Japan Spezial 2023 – Obihiro

The Obihiro Horse Derby Weekend

Banba – das Superpferdle aus Obihiro

Wie jede gute Geschichte beginn auch diese an einem anderen Ort als jenem, an dem sie eigentlich spielt. So klein einem die Welt doch oft vorkommt, die Fäden, die alles geheimnisvoll zusammenhalten, sie sind von einer unsichtbaren Weitläufigkeit, jener unserer Gedanken nicht unähnlich.

 

Durch mein Hotelzimmer in Sapporo schweben die verführerisch-düsteren Soundscapes von „yyyyyy2222“, dem ersten Stück des Space Afrika Albums „Honest Labour“. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag, das Album schmiegt sich perfekt an meinen vom Jetlag gestreichelten Körper.

Nach gefühlten Stunden löse ich endlich meinen Blick von der Bergkette am Horizont, hinter der das Skigebiet der Winterolympiade von 1972 liegt, aktuell herrschen statt Wintersportbedingungen aber brutal-tropische Temperaturen auf Hokkaidō, der nördlichsten Insel von Japan, in Sapporo selbst heute  unter der Haut pochende 37 Grad.

Eigentlich will ich schon seit Stunden ein bisschen über die nächste Stadt meiner Reise rund um Hokkaidō herum recherchieren, damit ich nicht gänzlich unvorbereitet ankomme. So sehr die Reise neben dem täglichen Wandern der Kultivierung von Langsamkeit und Negation von Arbeit gehorchen soll, so mahnend droht doch die Angst etwas zu verpassen, denn letztlich besitzt jeder Ort, jeder Tag, ja jeder Moment doch seine oft sehr gut versteckten Besonderheiten.
Die Stadt, die mir ab morgen die ihrigen offenbaren soll, trägt den wunderbar unergründlichen Namen Obihiro und liegt circa 200 Kilometer östlich von Sapporo im Landesinneren.

Die Bergkette der Olympiade von 1972

Wikijapan berichtet von viel Landwirtschaft, die Onsen-Suche von mindestens zwei den Besuch lohnenden Badehäusern – und siehe da, es soll Pferderennen in der Stadt geben. Pferderennen!
Wer da nicht sofort an die legendäre Hunter S. Thompson Reportage „The Kentucky Derby Is Decadent And Depraved“ denken muss, hat definitiv nie meinen Kurs zur „Einführung in den amerikanischen, englischen und deutschen Musikjournalismus“ besucht, den ich seit vielen Jahren an der Universität Paderborn und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf regelmäßig anbiete.
1970 hat sich Thompson in bester Gonzo-Journalismus-Manier durch das seit 1875 in Louisville stattfindende Pferderennen treiben lassen und einer seiner bis heute für seine eigene Historie wie auch das Genre Pop-Journalismus prägendsten Geschichten publiziert.

Damit steht der Plan für Obihiro auch schon und ich kann weitere Stunden lang gedankenverloren die Bergkette von Sapporo betrachten.

Shōchū & Kaffee

Den letzten Abend in Sapporo verbringe ich mit Yasu, der mir von Freund:innen aus Tokyo als sympathischer Musiknerd für ein Treffen wärmstens empfohlen wurde. Von ihm könnte ich mehr über Hokkaido erfahren, hieß es.

Yasu betreibt einen mit ausgewählter elektronischer Musik handelnden Mailorder namens Silencia Music Store und legt ab und an unter diesem Signet auch auf, am Vorabend in der Precious Hall, dem lokalen Elektronik-Mekka, dessen Ruf bis nach Europa exzellent ist; von dem Set am Vorabend habe ich wach jedoch nur ungefähr 20 Minuten mitbekommen, den Rest fühlte ich in Jetlag-Zuckerwatte gehüllt in einem sehr tiefen Stuhl in der Ecke des Raums unter den ungläubigen Blicken der japanischen Gäste, die es nicht glauben konnten, dass jemand derart tief im Club zu schlafen vermag (was bei Japaner:innen, die selbst so gut wie überall ihre Power-Naps machen, schon viel bedeutet).

Heute bin ich aber hell wach an der Seite von Yasu, was an dem unglaublich aktivierenden Getränk liegen könnte, das wir zu uns nehmen: drei Tage in Kaffeebohnen eingelegter Shōchū; Shōchū wird aus Weizen, Soba oder Kartoffeln hergestellt und hat im Vergleich zu Wodka nur 20-25% Alkoholgehalt, schmeckt sehr lecker – und macht in dieser Mischung mit den Kaffeebohnen so schnell euphorisch-betrunken, da man gar nicht richtig kapiert, was man da trinkt bevor es schon zu spät ist. Hinzu kommt, dass man eine ganze Flasche hingestellt bekommt, so dass man sich gegenseitig, wie es in Japan Tradition ist, ständig nachschenkt, ja nachschenken muss. So sinkt peu a peu der Pegel in der Flasche und werden dabei Striche an der Flaschenseite sichtbar, man bezahlt am Ende die Menge der abgetrunkenen Striche.

Ich spreche das Wort genial in meine Google-Translate-App – und Yasu freut sich sehr über meine Freude am Getränk und dem Bezahl-Ritual. Das leckere Izikaya Essen hilft die Betrunkenheitskurve (ein bisschen) nach unten zu korrigieren, schmeckt aber vor allem fantastisch. Man stelle sich nur vor, man bekäme in Deutschland in einer Eckkneipe Tofu, Shashimi, eine ganze gegrillte Makrele und wunderbar flüssiges Natto-Omlette serviert.
Nebenbei erzählt mir Yasu wissenswertes und belangloses zu Hokkaidō, nur von den Pferderennen in Obihiro habe er nie gehört, gibt er mir glaubhaft zu verstehen.
Vielleicht doch nur eine Internet-Saga mehr? – und nicht der Anfang meiner Hunter. S. Thompson Hommage-Reportage?

Der eiserne Schlitten von Obihiro


Wie so oft im Leben gilt: der nächste Tag wird es zeigen.

Obihiro, eine Stadt, wie in einem italienischen Western. Beim Ankommen wirkt sie zumindest noch ein bisschen belebt, aber kaum entfernt man sich vom Bahnhof, ist alles wie leergefegt.

Die Sonne drückt und macht jeden Schritt zäh. 
Ich steuere als erstes den Tempel an, den mir Wikijapan empfohlen hat, man kann ja nicht immer direkt ins Onsen steigen. Er ist weitläufig und bietet einige schöne Ecken mit Wasserspielen, einem Teich und Skulpturen, vor allem aber bietet er Schatten für eine Pause. Da ich schon nach zwei Kilometern Spaziergang so gut wie verdurstet bin, trinke ich schamlos die Kanne mit kalten Tee aus, den es gratis für die gläubigen Tempelbesucher:innen gibt.

Der weitere Weg zum Onsen führt an einem Fluss entlang, der allerdings kaum Wasser trägt. Ein „Stand by me“-Feeling stellt sich ein, ich ahne, einen japanischen Jahrhundertsommer erleben zu dürfen.

Japaner:innen neigen dazu, Hotels aber auch andere Häuser gerne leicht Cartoon-haft zu gestalten, da wundert es dann auch nicht, dass das Onsen wie eine schlecht gemachte Kopie eines Disney-Schlosses aussieht, zumal drum herum Enten watscheln. Im Außenbereich sind ein Minigolf-Parcour und Liegen sowie ein Raucherbereich erahnbar (eigentlich sollte man nicht von Außen rein sehen können, aber mit europäischer Etikettenlosigkeit geht es sich aus, schließlich will man ja wissen, wo man rein hüpft).

Das Wasser im Onsen tut gut und lässt mich schnell in einer Liege einschlafen – und vom Pferderennen träumen. Ein Signal, das ich nicht ignorieren kann.
Aber bevor es zur Trabrennbahn geht (das Spektakel ist für den nächsten Tag angesetzt), lockt zunächst eine dringend benötigte Entspannungsnacht im Hotel, welches absurderweise trotz Kettenbuchung sehr teuer ist.
Warum nur? Wo doch die Stadt wie leergefegt ist…

Es wird nicht mehr lange dauern und diese Geheimnis verliert jegliches Versprechen. Zunächst laufe ich aber, da sich auch die Taxipreise in dieser mehr Dorf als Stadt auf Weltmetropolenniveau bewegen, durch endlose Straßenzügen mit minimalen Variationen der gleichen Einfamilienhäusern.

Ich sehe verdächtig wenig Menschen. Vielleicht alles nur Kulisse? Obwohl irgendwann Restaurants auftauchen, beschließe ich deswegen dem „Outlaw-Vibe“ von Obihiro treu zu bleiben und decke mich im nächsten Supermarkt mit Fisch für eine Kleinfamilie ein, um diesen sehr unjapanisch im gelben Lichtkegel einer Straßenlaterne auf einer Wiese als Picknick ausgebreitet zu mir zu nehmen.

Renntag in Obihiro

Am nächsten Morgen ist meine Vorfreude auf das Pferderennen enorm. Selbst die 31 Grad, die um 7 Uhr bereits wieder die Welt vor dem Fenster meines Dormy Inn Hotels (eine japanische Kette, die „normalerweise“ ähnlich günstig ist wie bei uns Ibis Hotels, jedoch ein bisschen mehr Style und Service bietet, zum Beispiel hauseigene Onsen-Bäder) herrschen, können mich nicht davor abhalten schnell rauszugehen.

Draußen zunächst das gleiche Bild wie am Vortag: keine Menschenseele ist zu sehen. Je länger ich in der Stadt herumlaufe, desto weniger verstehe ich, was hier vor sich geht. Die Region um Obihiro ist bekannt für ihre Landwirtschaft, aber von Arbeiter:innen, die es am Wochenende in die Stadt zieht, sieht man auch an diesem Samstagmorgen nichts, von Tourist:innen wie mir sowieso nicht.

High Noon in Obihiro

Obihiro versprüht den Charme eines Rust-Belt-Städtchens, nur dass die postindustriellen Ruinen fehlen – und auch die von Opiaten zerstörten Menschen.
Oder weniger drastisch ausgedrückt: Obihiro ist gesichtslos, nicht unschön, aber man könnte viel mehr aus der Stadt machen, stattdessen liegt Staub auf allem; vielleicht liegt es ja an den krass heißen Temperaturen und der Absenz von Schatten, aber wie soll es hier denn im Winter erst bei minus 30 zugehen?, denn so kalt wird es hier gerne mal.

 

Was ich auch nicht verstehe: warum gibt es an jeder Straßenecke eine Ampel, wo es doch quasi keinen Verkehr gibt. Trotzdem warten übrigens die wenigen Fußgänger:innen geduldig; nicht so der einzige Nichtjapaner, was mit strenger Mimik negativ goutiert wird.

Von einer Tankstelle endlich mal ein Teenager. Er putzt die Autoscheiben überfreundlich, sieht mit seinen langen, kokett dreckig-blond eingefärbten Haaren aber eher nach einem Animier-Boy aus, wie man sie aus den Straßen von Shinjuku kennt, und wundert sich selbst ein bisschen, welches bad karma ihn an diesen Ort gefesselt hat.

Aufgrund mangelnder Alternativen beschließ ich nochmals ein Onsen aufzusuchen, zumal perfekt neben einem Soba-Restaurant gelegen. Das Bad ist erwartungsgemäß nichts besonders aufregend, tut aber seine entspannende Wirkung, das Restaurant hingegen ist echte Arbeit, die Bedienungen ignorieren mich zunächst auffällig, was in Japan schon ab und an mal vorkommt, teilweise aus Sprachunsicherheit (das Schul-Englisch ist eher rudimentär), teilweise aber auch aus Ausländerfeindlichkeit (was hier aber nicht wirklich der Fall ist) – und so findet die leckere Suppe, die mit reichlich Fisch, Muscheln und Eiern angereichert ist, nur mit viel Hartnäckigkeit zu mir.

Ja, nicht alles in Japan ist perfekt. Das wäre ja auch seltsam. Aber gemäß der alten Weisheit, dass jedes Ereignis irgendwie seinen Sinn in sich trägt, stelle ich anschließend erfreut fest, dass vor dem Lokal ein Bus hält, der mich direkt zur Pferderennbahn bringt.
Die Klimaanlage im Bus tut sehr gut, auch wenn immer die Angst mitschwingt, dass man sich eine Lungenentzündung holen könnte, da die Japaner:innen die Amerikaner:innen noch übertrumpfen beim Thema Air Con.


Der verführerische Duft eines unbekannten Spektakels

Heute spielen solche Gedanken jedoch selbst für den größten Hypochonder keine Rolle, der verführerische Duft eines unbekannten Spektakels liegt in der Luft.

Vor Ort vibriert die Trabrennbahn bereits – und das obwohl das erste Rennen des Tages (von insgesamt zwölf) erst in einer Stunde losgeht. Diverse angekarrte Schulklassen sorgen für einen entsprechenden Lärmpegel, dazwischen eine wilde Mischung aus Rentner:innen, deren Motivation eher in der Absenz andere Ideen für den Tag zu liegen scheint, bereits im Schweiß stehenden Wettsüchtigen und chinesischen Tourst:innen, die sich trotz massiver Sonne schon jetzt auf die Start- und Ziellinie verteilt haben, um das beste Foto zu bekommen.
Spoiler: sie werden es nicht bis zum Start und schon gar nicht bis zum Finish dort durchhalten.

Der Zeiger auf der Prä-Zweiter-Weltkrieg-Uhr der Rennbahn dreht sich nur sehr langsam gen High Noon, für wann das erste Rennen passend angesetzt ist. Und so vertreibe ich mir die Zeit im an die Rennbahn angedockten Museum, in dem man alles erfährt, was man nie zu Pferden und Pferderennen erfahren wollte.
Die wichtigste Ableitung: Am Anfang und am Ende unserer menschlichen Existenz steht das Pferd.
Weitere wichtige Erkenntnis: Die dunkelste Stunde in der Geschichte von Obihiro war der 2. Weltkrieg, da für diesen nicht nur die Männer der Stadt, sondern auch die Pferde eingezogen wurden. Ich fühle eine tiefe Verbundenheit. Immerhin komme ich aus Stuttgart, dereinst gegründet als Stutengarten des Königs von Württemberg. Bevor ich mich aber zu sehr der Melancholie meiner Herkunft ergebe, ertönt endlich die Glocke zum ersten Rennen. Möge das Spektakel beginnen.

10.9.8.7.6.5.4.3.2.1.

Die Freude weicht schnell dem Entsetzen. Es mag vielleicht an meiner Kurzsichtigkeit gelegen haben, oder aber an meinem naiven Willen die Dinge schön zu lesen, die Realität der Rennen von Obihiro ist eine durch und durch grausame. Denn die Jockeys, wie die Männer genannt werden, die die Pferde anpeitschen, stehen keineswegs auf diletantischen selbstgebauten Plastikkonstruktionen, wie ich es zu sehen mir eingebildet hatte, sondern auf massiven Eisenobjekten, die bestimmt mehrere hundert Kilogramm wiegen. Peitsche um Peitsche klatscht auf die Pferde nieder. Ich beobachte die Schulkinder, die eben noch die Pferde an ihren Kojen gefüttert und gestreichelt haben, doch hatte ich Ekel und Tränen und Wut erwartet, so zeigt sich nichts davon auf ihren Gesichtern, stattdessen wird anfeuernd geschrien. Und auch der Rest der Tribüne scheint nichts zu fühlen außer der Hoffnung, dass der eigene Favorit als erstes ins Ziel getrieben wird. Selbst die verliebten Pärchen bleiben einfach nur verliebte Pärchen und knutschen während die Pferde in brutaler Langsamkeit die circa 200 Meter lange Strecke Wagen und Jockey mehr ruckhaft als fließend ins Ziel ziehen.

Ich bin fix und fertig als das erstes Rennen durch ist. Klang die Musik, die während der Pausen läuft, zuvor schon mit dem Staub der Geschichte belegt, so höre ich nun glasklar mit dem Pathos militärischer Euphorie geschriebene und vorgetragene Kompositionen der 1940er Jahre. Aber ich versuche mich anzupassen und es den Japaner:innen gleich zu tun und meine Gefühle zu ignorieren – und renne beim zweiten Rennen parallel mit den Pferden vom Start zum Ziel und schreie und schreie und jage so meinen Puls auf selbst gemessene 170 beats per minute hoch.

Hinter mir wechseln die Yen inflatorisch die Besitzer:innen. Trotz sich ausbreitender (Selbst)Ekelgefühle angesichts der blutigen Note des Happenings (und meiner Anwesenheit), entschließe ich mich, wie alle andere auch zu wetten. Das System ändern wird mir heute nicht gelingen, dann wenigstens es bis ins Detail verstehen. Ich beobachte die passionierten Rennbahnbesucher:innen beim Ausfüllen der Scheine, kann die Logik aber nur bedingt nachvollziehen. Wer will es mir übel nehmen, ist doch japanisch naheliegenderweise die Spielsuchtsprache.

Ein Schalter verspricht Hilfe für Anfänger:innen ohne japanische Sprachkenntnisse – und in der Tat, der nette Mann erkundigt sich nach meinem Favoriten, meiner Wettstrategie und nach der Summe, die zu riskieren ich gewillt bin. Ich lass es krachen und setze 1000 Yen (6,30 Euro) auf den Sieg von Pferd Nummer 7. Ob ich sicher sei, will er von mir wissen – und signalisiert mit seinem Blick ein höheres Wissen, dass Nummer 7 gewiss nichts mehr gewinnen wird. Doch egal, ich wahre meine Restsouveränität und erkundige mich, wo ich den Gewinn später abholen könne. Denn Nummer 7 wird das dritte Rennen garantiert gewinnen.

Nun, eine alte schwäbische Weisheit besagt, das Pferd agiert wir sein Mensch. Meines weigert sich also stur-bockig bis zum Ende richtig los zu laufen, aber es wird immerhin Vorletzter. Ich stehe zu meinem Pferd und schiebe die Niederlage wild gestikulierend auf die Wetterbedingungen:
Viel zu heiß! Schiebung! Kein Wunder, dass die Hitze gewohnte Pferde aus Okinawa gewonnen haben!
Schiebung!

Ich registriere nervöse Blicke um mich herum. Das Adrenalin hat mich europäisch um die Contenance gebracht. Wie soll man sich aber auch angesichts der Brutalität dieses Spektakels im Griff behalten? Und so beschließe ich mein Vorhaben nichts zu trinken zu brechen und zumindest symbolisch einen Drink zu nehmen, nüchtern erträgt man das ja nicht.

Auf dem Weg zum Supermarkt der Rennbahn entdecke ich einen dieser Schlitten, auf denen, die Jockeys sitzen und die die Pferde ziehen müssen. Ich trete heran und versuche ihn in einem unbeobachteten Moment zu bewegen. Er bewegt sich keinen Millimeter. Auf diese markant-brutale Erkenntnis dann aber wirklich einen Dosen-Gin-Tonic mit frischen, angenehm duftenden Gurken, die man Sackweise kaufen kann im Supermarkt. Derart ausgestattet throne ich kurze Zeit später selbstzufrieden in der Sonne und werde mutiger und mutiger das System verbal zu kritisieren. Zumindest in meinem Kopf. Nach Außen bin ich  nur ein weiterer leicht angetrunkener Pferderennfan unter der heißen Sonne von Obihiro.

Man kann es nicht anders sagen, die Sonne ist einfach zu grausam. Das Spektakel sowieso. Es ist an der Zeit zu gehen. Die anderen Besucher:innen blicken mich irritiert an, nach Rennen 5 schon gehen?
Get a life, gaijin, wie man in Japan die Ausländer abwertend nennt. Egal, man muss machen, was man machen muss: ich flaniere zum Hotel.

Während im Hintergrund die Pferde einmal mehr unter dem Gejaule der Fans über die Distanz gepeitscht werden, verblassen die Geräusche glücklicherweise peu a peu – und werden von anderen ersetzt, die nicht besser sind. Denn je näher ich dem Hotel komme, desto krakeelend lauter wird es. Zu meiner Erschütterung stelle ich fest, dass vor meinem Hotel ein Bierfest stattfindet. Mit einem Schlag ist die Stadt rappelvoll, nun verstehe ich, warum mein Hotel so teuer ist. Als ob das alles für mich als bekennenden Bierhasser nicht schon schlimm genug ist, stelle ich auch noch ernüchtert fest, dass ich das Fenster meines Hotelzimmers offen gelassen habe und nun alles nach Bier und Fett riecht.

Kein Ort zum Verbleiben, schon gar nicht zum Entspannen, und so beschließe ich trotz leichter Dosen-Gin-Tonic-Schieflage und Müdigkeit joggen zu gehen, alles ist besser als der Gestank des Bierfestes. Trotz anfänglicher Schwäche laufe ich mich langsam ein, was an der schönen Route vorbei an einem Zoo und durch ein kleines Wäldchen mit jeder Menge Eichhörnchen liegt. Als plötzlich die Pferderennbahn ausgeschrieben ist, beschließe ich spontan und im Schweiße meiner Joggerexistenz nochmals vorbei zu rennen, immerhin ist es jetzt fast dunkel und es kann ja im künstlichen Licht nur schöner werden. Sollte man zumindest meinen.


Bei meiner Ankunft ist gerade das neunte Rennen in Gang. Aber machen wir es kurz: natürlich wurde es trotz Kitschambiente nicht besser. Die Pferderennen von Obihiro sind – Tradition hin oder her – einfach nur grausam. Das kann man sich nicht zurecht legen.
Und zur Strafe, dass ich mich von diesem die Tiere quälenden Spektakel habe anlocken lassen, muss ich die ganze Nacht das Bierfest von Obihiro ertragen, dessen Besucher:innen so hacke sind wie es sonst nur Bayer:innen sein können.
Aus Furcht, dass sie so auch in meinem Hotel-Onsen vorbei schauen könnten, gehe ich an diesem Abend ungewaschen ins Bett. Darauf kommt es nun auch nicht mehr an.

Am nächsten Morgen, als ich meinen Gang nach Canosa entlang der Ruinen des Bierfestes gen Bahnhof zur Weiterreise machen, ist die Stadt wieder ausgestorben. Selbst am Bahnhof trifft man am Sonntag morgen niemanden an. War die Stadt vor wenigen Stunden noch randvoll mit besoffenen Bier-Lieberhaber:innen, so wirkt sie nun wieder wie aus einem Stephen King Roman entsprungen.
Wer weiß, vielleicht ist dem ja auch so, schade wär es um Obihiro gewiss nicht. Einzig den sympathischen älteren Koch und seine Assistentin würde ich vermissen, die mir die besten Austern meines Lebens zubereitet haben, immens große, traumhaft fleischige Austern, dünn in Tempura dünn gehüllt und voller Meereswasser, das beim Draufbeißen im Mund explodierte. Aber dafür eine ganze Stadt hinstellen, wo doch auch das kleine Restauranthäuschen gereicht hätte, das nenne ich mal wirklich übertrieben.

 

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