1,2,3 hallo Deadline: Marc Wildes 2024 Rückblick in zehn Songs + 1 weiterem
2024 wird leider als das Jahr in die Kaput-Geschichte eingehen, in der die Verhältnisse im Bundesdeutschen Kultur(Haushalts)betrieb dazu geführt haben, dass wir wirklich niemanden mehr den 2014 seismographisch feinfüllig und von DIY-Kultur geschult gewählten Magazinuntertitel “Insolvenz & Pop” erklären mussten. Standen damals zunächst primär Lebenserwartung und Altersvorsorge auf der Agenda (siehe unsere Interviews mit Gudrun Gut & Hans-Joachim Irmler) sowie Frank Spilker), also die “Längsfolgen” von einem Leben mit (Pop)musik, geht es nun explizit um das Überleben im Kulturalltag.
Umso mehr danken wir auch 2024 unseren Autorinnen und Fotograph:innen für die Mitarbeit am Kaput-Experiment. Und freuen uns, dass sie wie jedes Jahr Ihre Highlights mit uns und Euch teilen. ❤️
JAHRESRÜCKBLICK IN ELF SONGS
1. Endless Wellness: “Newborn, Baby”
Ihre Zungenküsse haben die fünf Freund:innen aus Wien mit den Vorab-Singles “Hand im Gesicht” und „Danke für alles“ bereits Ende 2023 über die Landesgrenzen Österreichs hinaus verteilt. Hätte ich die ein oder andere Bestenliste aufmerksamer studiert, mein Herz wäre schon eher in Flammen aufgegangen. So musste ich bis in den Herbst hinein warten und erst nach Südtirol zum Kaltern Pop Festival reisen, um mich von Endless Wellness anzünden zu lassen. Dann aber so richtig. „Was für ein Glück“ – für mich das beste Album des Jahres.
2. Nick Cave: „Final Rescue Attempt“
Herausragendes Ereignis im Konzertjahr 2024: Nick Cave & The Bad Seeds. Über das Eröffnungskonzert zur Wild God-Tour habe ich mich bereits in aller Ausführlichkeit hier ausgelassen. Derart angefixt zog es mich von Oberhausen weiter nach München, um mir eine höhere Dosis verpassen zu lassen – diesmal in greifbarer Nähe zum Bühnenrand. Welch ein Segen!
3. Raketenumschau: “Family Bowling”
Wenn ich schon für einen Messe-Besuch den weiten Weg zur Olympiahalle nach München auf mich nehme, dann soll es sich auch richtig lohnen. So habe ich mir dort nicht nur ein weiteres Feuerwerk mit den Bad Seeds gegeben, sondern auch der alten Label-Dame Trikont einen Besuch abgestattet und mit Quirin und Leon von der Raketenumschau – jüngste Indiepop-Sensation der bayrischen Landeshauptstadt – gesprochen. Wie immer habe ich nach meinem Band-Interview (bald in diesem Magazin) vor lauter Euphorie vergessen, Fotos zu machen. Dafür stattdessen einen Mann vom Nachbartisch gebeten, mir für ein Ersatz-Selfie zur Verfügung zu stehen. He did it.
4. Gas, Wasser, Indiepop: “20 Jahre in der Werbung”
Hatte ich eben Indiepop gesagt? Das wahrscheinlich breiteste Grinsen vom Musikvideoanschauen zimmerte mir in diesem Jahr Jochen Gäde – neben Steffen Frahm ehemaliger Sänger von Keine Zähne im Maul aber La Paloma pfeifen – ins Gesicht. Während Frahm nach dem Split inzwischen mit interna weitermacht und seine neue Band unter Beteiligung von KZIMALPP-Bassisten Lars Stuhlmacher zwei Drittel der alten Kombo auf sich vereint, hat sich Gäde mit Die Bullen zusammengetan. Unter dem anspielungsreichen Titel „15 Zoll Maul“ haben Gas, Wasser, Indiepop (danke für den Namen!) ein breit aufgestelltes Debutalbum an den Start gebracht.
5. Peter Perrett: “I Wanna Go With Dignity”
Das Debut von Peter Perrett liegt schon etwas länger zurück: Seine Band The Only Ones gründete er 1976. Wiedervereinigt haben sie sich nach einer Pause von 25 Jahren. (Wer also weiterhin auf eine Reunion von Keine Zähne im Maul aber La Paloma pfeifen wartet, muss die Hoffnung auch trotz der jüngsten Entwicklungen nicht aufgeben.) Die Brüche in der Karriere des Londoner Sängers sind zahlreich – Drogen haben ihn für längere Zeit aus der Bahn geworfen. Seit ein paar Jahren ist Perrett als Solokünstler unterwegs. All das wusste ich nicht und habe es nachgelesen; die Songs vom aktuellen Album „The Cleansing“ hat mir der Algorithmus in die Timeline gespült. Ich muss zuletzt wohl wieder viel von Lou Reed und meiner alten Liebe Velvet Underground gehört haben…
6. Smog / Bill Callahan: „Beautiful Child“
Auf demselben, scheinbar zufälligen Weg bin ich vor ein paar Wochen auf „Beautiful Child“ gestoßen. Der Song wurde bereits 2001 in einer Peel Session unter Bill Callahan’s Pseudonym Smog eingespielt, aber erst kürzlich auf der EP „The Holy Grail“ veröffentlicht. An die Situation, in der ich „Beautiful Child“ das erste Mal höre, erinnere ich mich genau: Ich sehe durch ein großes Fenster und betrachte den Rhein; herbstlich gefärbte Bäume ziehen in schneller Folge an mir vorbei. Ich sitze im Zug (und, ja, er fährt!), auf einer der schönsten Zugstrecken Deutschlands, zwischen Koblenz und Mainz. Einen besseren Soundtrack für die Jahreszeit kann ich mir in diesem Moment nicht vorstellen.
7. Grace Cummings: “Ramona”
Anfang April erscheint „Ramona”, Grace Cummings neues Album. Ihren Vorgänger „Storm Queen“ hatte ich enorm gefeiert, und ich erinnere mich gerne an das Interview zurück, das ich vor zwei Jahren beim Haldern Pop Festival mit ihr führen konnte. Die Highlights auf der aktuellen Veröffentlichung sind nicht mehr ganz so zahlreich. Aber der Titeltrack hat es in sich – von seiner Live-Interpretation bei der diesjährigen KEXP-Session ganz zu schweigen. Seht selbst.
8. Elbow: „Lover’s Leap“
Auch auf ihrem inzwischen zehnten Album halten Elbow die Spannung hoch. „Audio Vertigo“ zählt für mich zu den Top10-Alben des Jahres. Ich wünschte, ich könnte die Briten endlich einmal live sehen. Mit vertracktem Rhythmus und groovigem Bläsersound ist „Lover’s Leap“ einer der hervorstechendsten Songs der Platte. Und selbst der verzichtbare Autotune kann Guy Garveys Stimme nichts anhaben. Wäre es nicht so ein abgegriffener Musikjournalisten-Sprech, ich täte schreiben: Elbow liefern seit Jahren kontinuierlich gut ab.
9. Dumbo Tracks: “Mahnung” (feat. Rubee Fegan)
Als langjähriger Anhänger von Urlaub in Polen hing ich schon immer an den Fellen des umtriebigen Schlagzeugers Jan Philipp Janzen. Sehr ärgerlich, dass ich zum Konzert seines Solo-Projekts Dumbo Tracks auf dem Kölner Week-End Fest nicht konnte. Aber wie ich hörte ist es auch einigen Leuten, die dort gewesen sind, nicht gelungen, dabei zu sein. Es war zu voll. Das psychedelische Stück „Mahnung“, getragen vom Sprechgesang der SMILE-Sängerin Rubee Fegan, ist jedenfalls ein echtes Glanzlicht auf dem aktuellen Dumbo Tracks-Album „Move With Intention“.
10. CAVA: „Crashing“
Nein, das zweite Album muss nicht schwierig sein. Nachdem es den beiden Berlinerinnen bei ihrem Debut („Damage Control“) noch um Schadensbegrenzung ging, mähen sie nun auf „Powertrip“ konsequent alles nieder. Machtbeziehungen und über Generationen gepflegte Geschlechterverhältnisse werden in ihren Texten rigoros aufgebrochen – wie von einer Motorsäge, die erbarmungslos durch die Hecken der Schrebergärten unserer Gesellschaft kreist. Auch bei dem Beziehungssong „Crashing“ liegt am Ende erst einmal alles in Trümmern. Was bleibt, sind ein lärmendes Feedback und starke Momente der Selbstermächtigung.
11. Tom Liwa: „Malmö 1948“
„Primzahlen aus dem Bardo“ ist ein magisches Album. Und es ist gar nicht so leicht dranzukommen. Ich erstehe die Doppel-CD während eines Küchenkonzerts in Düsseldorf aus dem Gitarrenkoffer des Künstlers selbst. Das epische „Malmö 1948“ kannte ich schon. Doch Tom Liwa hat eine Menge weiterer Schätze zu bieten: „Binnen Meisje“ zum Beispiel – noch so ein verträumter Riese. Ein Stück, das einen auch über eine Strecke von über 14 Minuten unterhalten kann. Liwas Gesang und den Geschichten, die er unter Begleitung seiner Akustikgitarre zu erzählen hat, hört man gerne zu. Gepaart mit den facettenreichen Stimmen, die Luise Volkmann den Songs auf ihrem Saxofon hinzufügt, ist das allemal genial.