Ulrich Gutmair „Wir sind die Türken von morgen“

“Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei!“

Über die Neue Deutsche Welle sind schon jede Menge Bücher geschrieben worden. Auch mehr als vierzig Jahre nach ihrem ersten Anbranden ist das Interesse an diesem popkulturellen Phänomen groß, als staunte man noch immer darüber, dass coole Musik mit deutschen Texten doch möglich war. Deutsch als Popsprache war lange Zeit verpönt, mit Udo Lindenberg als solitärer Ausnahme, der ab 1971 deutschsprachige Platten aufnahm. Es sollte noch bis Ende der Siebziger dauern, bis für eine neue, von Punk und Wave beeinflusste Musik von Bands wie Deutsch-Amerikanische Freundschaft, Mittagspause oder Abwärts der Begriff „Neue Deutsche Welle“ erfunden wurde. Zuerst verwendet 1979 in einer Anzeige des Berliner Plattenhändlers Der Zensor (Burkhardt Seiler) für ein Album von DAF, etwas später von Alfred Hilsberg für eine Artikelserie im Magazin Sounds aufgegriffen („Neue Deutsche Welle – Aus grauer Städte Mauern“). Die Hochzeit der NDW war kurz und heftig, ihr Niedergang lang und quälend.

taz-Redakteur Ulrich Gutmair geht in seinem kürzlich erschienenen Buch der Frage nach, wie deutsch die NDW tatsächlich war – ein Thema, das bisher höchstens am Rande behandelt wurde, denn scheinbar erklärt sich der Begriff Neue Deutsche Welle ja selbst. Doch schaut man genauer hin, ergibt sich ein modifiziertes Bild.

Gutmair hebt die prägende Rolle von beispielsweise Gabi Delgado-Lopez von DAF und Angelo Galizia und Tom Dokupil von The Wirtschaftswunder hervor, die sich als Migrantenkids die Sprache ihrer neuen Heimat zu eigen machten, umgestalteten, mit ihr spielten und die vielleicht interessantesten Texte der NDW schrieben.

Im Gespräch mit kaput berichtet Gutmair, wie er durch eine ältere Freundin das Fehlfarben-Album „Monarchie und Alltag“ (1980) kennenlernte. Von Band und Musik fasziniert ging er auf „archäologische Spurensuche“: Gutmairs Lieblingslied von „Monarchie und Alltag“ war „Militürk“. Ein Stück, das von mehreren Bands aufgenommen wurde, zuerst veröffentlicht 1979 auf dem Debütalbum von Mittagspause. Aus diesem Song stammt auch die titelgebende Zeile für Gutmairs Buch: „Wir sind die Türken von morgen“, in der Fehlfarben-Version natürlich von Peter Hein gesungen. Der Text stammt von Gabi Delgado-Lopez, der nach einem Aufenthalt in West-Berlin, wo er die türkische Community in Kreuzberg bestaunte, auf die Idee zu diesem Song kam. Als spanischstämmiges Gastarbeiterkind im Ruhrgebiet kannte er natürlich andere Einwanderer, jedoch nicht in der berlinischen Selbstverständlichkeit. 1982 erscheint der Song zum dritten Mal, nun unter dem Titel „Kebab Träume“ – und von Gabi selbst gesungen. Seine Band DAF ist inzwischen auf das Kernduo Gabi und Robert Görl geschrumpft, erst jetzt zündet die radikal minimalistische Idee, Musik nur mit Synthesizer und Schlagzeug zu produzieren, „die Maschinen schwitzen zu lassen“, wie Görl und Delgado es nennen. Dazu Gabis parolenartige Lyrics, die zugleich glasklar und rätselhaft erscheinen:

„Miliyet für die Sowjet-Union,
in jeder Imbissstube ein Spion.
Im ZK Agent aus Türkei,
Deutschland, Deutschland, alles ist vorbei!“

 

Was alles vorbei sein soll, verrät der Text nicht – und drückt doch die unterschwellige Angst vor allem „Fremden“ aus, die im Westdeutschland der Achtzigerjahre sehr präsent ist, bei gleichzeitiger Leugnung der Tatsache, dass der Wirtschaftswunder-Wohlstand ohne Gastarbeiter nicht möglich gewesen wäre. „Die Türken“ als Synonym für Gastarbeiter aus verschiedenen Ländern werden zum Schreckgespenst der scheinbar drohenden Überfremdung. Angelo Galizia, Sänger der Band The Wirtschaftswunder, ursprünglich aus Sizilien stammend und im hessischen Limburg gelandet, verfuhr mit der deutschen Sprache äußerst kreativ, kokettierte mit seinem Einwanderer-„Analphabetismus“ und sang – Klischee, Klischee – über Eisdielen. Vor allem die ersten beiden Alben der Band, „Salmobray“ von 1981 und „The Wirtschaftswunder“ von 1982 gehören zu den originellsten Veröffentlichungen der NDW und dürften dank Gutmairs Buch eine kleine Renaissance erfahren.

Der Einfluss von Einwanderern auf die Neue Deutsche Welle ist nur einer von mehreren Aspekten, die Gutmair in „Wir sind die Türken von morgen“ behandelt. Im Kern geht es um Identität – beziehungsweise um den struggle damit. Gutmair zitiert veranschaulichend Poly Styrene von X-Ray Spex, bzw. ihren Song „Identity“ von 1977: „Identity is the crisis, can’t you see?“ Das Hadern an und Spielen mit dem Thema Identität zeigt sich nach Gutmair auch daran, dass auffallend viele männliche Punks weibliche Aliasse wählen: So tritt Peter Hein anfangs als Janie Jones (nach einem Clash-Song) auf, der Drummer der Punkband Blitzkrieg nannte sich Bärbel, Mittagspause-Gitarrist Franz Bielmeier suchte sich das Pseudonym Monroe aus. Die „echten“ (sic!) Frauen der Bewegung wie z.B. die Musikerinnen von Östro 430, der Schweizer Band Kleenex/LiLiPut, die Plastix, Ski und der Rest aus München oder Malaria! kämpfen gegen Klischees – und legen sich wie die Östros auch mit Feministinnen an.

 

 

NDW-Musiker:innen mit deutschen Wurzeln setzen ihre Identitätskrisen mit ihrem Geburtsland gern ironisch-affirmativ um, z.B. Extrabreit mit ihrer erfolgreichen Coverversion von Hans Albers’ „Fliegerlied“. Andere wählen einen weinerlichen Opferduktus (Nichts, „Deutsches Lied“), und zahlen den Preis, fortan als tendenziell rechts zu gelten. Auf „Bi Nuu“, dem dritten und letzten Album von Ideal befindet sich mit „Ask Mark Ve Ölüm“ ein Song komplett in türkischer Sprache – und das Stück „Keine Heimat“, das mit der Refrainzeile „wer schützt uns vor Amerika?“ althergebrachte Ressentiments schürt. Dass Annette Humpe mal in einem Interview sagte, dass sie mit Ironie nichts am Hut habe, verstärkt das Unbehagen an diesem Lied umso mehr.
Gutmair fördert Kuriositäten zutage: Zum Beispiel gab es im Hannoveraner Umland eine Band namens Deutschland, von denen nur wenig überliefert ist und die (wahrscheinlich) auch nur ein einziges Mal live auftrat. Die jugendlichen Mitglieder der Band hatten nicht bedacht, dass ihr martialisches Auftreten in Ledermänteln gelinde gesagt für Missverständnisse sorgen könnte – googlen lässt sich Deutschland nicht, glücklicherweise hat Gutmair ihre Geschichte recherchiert und aufgeschrieben.

„Wir sind die Türken von morgen“ schlägt viele Haken und weite Bögen – und fügt der Geschichtsschreibung der Neuen Deutschen Welle Erstaunliches hinzu. Vor allem die Erkenntnis, dass die NDW weder so deutsch noch so männlich war, wie man angesichts nicht kaputtzukriegender Hits wie „Ich will Spaß“ und „Da Da Da“ denken könnte.

Ulrich Gutmair: „Wir sind die Türken von morgen“. Neue Welle, neues Deutschland
(Tropen Verlag, ISBN 9783-608-50167-4)

 

 

 

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