Tocotronic – Comic „Sie wollen uns erzählen“

Bier und Punk-Vinyl konsumierende Vögel mit Seitenscheitel

Wie wäre es mit Comics basierend auf Tocotronic-Songs?
Die Idee war gut und die Welt sogar bereit dafür – und so erschien dieser tage „Sie wollen uns erzählen“ im Ventil Verlag. Das Buch versammelt zehn Tocotronic-Songcomics, jeweils von unterschiedlichen Zeichner*innen, Illustrator*innen und Künstler*innen umgesetzt. Das Werk von Tocotronic scheint für so ein Comic-Projekt fast schon prädestiniert.

Kaput zeigt Bilder aus dem Band, Philipp Kressmann hat zudem mit dem Herausgeber und Ideenhaber Michael Büsselberg gesprochen.

Wirft man einen Blick auf die Comic-Tracklist, so fällt direkt auf, dass das Buch chronologisch aufgebaut ist: Es beginnt mit dem Frühwerk und endet mit einem Beitrag zum autobiographisch geprägten Stück „Electric Guitar“.
Den Beginn macht der Künstler Jim Avignon, welcher zuletzt unter anderem 15 Meter der East Side Gallery gestaltet hat. Er widmet sich dem Titelstück des Tocotronic-Debütalbums, „Digital ist besser“ und interpretiert den Song mit zahlreichen bunten Figuren, die aus Bildschirmen herausspringen oder förmlich an ihnen kleben. Sein markanter Zeichenstil ist auch hier stark von Pop Art geprägt. Es ist nebenbei ein lustiger Zufall der Geschichte, dass der Berliner Künstler auch einmal bunte Uhren jenes Typs designte, welchen Tocotronic in besagtem Titel verschmähen.
Ganz anders ist hingegen der Beitrag von Sascha Hommer gestaltet, der ebenfalls ein Stück aus dem Frühwerk, „Drüben auf dem Hügel“, visuell umsetzt. Auf jenem düsteren, unheimlich wirkenden Hügel treffen sich in dunkler Kulisse vier Alien-hafte Figuren, um Karten zu spielen.

Nur ein strukturelles Element eint die unterschiedlichen Comic-Ansätze: Nahezu jedes Panel füllt eine Textzeile aus dem jeweils bearbeiten Songtitel. Zudem hat Dirk von Lowtzow zu den ausgewählten Stücken Liner Notes verfasst, auch die Zeichner:Innen kommen vorab zu Wort. Beide Bausteine funktionieren als ideale Paratexte.

„Die Erwachsenen“ –  Moni Port

Herausgeber ist der (Pop-) Journalist Michael Büsselberg. Die Idee kam ihm in Frankreich, wo Kulturprodukte schon lange hoch im Kurs stünden und es eine umfassende Graphic Novel- und Comic-Szene gibt: „Es war eigentlich kein Wunder, dass ich in einem französischen Kulturkaufhaus Mitte der Nuller Jahre die Comic-Songbook-Reihe „Chansons en bandes dessinées“ entdeckte, darunter eine Ausgabe mit Jacques Dutronc. Ich war sofort begeistert von der Idee: Das würde ich mir auch von Tocotronic wünschen!“ Unterstützung kam von dem Verleger und Comic-Experten Jonas Engelmann, der alle Beitragenden am Ende porträtiert und selbst Zeichner:Innen für das Projekt vorschlug.

Etwa Tine Fetz, die den Tocotronic-Titel „Der schönste Tag in meinem Leben“ anschaulich in eine melancholische, schwarz-weiße Kurzerzählung überführt und dabei insbesondere die Monotonie westdeutscher Mittelstädte illustriert: „Auf der Straße, auf dem Parkplatz vor dem Supermarkt, an allen mir verhassten Orten, an denen nie etwas passiert“. Ihr Lieblingssong der Gruppe, gesteht Fetz im kompakten Vorwort.
Büsselberg fragte alle Beteiligten im Vorfeld, ob sie mit Tocotronic überhaupt etwas anfangen könnten: „Ein Bezug zur Band oder zu einem einzelnen Song ist natürlich ideal. Auch die renommierten Zeichner:Innen sind mehr oder weniger Fans der Band oder einzelnen Songs“.

„Der schönste Tag in meinem Leben“ – Tine Fetz

 

Was leistet nun dieser Band? Zum einen stellen die Comics mit ihren Deutungen ganz beiläufig Parallelen von Stücken der Band unter Beweis, die aus unterschiedlichen Schaffensperioden stammen. Denn im Fokus steht mehr als einmal jene einengende Kleinstadttristesse, gegen die Tocotronic mal explizit, mal zwischen den Zeilen ansingen. Das wird nicht nur im Comic von Fetz deutlich, auch die erfinderische Kurzgeschichte von Katja Klengel und Christopher Tauber zum seltsam (anti-) hymnischen Klagelied „Let There Be Rock“ erzählt anhand zweier Freundinnen von Provinz sowie ambivalenten Ausbruchsversuchen.

Das ästhetisch einnehmende Comic von Julia Bernard schafft es hingegen, einen traurigen und eher kryptischen Titel wie „Warte Auf Mich auf dem Grund des Swimming Pools“ greifbarer zu machen und in ein bisweilen surreales Narrativ zu überführen. Man sieht eine stumme, lethargisch gestimmte Person beim Warten in ihrer Wohnung, bis diese von starken Wasserströmungen heimgesucht wird und es zum Wiedersehen mit der wohl schmerzlich vermissten Person kommt: „Eine Krönung in Glanz und Chor“.

„Warte Auf Mich auf dem Grund des Swimming Pools“ – Julia Bernard

Die eindrucksvollen, wohl mit Bleistift erschaffenen Grau-Collagen von Jan Schmelcher zu „Rebel – laut von Lowtzow „eine homoerotische Ode an einen satanischen Messias“ – gehören zu den Comics, die hingegen gar nicht erst den Versuch einer klassisch linearen Erzählung unternehmen. „Die Textwelten und Abstraktionsgerade von Tocotronic sind sehr geeignet für so ein Projekt. Die Zeichner:Innen hatten freie Wahl: Assoziativ bei den abstrakteren Texten oder eins zu eins wie in den Frühwerken und beim autobiographischen, letzten Album“, so Büsserberg.
Doch trotz stilistischer Differenzen kann man Gemeinsamkeiten entdecken: Die Hauptfiguren in den Comics sind eher Einzelgänger:Innen. Nehmen wir etwa den schlicht gezeichneten Jungen von Philip Waechter, der seinem öden Alltag nur entfliehen und passend dazu den Bildrahmen sprengen kann, wenn er in seinem Zimmer an seiner „Electric Guitar“ spielt und sich so in andere Welten katapultiert. Auch maskuline, souveräne Superhelden sucht man in den Comics vergeblich. Büsselberg antizipiert: „Wahrscheinlich gehen Fans und Band in ihrem fehlenden Interesse an typischem Männerrock auch automatisch Hand in Hand.“

„Electric Guitar“ – Philip Waechter

Der Titel ist hingegen bewusst ironisch ausgefallen. Denn „Sie wollen uns erzählen“ , ein im Übrigen von Gilles Deleuze inspirierter Protestsong von Tocotronic, taucht im Band gar nicht auf. „Es war klar, dass idealerweise auch ein Songtitel der Buchtitel sein sollte und „Sie wollen uns erzählen“ kann man auf die Texte der Band und die Interpretationen der Künstler:Innen beziehen“, meint Büsselberg. Das Auge hört mit. Das beweist auch dieses gelungene Comic-Projekt.

Am Ende eine Zugabe: Drummer Arne Zank, der früher Illustration studierte, hat auch einen Comic beigesteuert. Das ist insofern nicht überraschend, denn zu jenem Medium verspürte die Band schon früh eine Nähe. Alte Autogrammkarten, Plakate und Aufkleber zieren Comic-Figuren, auch Dirk von Lowtzow erfand in „langweiligen Schulstunden“ die Figur Daniel Dachs, wie er in seinem Buch „Aus dem Dachsbau“ erinnert. Zanks liebevoll gekrakelten Bilder erinnern nun an Kindzeichnungen und erzählen, wie das Trio sich einst gegründet hat und sich später Gitarrist Rick McPhail dazugesellte. Ob man diese Bilder auch als Strategie deuten kann, um die zum Teil eben auch desillusionierende und melancholische Musik ästhetisch zu brechen? Das sei hier nur dahin gestellt, denn erst einmal bereitet die Lektüre vor allem Spaß. Zank zeichnet seine Band als Bier und Punk-Vinyl konsumierende Vögel mit Seitenscheitel. Kennt jemand ein humorvolleres Selbstporträt?

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