Kersty Grether “Bravo Bar”
Kersty Grether hat mit “Bravo Bar” (erschienen im Ventil Verlag) einen neuen Roman vorgelegt, über den in den kommenden Monaten und Jahren noch viel heiß diskutiert werden wird. Wir freuen uns sehr, heute auf Kaput – Magazin für Insolvenz & Pop ein besonders eindringliches Kapitel aus dem Buch als “Vorabdruck” präsentieren zu dürfen.
Am 11. Oktober präsentiert Kersty das Buch in Berlin der Bar “Hier wo du strahlst”, der Eintritt ist großzügigerweise umsonst.
Rachelle Engel – Keine Metastasen, nur Melodien, Januar 2019
Du nennst mich Capital, doch ich hab tausend Namen.
(Capital Bra)
Ich bin ein streunender Punk, dem Wege entlang, Richtung unbekanntem Ziel, es ist mehr ein Fluchtgefühl.
(FaulenzA)
Ich finde keinen Frieden, denn ich glaube an die Liebe. Gefühle überwiegen, die Wahrheit wird zur Lüge. Ich hab Angst.
(Haiyti)
Keine Metastasen, nur Melodien.
(Rap von Rachelle Engel)
Omg, nicht schon wieder diese Nebeldecke! Seitdem Rachelle Engel auf Chemotherapie war, hatte die Sonne nicht einmal ihr träges, goldenes Haupt erhoben, nicht ein einziges Mal! Folge 25 von Nebeldecke, Nebeldecke, wenn ich nur so ein Leben hätte, reimte etwas schon leicht meschugge Gewordenes in ihr, als sie an diesem Januarnachmittag aus ihrer Haustür stolperte. Sie kam aus der Superwärme ihrer Wohnung und trat in eine nassforsche Kälte, die sie sofort frösteln ließ, obwohl Rachelle, von mehreren Laken Thermokleidung umgarnt, mehr einem gut ausgestatteten Astronauten glich als einer jungen, kranken
Frau.
Der Himmel am Horizont war so bleich wie ein Krankenhausleintuch. Diese Art von steifer Bettwäsche, die das Gefühl in einem weckte, aus Versehen unter ein Leichentuch gerutscht zu sein. Aber Rachelle war wohlauf. Sie schlenderte in Richtung Park, schwankte dabei allerdings erheblich mit dem Oberkörper hin und her, als suchte sie nach der »New Balance«, die ihren Joggingschuhen den Markennamen gab, seitdem sie Adidas den Laufpass gegeben hatte. Das Gehen fiel ihr schwer, gerade so, als würden die neuesten Drogen aus der BRAVO BAR durch ihre Venen kreiseln. Das wäre überhaupt das Beste: Wenn sie jetzt auf Club-Chemie wäre statt auf Krankenhaus-Chemo. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, so wünschte sie sich, dass alle ihre Freundinnen und Freunde im Moment genauso verstrahlt wären wie sie. Sie ertrug den Gedanken nicht, die Einzige zu sein, der etwas Gefährliches eingeflößt wurde. Dabei war es so herum doch wenigstens einmal etwas Neues. Mit ihren Augen suchte sie die Wolkenwand nach einer undichten Stelle ab. Gab es nicht doch irgendwo noch eine Lücke, einen Riss im Deckweiß dieses seltsam leblosen Wintertags? Einen rosa-orange leuchtenden Übergang zu den finsteren Feuern ihrer Welt? Noch vor ein paar Wochen war es um diese Uhrzeit stockfinster gewesen. Aber die dunkelsten Tage hatte Rachelle Engel wahrlich hinter sich gelassen. Sie dachte, zu ihrer Beruhigung: Es ist fünf nach vier. Es ist der Zwölfte Erste. Der kommt nicht mehr wieder, sponn eine weise Stimme das Rädchen in ihr noch ein bisschen weiter. Pain und Finsternis standen ihr mittlerweile zu nahe, um schon wieder dem Licht der Welt zu vertrauen, das Rachelle hinter den Wolkenbrettern vermutete; ein leiser Seufzer der frühlingsgetönten Natur. Langsam, langsamer, ein Bein vors andere setzen. Die Übelkeit in der Magengegend mitnehmen. Irgendwie kam man doch voran, irgendwann. Noch konnte sich Rachelle Engel, die sich in Zukunft auch als Künstlerin wieder Silvana
Lovrić nennen wollte, nur im Schneckentempo fortbewegen … Aber später, in wenigen Minuten schon, würde sie fliegen, sie spürte es kommen. Ihre Gedanken konnten Erdbeben auslösen. Die Endorphine, der Sauerstoff, alles, was der Körper an gutem Zeugs ausschüttete, wird sie tanzen lassen, dann.
Rachelle war fest entschlossen, die Welt mit all ihren Sinnen einzunehmen. Sie verspürte eine seltsame Lust auf die Momentaufnahmen des Alltags. War es das, was die Spießer »Achtsamkeit« nannten? Sie hielt sich da an die Devise von Onkelchen Sido: »Genieß dein Leben ständig, du bist länger tot als lebendig.«
Rachelle hatte schon immer ein Faible für die neumodischsten Vollmonde und niedrigschwelligsten Feuerwerke. Sie sah auf einmal wieder so viel Interessantes da draußen, wie in der Zeit, als sie noch an der Kunsthochschule studierte. Plötzlich war sie wieder Malerin. War wieder der Mensch, der das Leben
über alles liebte, und genau deshalb war sie dazu übergegangen, ihre gesamte Umgebung in Stücke zu reißen. Allein, um Maß zu nehmen. Ja, da war auch eine Technische Zeichnerin in ihr, eine Ärztin oder Krankenschwester. Eine Superfrau, die am liebsten alle Phänomene der Wirklichkeit berechnet und in mathematische Werte wie in grelle Gemälde übersetzt hätte, während cremig die Farbe am Pinsel zu Boden tropft.
Alles bedeutete ihr etwas, jede Nuance im Wechsel der Jahreszeiten wollte beachtet, später vielleicht ins Smartphone diktiert werden. Wo früher auch mal Null Bock ihr Dasein bestimmt hatte, regierte jetzt wieder so eine spirituelle High Energy, die sie auch dann nicht verließ, wenn sie ermattet in ihrem Bettchen lag. Je gesünder sie wurde, desto kranker fühlte er sich an, ihr Körper. Das war die Quadratur des Kreises – das Paradox der Chemo. Ich möchte abheben, auf ’ner Wolke schweben und mir gleichzeitig selber Ruhe geben, wie in dem verdammt kuscheligen und radikalen Einhorn-Rap-Track von der queeren Rapperin FaulenzA. Seit Neuestem fiel auch Rachelle unter die Kategorie »Einhorn«. Denn nur 2,5 % aller an Brustkrebs er krankten Frauen waren im Alter von 35 bis 39. Wobei Rachelle ihre Diagnose durchaus schon in der Vergangenheitsform betrachtete: Der Tumor war ja schon wieder weg. Jede andere Definition wäre eine Fehleinschätzung! Ich hatte Krebs, korrigierte sie sich, während sie versuchte, die berühmt-berüchtigte Landsberger Allee heil zu überqueren, die weit über die Stadtgrenzen hinaus traurige Bekanntheit für ihre tödlichen Fahrradunfälle erlangt hatte. Er war rausgeschnitten, mitgenommen, untersucht, vermessen und weggeworfen worden: Vermutlich schimmelte er gerade auf einer Sondermülldeponie vor sich hin. Auf der anderen Straßenseite angekommen blieb sie ruckartig stehen. Sie war jetzt schon ausgelaugt, so verletzt und voller Kummer. Aber Baby, bitte, du musst mir verzeihen, in meinem Kopf warn wieder diese Melodien. Gleichzeitig freute sie sich darüber, dass FaulenzA auf dem Spotify-Mixtape-5 automatisch von Capital Bra abgelöst wurde. Der Bratan hatte seinen Erfolg wirklich verdient, versuchte sie sich mit einem Gedanken über Musik abzulenken. Er hatte sich den Straßenrap geschnappt und daraus dribbelnden Trap gemacht. Capi stand unter den Drogen der Straße, während sie auf Stoff aus der Apotheke hin und her schaukelte. Nur die Bewegung an der frischen Luft half noch gegen dieses Bündel Ödnis in ihr. Sie hatte den Tod wirklich für ein Gerücht gehalten, bis zu ihrer Schockdiagnose, insgeheim gedacht, dass es sie nie treffen wird. Und jetzt mit einem Mal begriffen, dass die Lebenszeit eines jeden Menschen kostbar war, hatte das ausgerechnet in dem Moment erkannt, wo alles in ihr danach strebte, die Tage so schnell wie möglich verstreichen zu lassen. Müdigkeit und Lebensfreude lagen im Clinch miteinander, ebenso Trauer und Hoffnung.
Vielleicht war es noch ein bisschen zu früh, um auf der Straße zu tanzen? Die Windschatten der alten Bäume beschützten sie, aber gleichzeitig fühlte sie sich auch bedroht. Da waren 65 jede Menge schräge, winterkahle Äste, die nach ihr zu greifen schienen, um mit Capital Bra, unterlegt von Arthur Schopenhauer,
zu flüstern: »Das Schicksal mischt die Karten, wir spielen.«
weitere Lesungen:
17.10.: New Rose – Frankfurt (@Gegenbuchmasse)
25. 01.: Köln – King Georg ( @Literatur zur Zeit)
Außerdem findet am 25.10. die The-Doctorella-Record-Release-Party
in der Kantine am Berghain (Berlin) statt! (+ Lesung Luise Meier, The T.C.H.I.C.K., Toni Kater, Tell A Vision)
To be continued