im Pop-Geschäft gibt es diese Formulierung immer noch. Im Promo-Waschzettel von Deichkind steht sie nicht, aber das hätte auch keinen Sinn ergeben. Denn dieser Band geht es nicht um intime Einblicke in das Privatleben, sondern primär um die Beobachtung der Gesellschaft im Hier und Jetzt. Gegenwartsforschung könnte man nennen, was Deichkind seit geraumer Zeit betreiben. Auf dem letzten Album „Wer sagt denn das?“ (2019) ging es unter anderem um Powerbanks, autonomes Fahren und Binge Watching.

Das neue Album startet hingegen mit der recht langen, aus Wikipedia übernommenen Definition von „Überforderung“, von der die MCs Kryptik Joe und Porky hörbar überfordert sind. Typischer Deichkind-Humor. Dabei geht es auch um die Frage, was permanenter Nachrichtenkonsum mental anrichtet: „Desktop ist voll, aber nix aufm Schirm“, rappt Kryptik Joe. „Zu viele Bildschirme an, da fehlen ein paar Tassen im Schrank“, sein Kollege Roger Rekless. Es geht nicht nur um die Aufmerksamkeitsspanne und mediale Übersättigung, sondern auch um die (schon von Frank Zappa gewonnene) Erkenntnis, dass Information nicht identisch mit Wissen ist.

Mittelalte Kids sind „alle informiert“, aber „finden Wissen arrogant“, heißt es im Track „Kids in meinem Alter“. „Gefährliches Halb-Googeln“ ist eine weitere Zeile aus dem Über-Fünf-Minuten-Spoken-Word-Song und mögliche Anlehnung an den Albumtitel „Gefährliches Halbwissen“ von Eins Zwo.

Angenehm ist, dass Deichkind bei aller Zeitkritik nie nostalgisch und trotz aller Kulturkritik nie kulturpessimistisch werden. Die Zeit ohne Smartphones wird nicht verklärt, wenngleich die gesellschaftliche Spaltung durch Fake News auch Thema ist. Schön ist auch, dass die Gruppe sich nun noch häufiger über sich selbst lustig macht und sich selbstkritischer gibt: „Kids in meinem Alter“ ist ein witziges Sittengemälde über Menschen, die noch zu jung sind, um Boomer genannt zu werden, aber fast zu alt für die Gen Y sind. Was wir hier über diese Menschen erfahren: Sie „buchen Sitzplätze, meiden Innenräume“, sie „lieben Gluten, hassen Gluten, lieben Gluten, hassen Gluten“, „fliegen viel“ und haben im Gegensatz zur Gen Z noch eine Wohnung für 500 Euro bekommen. Bei den letzten Songzeilen muss Kryptik Joe selbst lachen und nochmal neu ansetzen.

Es scheint, als hätten Deichkind bei den Aufnahmen Spaß gehabt. Im Herbst 2020 ging die Arbeit am neuen Material los. Aber das Selbstverständnis der Gruppe soll während der Entstehung des Albums in Frage gestellt worden sein. Zum ersten Mal. Vermutlich ist das der Grund, warum manche Songs ein wenig apokalyptisch wirken: In dem mit Dexter produzierten Song „Geradeaus“ geht es um den gesellschaftlichen Blick nach vorne, ohne echte Kritik zuzulassen. Nebenbei zeigt das Stück auch unsere Unfähigkeit auf, Gesellschaftsmodelle zu imaginieren, die nicht auf der Idee neoliberalen Wachstums basieren. Das Stück lässt an den bereits verstorbenen Kulturwissenschaftler Mark Fisher denken, der dieses Dilemma in der Flugschrift „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative?“ behandelte. In dieser Hinsicht klingt auch „Auch im Bentley wird geweint“ eher pessimistisch. Hier rappen Deichkind mit Clueso aus Perspektive der Reichen, über die sich das Stück subtil lustig macht, ohne dabei auf abgegriffene Feindbilder zurückzugreifen. Die Quintessenz: Auch Luxus kann innere Leere in der Konsumgesellschaft nicht füllen, oft gelingt noch nicht einmal mehr der Genuss. Dass von Gunter Gabriel posthum gerade auch ein Song mit dem Titel „Auch im Bentley wird geweint“ erschien, ist wohl absurder Zufall.

Es gibt viele lustige Momente auf dem Album, aber das Lachen bleibt einem manchmal im Halse stecken. „Ich lach mich tot“, heißt es dementsprechend im Song „Merkste selber“, in dem Deichkind diverse Schlagzeilen und Irrsinn aus der Gegenwart protokollieren. „WM in Katar, merkste selber“. Etwas später diese Zeile: „Krankheit als Weg, merkste selber“. Das ist ein gutes Beispiel für die Diskursbreite der Songs. Klar, es ist nur eine kurze Punchline, aber sie spielt vielleicht sogar auf das schon ältere Buch „Krankheit als Weg“ an. Für Ruediger Dahlke, einer der zwei esoterischen Autoren dieses Buches, ist Krankheit sinnvoll. Symptome vermitteln für ihn nur wichtige Botschaften über die Seele der erkrankten Person (Vgl. Klappentext). Im Vorwort steht: Der Kranke sei „nicht unschuldiges Opfer irgendwelcher Unvollkommenheiten der Natur, sondern auch der Täter selbst (…)“. Man könne sich nicht erkälten, wenn man für etwas brennen würde, so der Autor noch in einem Interview 2022. Krebs erklärt er sich auch mit abstrusen Schicksalsgesetzen. Kritiker:Innen stuften Dahlkes Ansichten schon länger als perfide, krude und platt ein. So hochgefährlich und -problematisch kann radikale Esoterik sein. Dahlke verharmloste auch die Pandemie und sprach bei den sogenannten Querdenkern.
Genau an die fühlt man sich beim technoiden Track „Wutboy“ erinnert. Die Textstrategie ähnelt Songs der Goldenen Zitronen, die auch oft aus Sicht derjenigen singen, die sie kritisieren wollen. In „Wutboy“ singt ein faktenresistenter Typ, der Stress mit denen „da oben“ sucht und die Dinge wieder so haben will wie früher. Seine Devise: Weiter „Schummeldiesel“ fahren, trotz des menschengemachten Klimawandels.

Der scheint auch Thema im grandiosen Musikvideo von „In der Natur“ zu sein. Menschen mit Schutzanzügen bewegen sich durch einen sterbenden Wald, David Mayonga aka Rekless spielt in einer Szene zudem auf eine Sequenz des Antikriegfilms „Apokalypse Now“ an. Im Song selbst geht es aber darum, dass viele Menschen eine naive und allzu romantisierende Vorstellung vom Leben in der Natur haben. Aber so idyllisch ist der Naturzustand ganz ohne Gesellschaft und Infrastruktur gar nicht. Trotz schicker Fleece-Jacke. Kryptik Joe verknackt sich „In der Natur“ den Fuß, während Porky über Karies in der Wildnis klagt. Nun ist es so, dass oft gerade die Esoterik die Selbstheilungskräfte der Natur betont. Naturspiritualität, zum Teil die krasse Vergöttlichung von Natur, wird populärer. Aber ist Natur absolut vollkommen und ausschließlich gut? Deichkind kommen in gewisser Hinsicht auch auf ein Missverständnis zu sprechen, das 2021 schon Prof. Dr. Harald Lesch in einem spannenden Gespräch über Natur und Spiritualität mit dem Wissenschaftsverlag De Gruyter thematisierte. Der Astrophysiker und Naturphilosoph wies darauf hin, dass nicht alles, was natürlich ist, auch gleich gut für den Menschen ist. Es gäbe, so Lesch, schließlich auch ganz natürliche Prozesse und Stoffe, „die uns umbringen können“. Auch der Natur-Trip von Deichkind verläuft nicht harmonisch: Die Tiere sind passiv-aggressiv, niemand eilt einem zur Hilfe, man verletzt sich an Dornen, der Nacken schmerzt, am Ende wird man wohl krepieren. „Zurück zur Natur“ als Lebensmotto, gar nicht mal so derbe.

Und so behaupten die Musiker sich wieder einmal als humorvolle Chronisten unserer Zeit, auch wenn das Feature mit Fettes Brot eher unspektakulär wirkt und nicht jeder Titel so ambivalent und tiefsinnig geraten ist wie der ruhige Jodel-Electronica von „In der Natur“. Der bewährte Mix aus Hip-Hop-Beats und elektronischer Musik überzeugt, auch wenn es noch mehr musikalische Kontraste hätte geben dürfen wie den tollen Streicher-Pop-Song „Wie denn?“ oder die Lounge-Pop-Vibes in „Kein Bock“. Deichkind ist erneut ein sehr unterhaltsames Album gelungen und die Band längst multimediales Gesamtkunstwerk.

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