2024 – Das Jahr in Insolvenz & Pop

Meerjungfrauen-Fetisch – so erlebte Ariana Zustra 2024

 

Ariana Zustra (Photo: John Broemstrup)

2024 wird leider als das Jahr in die Kaput-Geschichte eingehen, in der die Verhältnisse im Bundesdeutschen Kultur(Haushalts)betrieb dazu geführt haben, dass wir wirklich niemanden mehr den 2014 seismographisch feinfüllig und von DIY-Kultur geschult gewählten Magazinuntertitel “Insolvenz & Pop” erklären mussten. Standen damals zunächst primär Lebenserwartung und Altersvorsorge auf der Agenda (siehe unsere Interviews mit Gudrun Gut & Hans-Joachim Irmler) sowie Frank Spilker), also die “Längsfolgen” von einem Leben mit (Pop)musik, geht es nun explizit um das Überleben im Kulturalltag.
Umso mehr danken wir auch 2024 unseren Autorinnen und Fotograph:innen für die Mitarbeit am Kaput-Experiment. Und freuen uns, dass sie wie jedes Jahr Ihre Highlights mit uns und Euch teilen. ❤️

 

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1) AURORA – “What Happened To The Heart?”

Bei wohl niemandem ist der oft bemühte Kate-Bush-Vergleich zutreffender als bei der norwegischen Musikerin AURORA, hinsichtlich ihrer künstlerischen Ausdruckskraft, ihres Songwritings, ihrer Stimme. Die Multiinstrumentalistin (Klavier, Schlagzeug, Synths, Gitarre, Harfe u.a.) und Oscar-Preisträgerin (für “Frozen II”), die zur Entspannung gern mal die Dezimalstellen von Pi durchgeht, hat mit “What Happened To The Heart?” ihr bisher bestes Album produziert, mit Kollaborationen mit Brian Eno, Ane Brun und den Chemical Brothers. Mal erinnert ihr Songwriting an Leonard Cohen, mal ihr Gesang an Björk oder Dolores O’Riordan, aber genau genommen klingt AURORA immer nach sich selbst. “Earthly Delights” ist hingetüncht wie ein Dryaden-Chor, der das Stranger-Things-Intro neu interpretiert, dann haut sie auf einmal einen Rave raus (“Starvation”), Industrial-Geschrammel (“The Blade”) oder Electro-Experimente (“My Body Is Not Mine”). Ein brillantes, beunruhigendes, tröstendes Meisterwerk.

2) Sofia Isella – “I Can Be Your Mother”

Sofia Isella spielt Geige seit ihrem dritten Lebensjahr, ist außerdem eine Meisterin an Gitarre und Klavier, schreibt BRUTALE Texte, produziert ihre Musik sowie Videos, ihr Stimmumfang reicht in etwa von der Tiefgarage bis zum nächsten Blair-Witch-Wald, ihre Bühnenpräsenz schillert irgendwo zwischen Hope Sandoval, Fiona Apple und Trent Reznor. Und erwähnte ich schon, dass sie erst 19 Jahre alt ist? “I Can Be Your Mother” ist ein Monster von einem Song, “The Doll People” ein Kunstwerk, die ganze EP ist wie vertonte Gedichte. Ich habe Ehrfurcht vor Sofia Isella, und auch ein bisschen Angst. So muss es sein!

3) Laura Marling – “Patterns in Repeat”

Die britische Folkmusikerin ist einfach eine der Größten, seit Jahren. “The Shadows” etwa ist ein so schmerzhaft schönes Stück, man möchte 3:30 Minuten die Luft anhalten, um auch ja keinen ihrer Atemzüge zu stören.

4) Berq – “Berq”

Noch so ein 19-jähriges Wunderkind – zumindest war Berq so alt bei seiner beeindruckenden Performance von “Rote Flaggen” im ZDF Magazin Royal mit Jan Böhmermann im Herbst 2023. So viel Lust auf große Oper und so viel Innovationskraft ist in der deutschen Musiklandschaft eine Ausnahme. Von erstaunlicher Intensität sind Lieder wie etwa “HEIMWEG” oder “Mein Hass tritt dir die Haustür ein”. Hoffentlich wird der Universal-Deal und der Mainstream-Hype dieses junge Talent nicht glattbügeln.

5) Chappel Roan – “Good Luck, Babe!”

Für diesen Banger ist die “Midwest Princess” offenbar direkt aus den 80ern mit dem DeLorean DMC-12 angebraust. Die Sängerin wurde diesen Herbst erst als die neue Heilsbringerin des Pop hochgehypt, nur um keine paar Wochen später einen Shitstorm am Hals zu haben, weil sie im US-Wahlkampf nicht Kamala Harris endorsed hat, da Chappel Roan nicht uneingeschränkt hinter der Arbeit der Demokraten steht – nicht mehr und nicht weniger. Rührt der Geifer vielleicht, wie so oft, vom infantilen Bedürfnis her, Künstler:innen als Ersatzpolitiker:innen zu entwenden, nur weil die tatsächlichen Politiker:innen nicht (mehr) als Moralinstanzen taugen? Ah well, was ich sagen wollte: “Good Luck, Babe!” ist ein instant classic.

6) Friend of a Friend – “FACILITIES”

Diese Band lief bei mir dieses Jahr on repeat. Der Indie-Rock des Duos Friend of a friend weckt Assoziationen zu Portishead, Wüstengitarren, Kinoleinwand. Auch das Debütalbum “In Arms” von 2022 hat mich eingenommen. Einfach fantastisch!

7) St. Vincent – “All Born Screaming”

Was geht denn eigentlich bei St. Vincent? Erst veröffentlichte das Multitalent im April ihr komplett selbst produziertes Album “All Born Screaming”, nur um ein halbes Jahr später nochmal eine spanische Version obendrauf zu setzen – einfach, weil sie’s kann. Aber St. Vincent kann anscheinend eh alles, zum Beispiel Art Rock on fire produzieren. “Hell is near” erinnert subtil an “Moon Safari” von AIR, “Violent Times” ist offenbar ein James-Bond-Song für Leute, denen James Bond zu flach ist, und wie schön quirky ist denn bitte “Sweetest Fruit”?

8) Lo Moon – “I Wish You Way More Than Luck”

Huch, singt Mark Hollis aus dem Garten Eden zu uns? Matt Lowell, Kopf des sehr coolen Quartetts Lo Moon aus Los Angeles, singt jedenfalls – wie schon auf der Debüt-Single “Loveless” von 2016 – verblüffend wie das Talk-Talk-Genie. Aber bitte, nur zu! Anspieltipp: “Evidence”.

 

9) The Cure – “Songs Of A Lost World”

Manchmal verliert man alte Freunde jahrelang aus den Augen, und beim Wiedersehen ist es sofort so, als sei man gestern erst zusammen gewesen. So ist es auch mit “Songs Of A Lost World”. Robert Smith klingt, wie er immer schon geklungen hat. Das Album fühlt sich an, als dauert es 100 Stunden – der Soundtrack zum Weltschmerz (wie ja jedes Album von The Cure).

10) Astoria – Borne World

Warum nicht meinem Meerjungfrauen-Fetisch frönen und die New Yorker Nymphe Astoria mit ihrem Debütalbum “Borne World” in die Top Ten schwappen lassen? Ein verspulter Trip(-Hop) über Leben, Tod und Wiedergeburt von den Produzenten von Animal Collective und Angel Olsen.

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