FEMALE GAZE – Alexandra Bachzetsis, Ula Sickle mit Ictus, Oona Doherty, Tyra Wigg & Stellan Veloce u.a.

Female Gaze im Schinkel Pavillon

Ula Sickle, courtesy of the artist (Photo: Herve Veronese)

Carolin, lass uns mit einem Rückblick auf die letzte FEMALE GAZE-Veranstaltung mit Erna Ómarsdóttir und Sofia Jernberg im Bode-Museum beginnen. Wie hast du das Event im Mai 2023 wahrgenommen? Und welche Schlüsse ziehst du für die Fortsetzung der Reihe?

Carolin Brandl: Die FEMALE GAZE-Veranstaltung mit Erna Ómarsdóttir und Sofia Jernberg war eine besondere Edition. Denn Erna, die das Iceland Dance Theatre leitet, hat exklusiv für FEMALE GAZE eine neue eigene Arbeit entworfen, speziell für die Basilika des Bode-Museums. Das war natürlich ziemlich einzigartig.
Da Erna teilweise in Island geprobt hatte und experimenteller Klang eine wichtige Rolle spielte, war es eine besondere Situation, dann mit der Akustik in der Basilika des Bode-Museums weiterzuarbeiten, die ähnlich wie in einer Kathedrale war.
Es war nicht nur eine choreografische Arbeit, sondern eben gleichzeitig auch eine ganz einzigartige Soundarbeit, sehr isländisch auf gewisse Art. Es hat wohl auch viele verwundert, dass Erna, die ja Choreografin und Tänzerin ist, nicht nur getanzt hat, sondern auch so einen musikalischen Bezug hat. Aber sie hat eben in vielen Kooperationen mit Musiker:innen gearbeitet, beispielsweise mit Björk und Sigur Rós. Die Soundebene war eine Mischung zwischen elfenhaften Klängen und Versatzstücken von Death Metal, wenn man so will, es gab viele offene Münder.
Viele Besucher*innen haben mich danach angesprochen: Sie hätten so etwas noch nie gesehen oder gehört. Als Teil der Performance ging Erna auch auf den Kontext der Einladung zu FEMALE GAZE explizit ein. Erna wollte den Museumsraum nach eigener Aussage attackieren, ihre Position hat natürlich mit der besonderen Aufladung des Museums zu tun, mit seiner Sammlung und den ikonischen Frauenbildern, wie den Madonnendarstellungen, gerade in der Skulpturensammlung. Den Anspruch, ein ungewöhnliches Frauenbild zu zeigen, hat sie eingelöst, würde ich sagen.
Toll war, dass tatsächlich ein gemischtes Publikum da war, die isländische Botschafterin war da und die klassischen Bode-Besucher, aber auch sehr viele junge Leute zwischen 20 und 30. So war es ja auch geplant.

Die Edition von FEMALE GAZE im Bode-Museum war aber auch insgesamt ein Happening. Dieses Mal hatten wir auf eine Bar verzichtet. Wir gingen dann dafür alle gemeinsam auf die Brücke. Es hatte sich herumgesprochen, dass fast alle Besucher, die die Künstlerinnen oder mich kannten, Sekt oder Champagner mitgebracht hatten. Choreografinnen der letzten Edition kamen auch noch dazu. So saßen wir zusammen mit einem großen Teil des Publikums im Sonnenuntergang. Die Brücke am Bode-Museum ist ja auch recht pittoresk.

Das Schönste ist aber, dass Erna wirklich ehrlich begeistert war von FEMALE GAZE und der Arbeit, die dort entstanden ist. Sie will auf jeden Fall die gemeinsame Arbeit fortsetzen und weiterentwickeln. Nur waren wir beide bis jetzt so beschäftigt, dass es im letzten Jahr noch nicht funktioniert hat – aber vielleicht nächstes Jahr in Island. Ein Museum dort hat bereits Interesse bekundet.

Der Antrieb für die Fortsetzung von FEMALE GAZE ist vor allem, dass das Format immer neu ist, je nach Künstler*innen: Beim nächsten Mal beginnt das Abenteuer von neuem.

Oana Doherty by Luca Truffarelli

Deine Veranstaltungsreihe aktiviert das soziale Potential des Dialogs von Choreografie und Sound. Wo liegt für dich das besondere Potential dieses Dialogs?

Obwohl dieser Dialog jetzt hier nicht im Mittelpunkt steht, wie vor einigen Jahren beim Sculpture Festival im Georg Kolbe Museum, spielt Sound für mich immer eine große Rolle. Ich mag Arbeiten, die nicht klar einordbar sind und Gattungsgrenzen verschieben. Ebenso interessieren mich experimentelle Ansätze. Auch bei Female Gaze im Schinkel Pavillon arbeitet die Choreografin Tyra Wiggs mit Cellist*in Stellan Veloce; Stellan haben vor kurzem mit Peaches zusammengearbeitet. Ula arbeitet mit Ictus, einem belgischen Ensemble, mit Synthesizern, und es wird eine klirrende Fassung einer Komposition von Alvin Lucier geben, wobei der gesamte Raum bespielt wird. Die Arbeiten kommen diesmal auch nah an die Besucher:innen heran. Jede Arbeit ist spezifisch, der Sound jeweils unterschiedlich gesetzt ist und einen unterschiedlichen Stellenwert hat.

Du hast es angesprochen: Die Veranstaltung findet diesmal im Schinkel Pavillon statt und nicht, wie zuletzt im Bode-Museum. Inwiefern wirken sich die neuen Räumlichkeiten und ihre spezielle Architektur auf das Konzept aus?

Ein Bode Museum ruft danach, raumgreifend gefüllt zu werden. Da haben die Arbeiten völlig andere räumliche Dimensionen. Aber das hat auch seine inhaltliche Relevanz. Im Bode waren Frauen eingeladen, die der historischen Sammlung etwas entgegensetzen, mit seinen Frauendarstellungen – auch den Räumen mit den ausschließlich von Männern geschaffenen Kunstwerken.

Der Schinkel Pavillon ist in dem Sinne nicht dieser konnotierte Raum. Die Architektur des Schinkel Pavillons ist aber auch einzigartig durch seine oktaedrischen Säle, fast baugleich übereinander. Er hat eine Art zeitlose Eleganz. Wieder mal einer der schönsten Orte, auch Kunstorte, in Berlin, würde ich sagen. Und dazu junge Direktorinnen, Nina Pohl und die Programmdirektorin Lina Louisa Krämer.

Eine Glasskulptur im Schinkel Pavillon, Teil der aktuellen Ausstellung „Jill Mulleady & Henry Taylor: You Me“, spiegelt, verdeckt und verdoppelt. Dies haben wir für zwei der choreografischen Arbeiten genutzt.

Auch wenn das Format unabhängig ist, gibt es in Aspekten zwischen der Ausstellung und FEMALE GAZE Bezugspunkte, wie unter anderem Blickachsen und die Frage der Repräsentation von Körpern. Die räumlichen Bemessungen der Säle wirken sich natürlich auf die Arbeiten aus. Sie werden den Raum in Bezug nehmen. Nachdem ich jetzt mehrmals bei meinen Projekten renommierte Künstlerinnen hatte, die bereits international bekannt waren, wie Erna oder auch in einem anderen Format Jérôme Bel, wollte ich für die nächste Edition explizit jüngere Choreografinnen und junge Positionen zeigen. Der Schinkel Pavillon ist dafür der richtige Ort.

“Female gaze“ ist ja per Nomen als klare Ansage gegen “male gaze“ positioniert. Inwieweit ist die aktuell stattfindende Öffnung für non-binäre Positionen eine naheliegende Entwicklung?

Wie ich eben schon angedeutet habe, hat sich bei der neuen Edition der Schwerpunkt verlagert. FEMALE GAZE im Schinkel Pavillon macht einen Shift hin zur Fragestellung, wie sich der Begriff und damit die Diskussion um den „Blick“ verändert hat. Ursprünglich kam der Begriff “female gaze“ ja aus der feministischen Filmtheorie – als direktes Gegenstück zum “male gaze“: Durch die männliche Sicht wurden Frauencharaktere im Film zu eindimensional und nicht als komplexe Individuen wahrgenommen und entsprechend dargestellt. “Female gaze“ wird aber mittlerweile nicht mehr als das reine Gegenstück zum “male gaze“ gesehen. Es geht also um einen Blick, der unterschiedliche Perspektiven zulässt. Er stellt generell althergebrachte Normen in Frage, auch Gender-Normen. Es geht hier also weniger um die weibliche Perspektive als Gegenpol zur männlichen, sondern um eine Herausforderung an den patriarchalischen Blickwinkel.

Es ist interessant, dass Oona Doherty, hinter stereotype Fassaden von Männlichkeit schaut im working-class Milieu ihrer Heimatstadt Belfast. Sie stellt aber eben nicht plakativ bloß, sondern legt Verletzlichkeit offen, die Frustration, die zur Wut führt. Verschiedene Identitäten werden in einer Person verkörpert. Dieses Dahinterblicken, dabei Konnotationen aufzuzeigen, zu entschlüsseln, das ist sowohl Teil der Diskussion um “female gaze“, als auch Teil der Arbeiten, die im Schinkel Pavillon gezeigt werden. Der Blick wird hier also erweitert und damit werden auch non-binäre Positionen miteinbezogen, für mich eine naheliegende Entwicklung. Darüber hinaus wird nicht nur das binäre Geschlechterkonstrukt in Frage gestellt, damit ist auch gemeint, dass Schablonen und Stereotypen generell dekonstruiert werden oder mit entsprechenden Codes gearbeitet wird.

Ula Sickle “Holding Present” (excerpt), courtesy of the artist(Photo: Bart Grietens)

FEMALE GAZE ist wieder zweitägig angesetzt. Am ersten Tag kollaborieren zunächst die Choreografin Tyra Wigg mit Cellistin Stellan Veloce sowie Ula Sickle mit der Formation Ictus und Oona Doherty mit der Performerin Sati Veyrunes. Im Anschluss wird es ein DJ-Set von Maxime Jerry Fraisse geben. Am zweiten Tag konzentriert sich das Programm auf die Solo-Performance von Alexandra Bachzetsis.
Wie kam es zu dieser Künstler*innen-Konstellation und Narrativ-Platzierung?

Mit allen Künstlerinnen stand ich schon länger in Kontakt, es war schön, dass wir es geschafft haben, diese Künstlerinnen auf einen Termin einzuladen. Alle sind viel auf Reisen. Alle Künstlerinnen freuten sich, als sie erfuhren, wer die anderen teilnehmenden Künstlerinnen sind. Viele füllen sonst in Solo-Shows das Programm.
Dass wir jetzt vier Arbeiten dieser Ausnahme-Choreograf*innen in den Kontext stellen können, das ist besonders und es handelt sich um eine spezielle Konstellation, bei Tyra Wigg um eine sehr junge Position. Diese Arbeit, ein Solo, sehe ich übrigens in der absoluten Endfassung auch erst am Abend, da sie neu für FEMALE GAZE entwickelt wurde. Tyra performt selbst.
Ula Sickle zeigt für uns eine neue Fassung von “Holding Present“, eine Arbeit, die auch im Centre Pompidou aufgeführt wurde, für drei Frauen. Dies ist eine Choreografie mit Gesten, die politisch gelesen werden können.
Ula Sickle erweitert den Fokus, indem sie sich generell als Frau gesellschaftlich positioniert.
Oona Doherty lenkt, wie gesagt, den Blick auf männliche Stereotypen.Oona Doherty, die übrigens gerade vor zwei Jahren den Silbernen Löwen der Venedig Biennale gewonnen hat, ist meiner Meinung nach eine sehr spezielle Ausnahmekünstlerin. “Hope Hunt“ ist die Arbeit, in der sie als Position die Diskussion erweitert.
Dann die Arbeit von Alexandra Bachzetsis “Perfect“, eine Arbeit in einer neuen Variante, die sie selbst als „postfeministische Skizze“ beschreibt. Auch mit Alexandra stand ich schon länger im Kontakt. Alexandra setzt sich in vielen ihren Arbeiten explizit mit dem “male“ und “female gaze“ auseinander. Ihre Arbeiten werden international gezeigt, wie eben auch auf der Documenta oder im MOMA. Daher gehört sie natürlich zu den etablierten Künstlerinnen. Trotzdem ist ihr Ansatz weiterhin experimentell und forschend, da ihre Choreografie „Perfect“ auf einer älteren Arbeit basieren, die sie nun in einer Variante zeigt, aber es ist wichtig, wie sich der Blick der Besucherinnen verändert. Diese unterschiedliche Setzung ist Mittelpunkt der Kuration. Alle Künstlerinnen in der Gesamtheit zeigen Facetten und resonieren miteinander: Unterschiedliche Blickweisen, aber auch unterschiedliche Blicke der Besucherinnen und Blickdispositionen.

Da wir ausverkauft sind, schließen wir mit einem DJ-Set. Wenn das Wetter mitspielt, können diejenigen, die keine Karte ergattern konnten, zumindest mit uns zusammenkommen und noch etwas trinken und austauschen.

Nach dem “Female Gaze“ ist ja zumeist vor dem “Female Gaze“. Kannst du schon verraten, an was du als nächstes arbeitest?

Ja, so viel kann ich verraten, dass ich im Sommer in Palermo bin, eine Einladung eines Programms von Goethe-Institut und Institut français. Palermo ist eine Stadt mit Brüchen, mit seinen Palazzi, aber eben auch der Überlagerung von Kulturen, das interessiert mich. Dort werde ich an einer nächsten Ausgabe und an einem größeren Projekt für Palermo arbeiten, der Entwicklungsprozess findet dort statt. Es geht also eine Weile ans Meer, es wird aber dort auch eine Veranstaltung geben.

 

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