Resignation, Verweigerung, Melancholie: Tocotronic „Kapitulation“

Rat- und wehrlos dem Abgrund ins Gesicht sehen: Im Sommer 2007 erschien mit dem Album „Kapitulation“ der zweite Teil der sogenannten Berlin-Trilogie von Tocotronic. Das Cover basiert auf einem Bild des US-amerikanischen Malers Thomas Eakins.
Tocotronic
„Kapitulation“
(Universal)
2007 war ich in der Oberstufe und begann gerade, mich für Camus und Sartre zu interessieren. Dann erschien der meiner Meinung nach passende Soundtrack dazu: „Kapitulation“ von Tocotronic, deren Frühwerk ich kurz zuvor entdeckt hatte.
Resignation, Verweigerung, Melancholie – das war der Vibe dieser poetischen und schwermütigen Platte, zu der es sogar ein gesprochenes Manifest gibt. Sicher habe ich einiges nicht verstanden, aber das ist bei Musik ja nicht immer entscheidend. Für mich hat das die Band noch interessanter gemacht.
Jahre später habe ich das von Moses Schneider produzierte Album noch einmal neu gehört. Das geht, denn die Texte sind ambivalent. „Kapitulation“ könnte ein Neuanfang sein und etwa bedeuten, dass man unlösbare Probleme als solche akzeptiert, Fehler zugibt oder in vermeintlicher Schwäche Stärke erkennt. „Mein Ruin ist mein Triumph, Empfindlichkeit und Unvernunft.“ Die antinationalistische Note des Albumtitels leuchtete mir jedoch schon zum Zeitpunkt der Veröffentlichung ein. „Ka-pi-tu-la-tion“ ist laut Manifest „das schönste Wort in deutscher Sprache“. So etwas war zudem ein nötiges Kontrastprogramm zu Deutschquote-Befürworter:innen und Nationalisierungstendenzen in der deutschen Poplandschaft Mitte der Nullerjahre. Fuck it all!
Auf „Kapitulation“ wurde hingegen keine Identität postuliert. Im Gegenteil: Hier geht es um Identitätsverlust, vielleicht sogar um das Nichtidentische. „Wer Ich sagt, hat noch nichts gesagt“, heißt es in „Wir sind viele“. Und im Liebeslied „Imitationen“ singt Dirk von Lowtzow: „Es gibt kein wahres Ich.“ Das kann man als Kommentar zum allgemeinen Authentizitätszwang verstehen; zeitgleich scheint das Stück auf Hubert Fichtes Roman „Detlevs Imitationen ‚Grünspan‘“ anzuspielen.
Überhaupt die Referenzen: „Ich klage an, ich klage an, ich klage an“, singt von Lowtzow im enigmatischen „Harmonie ist eine Strategie“. Ich ging mit meiner besten Freundin auf Spurensuche. Wir stießen auf ein Zitat des französischen Autors Émile Zola, der in einem offenen Brief 1898 den Antisemitismus in Frankreich anprangerte: „J’accuse…!“ Zola solidarisierte sich mit dem jüdischen Artilleriehauptmann Alfred Dreyfus, der zu Unrecht verurteilt und öffentlich gedemütigt wurde. Der antisemitische Skandal hat neben Zola auch den Journalisten Theodor Herzl beschäftigt, den Begründer des politischen Zionismus.
Außerdem gibt es ein sehr gutes Live-Album zu „Kapitulation“. Kurz bevor der schroffe Hamburger-Schule-Punk-Song „Sag alles ab“ beginnt, ruft von Lowtzow: „I would prefer not to.“ Diese höfliche Verweigerungsformel stammt von Bartleby, der Hauptfigur in einer Erzählung von Herman Melville. Doch ganz unabhängig von solchen Verweisen ist „Sag alles ab“ mitreißender und konkreter Protest-Punk gegen Leistungsdruck und Selbstoptimierung, den ich damals sehr liebgewonnen habe. „Du musst nie wieder in die Schule gehen / Du wirst das Licht deines Lebens vor dir sehen.“ Dann wäre da noch das ruhige, zärtliche Lied „Wehrlos“: Dreht sich das um Liebeskummer und Einsamkeit oder um Suchtprobleme? Mehrdeutigkeit als Prinzip: Was für zeitlos schöne Rockmusik!








