Buch – "Vorabdruck"

Mit Verve und Zorn: Sonja Eismann „Candy Girls“

Sonja Eismann
„Candy Girls“
(Edition Nautilus)

Wir schreiben die frühen Nullerjahre. Wien und Köln sind noch nicht durch stete Social Media Übertragungen verbundenen. Brieftauben und Gerüchte sorgen für halbbare Informationslagen. Die INTRO Redaktion – auf Suche nach einer neuen Redakteurin für Literatur und Film (im Hausjargon: Kulturredakteurin genannt,  in Abgrenzung zur Musik) – reagiert fiebrig auf die mehrfache Empfehlung seitens unserer Informant:innen einer wahnsinnig guten Autorin und Kulturaktivistin aus Wien.  

Ich beschließe ein Wochenende in Wien zu verbringen und La Eismann, wie sie schnell liebevoll genannt werden wird, vor Ort in ihrer Hood und im Kreis ihrer Freund:innen zu treffen. Danach ist klar: Sonja zieht nach Köln und wird Teil der Redaktion –  der Rest ist Geschichte.

Leider konnte Köln ihr nicht für immer das mondäne Großstadtfeeling schenken, das sie von Wien gewöhnt war  – und so zog sie nach einigen Jahren gen Berlin weiter. Danach sahen wir nur noch den Staub, den erfolgreiche Menschen so beständig aufwühlen, hinter ihr: sie gründete mit Freundinnen das heute legendäre Missy Magazin, startete eine zweite Unikarriere (wir sind unter anderem Kolleg:innen an der Universität Paderborn) und publizierte stetig, zumeist mit explizit popfeministischen Auftrag. Und als ob das alles noch nicht genug wäre, hat sie auch noch eine Familie gegründet.

Ganz aktuell ist von Sonja „Candy Girls“ erschienen, ein Buch, für das Christiane Rösinger folgende begleitende Worte gefunden hat: »Feminismus ist nicht Fun, er ist komplex und er kotzt die Leute an – und er macht Arbeit! Und die hat sich Sonja Eismann gemacht, indem sie mit Verve und Zorn und zahllosen Beispielen beweist, wie patriarchal es in der Musikindustrie immer noch zugeht.«

Ergänzend zitieren wir noch den Nautilus Verlag: »In einer so wütenden wie lehrreichen Mischung aus Analyse und Abrechnung zeigt Sonja Eismann, wie tief Sexismus und Ageismus in die Musikindustrie eingeschrieben sind, wie wir als Konsument*innen den male gaze erlernt und verinnerlicht haben, wie Missbrauch und Pädosexualität in fast allen Szenen und Genres akzeptiert werden. Sie schreibt über alte Männer, die minderjährige Sängerinnen sexualisierte Songs performen lassen, über die scheinbare Unmöglichkeit eines richtigen Alterns, sexistischen Musikjournalismus, Superstars wie Taylor Swift, Beyoncé oder Peaches, über Feminizide in Songlyrics – und natürlich über Beispiele der selbstbewussten Aneignung, des Widerstands, der wütenden Mittelfinger gegen das Musikpatriarchat.»

Wir freuen uns sehr, heute einen Ausschnitt aus dem „Candy Girls“-Kapitel zu Songtexten mit euch teilen zu dürfen. „Candy Girls“ ist im September bei Edition Nautilus erschienen und bekommt von uns das #prädikatkaput verliehen. In anderen Worten: Pflichtlektüre.

Sonja Eismann, Köln, 2005

Songtexte

„Norwegian Wood“ ist bis heute einer der beliebtesten Beatles-Songs. Das Stück hat eine solche Strahlkraft, dass der japanische Schriftsteller Haruki Murakami 1987 seinem Roman denselben Titel gab und damit in seiner Heimat ein Superstar wurde. Darin liebt die wunderschöne, aber psychisch labile Protagonistin Naoko das Lied, das 1965 der erste westliche Popsong mit einer Sitar war und eine neue Beatles-Ära einläutete.

Die Lyrics von „Norwegian Wood“ wirken simpel und humorvoll. Es ist eine Kurzgeschichte über einen Mann, der eine Frau besucht, die in einem holzvertäfelten Apartment ohne Sitzgelegenheiten wohnt und abends zu ihrem Besucher sagt, sie müsse nun ins Bett, weil sie am nächsten Morgen arbeite. Der Mann krabbelt in die Badewanne, wo er die Nacht verbringt, und wacht am nächsten Morgen in einer leeren Wohnung auf: „This bird had flown.“ Das frühe Vögelchen war ausgeflogen, „Bird“ ist gleichzeitig Slang für „Frau“. Am Ende macht der Mann ein Feuer und fragt: „Isn’t it good Norwegian wood?“ Wahrscheinlich war ihm ein wenig kalt, so ganz alleine in einem fremden Zuhause.

Doch der Text beginnt mit einem Wortspiel. „I once had a girl / Or should I say she once had me”, was mit der Doppeldeutigkeit der Formulierung von „to have somebody“ jongliert: Im Sinne von „jemanden besitzen“, so wie ein Mann eine Frau besitzen kann (nicht umgekehrt), und im Sinne von „jemanden hereinlegen“ (wie bösartige Frauen es mit Männern tun). Denn in diesem Song geht es nicht um die vordergründig harmlose Begebenheit, dass zwei Menschen einen Abend in einer bohemistischen Behausung miteinander verbringen und unkonventionelle Schlafarrangements haben. Sondern darum, dass das lyrische Ich, hier offensichtlich aus Männerperspektive sprechend, die Einladung der Frau in die Wohnung als Einladung zum Geschlechtsverkehr verstanden hat. Diesen will „the Bird“ dann aber doch nicht, weswegen der gedemütigte Mann in der ungemütlichen Badewanne nächtigen muss. Und so ist das Feuer am Ende auch nicht als ein metaphorisches zu verstehen, um das verletzte Ego aufzuwärmen oder sonstwie Wärme nach einem für ihn nicht nach Plan gelaufenen Date herzustellen, sondern als ein ganz reales. Die gesamte Wohnung mit ihren Wänden aus „Norwegian Wood“ wird niedergebrannt – als Racheakt dafür, dass es nicht zu Sex gekommen ist (und vielleicht auch dafür, dass die weibliche Figur in Form ihrer Arbeit, für die sie früh aufstehen muss, ein Leben außerhalb ihrer Verbindung zum Helden hat).

Woher wir das wissen können? Weil John Lennon und der Co-Autor des Songs, Paul McCartney, selbst freimütig darüber gesprochen haben. John Lennon entwarf den Song als leicht verhüllte Beschreibung einer Affäre, die er, wie all seine anderen Affären, vor seiner damaligen Ehefrau Cynthia geheim halten wollte. Paul McCartney erklärt das Songende so: „Sie zwingt ihn, im Bad zu schlafen, und dann hatte ich am Ende im letzten Vers die Idee, das norwegische Holz aus Rache anzuzünden. (…) In unserer Welt musste der Typ eine Form von Rache üben. Es hätte bedeuten können, dass ich das Feuer mache, um warm zu bleiben, und war die Einrichtung ihres Hauses nicht wunderbar? Aber so war es nicht, es bedeutet, dass ich diesen verfickten Ort als Racheakt niedergebrannt habe (…) ”.

“Norwegian Wood“ ist nur eines von zahllosen Beispielen dafür, welche Schicksale in Songtexten für Frauenfiguren vorgesehen sind. Ihre Wohnungen werden abgefackelt, sie werden gestalkt, belächelt und belästigt, überhöht und vergewaltigt, beschimpft und ermordet. Wer einmal angefangen hat, sich mit dem Thema „Sexismus in Lyrics“ zu beschäftigen, sieht bald fast nichts anderes mehr. Denn vordergründig ist die gesamte Popindustrie zwar auf dem Besingen der (heterosexuellen) Liebe zwischen den Geschlechtern aufgebaut, doch die hässlichen Fratzen, die diese „Liebe“ im Patriarchat annehmen kann, drängen sich mit Macht überall dazwischen, sobald man sie einmal erblickt hat. Es gibt Texte, deren sexistische Gewalt so offensichtlich ist, dass man sich fragt, wie sie jemals im Radio laufen konnten (und es zu großen Teilen immer noch tun). Aber dann gibt es auch solche, die vordergründig wie Liebeserklärungen oder Huldigungen daherkommen und in ihren Geschlechterbildern doch kaum weniger problematisch sind.

Und falls sich in einigen Leser*innen nun schon der mentale Zeigefinger zum Thema „lyrisches Ich“ hebt: Mir ist als Person, die ein Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft abgeschlossen hat, das Konzept durchaus bekannt, dass das „Ich“, das aus diesen Texten spricht, nicht mit der empirischen, der realen Figur der songschreibenden Person gleichzusetzen ist. Es geht auch nicht darum, aus den Songzeilen juridische Anklagepunkte abzuleiten – obwohl das Till-Lindemann-Gedicht „Wenn du schläfst“, in dem die Freuden des Sex mit einer bewusstlosten, wehrlosen Frau gefeiert werden, sich im Nachhinein im Zuge der Row-Zero-Enthüllungen wie eine gruselige Step-by-Step-Anleitung dafür gelesen hat, was in den Backstage-Räumen nach Rammstein-Konzerten stattgefunden haben soll. 2020 hatte Helge Malchow, der Verleger der 100 Gedichte, noch mit dem klassischen Argument auf der Trennung zwischen „Kunst“ und „Leben“ bestanden: „Die moralische Empörung über den Text dieses Gedichts basiert auf einer Verwechslung des fiktionalen Sprechers, dem sogenannten ‚lyrischen Ich‘ mit dem Autor Till Lindemann. Die Differenz zwischen lyrischem Ich und Autor ist aber konstitutiv für jede Lektüre von Lyrik wie von Literatur allgemein (…).“ Nicht nur, aber auch, weil ich keine Juristin, sondern Literatur- und Kulturwissenschaftlerin bin, interessiere ich mich hier eher dafür, welchen Artikulationen von Sexismus bis hin zu unbändiger Misogynie wir unabhängig von ihren realen Verfassen in diesen Texten begegnen und mit welchen Geschlechterbildern sie korrelieren. Was bricht sich hier Bahn und wieso?

Fangen wir also gleich mit der eklatantesten Form von Frauenhass an: Dem Femizid. Der Begriff ist selbst für die transgressionshungrige Popkultur zu düster und kommt als solcher quasi nicht vor (außer bei Mindstuck, einer obskuren Metalband aus Lima ), aber auch ohne namentliche Nennung ist er überall, nicht nur in der Musik: In True Crime Podcasts, in denen wir uns an ungeklärten Fällen von Frauenmorden delektieren, in den sonntäglichen Tatorten, in denen gefühlt jede ermordete Frau vor ihrem Tod Sex hatte und meist auch noch schwanger ist, in TV-Serien und Krimiliteratur. Und natürlich in Popsongs. Eine getötete Frau ist in jedem Format Click-Bait, denn sie ist nicht einfach eine getötete Person, sondern in erster Linie ein Geschlechtswesen, das umgebracht wurde. Diese Perspektive sorgt für einen nachhaltigen Grusel und viele Fragen: Wie war ihr Lebenswandel? Warum musste sie sterben? Ist es möglich, dass sie selbst daran schuld war? So zynisch diese Fragen klingen, so wird doch gezielt auf dieser Klaviatur der abgründigen, misogynen Faszination gespielt. Frauen werden in unserer Gesellschaft nach wie vor als Objekte – gegenüber den Männern als Subjekten – positioniert, die potentiell immer zur Beute oder eben auch zum Opfer (von Männern) gemacht werden können.

Ein nicht unwesentlicher Teil der Frauwerdung ist es, dieses Wissen durch die Gesellschaft eingetrichtert zu bekommen: Durch Eltern, die junge Mädchen davor warnen, sich mit zu kurzen Röcken dem Blick älterer Männer auf der Straße auszusetzen. Durch Bekannte, die ihnen raten, nachts nicht über unbeleuchtete Wege zu gehen oder zumindest Pfefferspray dabei zur Hand zu haben, obwohl wir alle wissen, dass die allermeisten Vergewaltigungen und Femizide im häuslichen Umfeld stattfinden. Aber auch durch (pop)kulturelle Produkte, die ihnen bedeuten, dass ihre körperliche Unversehrtheit als Frauen immer prekär sein wird und Frausein primär bedeutet, jederzeit zum Opfer gemacht werden zu können, penetrierbar in jedem Sinne des Wortes zu sein. Frau sein heißt Angst gemacht zu bekommen. Das bedeutet nicht, dass diese Furcht nicht berechtigt wäre, denn bekanntlich wird in Deutschland jeden dritten Tag eine Frau Opfer eines Femizids (und die Zahlen sind international ungefähr vergleichbar). Doch die diffusen Angstbotschaften, die an alle Frauen ausgesendet werden, beziehen sich eben nicht auf das familiäre Umfeld, in dem diese Taten in überwältigender Mehrheit stattfinden, sondern auf das „Draußen“, auf die Öffentlichkeit allgemein. Doch die deutsche Polizeiliche Kriminalstatistik weist als Opfer von Gewaltdelikten für das Jahr 2023 deutlich mehr Männer als Frauen aus (es wurden nur binäre Geschlechtskategorien erfasst) – 687.194 versus 478.785 – und das Zahlenverhältnis ähnelt sich jedes Jahr. „Wenn Männer schwere Gewalt erleben, findet diese häufiger durch andere Männer und im öffentlichen Raum statt“, heißt es auf der Seite der Bundesstiftung Gleichstellung. Ebenfalls 2023 waren 82% aller rechtskräftig Verurteilten Männer. Doch wo sind die Warnungen der Eltern an ihre Söhne, nachts dunkle Straßenecken zu meiden, weil ihnen dort gefährliche Typen auflauern könnten, die ihnen Gewalt antun? Wer bringt ihnen bei, dass das Draußen ein übler Ort ist, vor dem sie sich zu Hause, anders als Mädchen, in relativer Sicherheit wiegen können? Jungs wachsen in dem Glauben auf, dass sie sich den öffentlichen Raum nehmen dürfen und sollen und dass ihre Körper nicht zum Erobern oder Durchdringen da sind, sondern dass es ihr Privileg ist, andere Körper zu erobern oder zu durchdringen. Es ist auch die Popkultur, die ihnen diese Botschaften übermittelt. Im Extremfall geht dieses Privileg sogar so weit, Frauen in Texten zu ermorden und damit die Gewalt gegen Frauen zu normalisieren – oder sogar zu glamorisieren.

Die zur Strecke gebrachte Frau ist in Songtexten erschreckend präsent, ob als Rachefantasie oder düstere Anekdote. Viele von uns kennen seit ihrer Kindheit den Song „Tom Dooley“ in der Version des Kingston Trio von 1958 als fröhliche Folkweise. Die wenigsten haben dabei jemals genauer auf den Text dieses erstmals 1929 von Grayson & Whitter aufgenommenen Stücks gehört – ich selbst auch erst beim Konzipieren dieses Buches. Dabei beschreibt die auf wahren Tatsachen aus dem 19. Jahrhundert beruhende Geschichte einen Femizid, geframed als ein „Mord aus Leidenschaft“ oder „Beziehungsdrama“. Der titelgebende Dooley nämlich lässt seinen Kopf hängen, weil er bald gehängt wird.

Dem vorausgegangen war dies: „I met her on the mountain / There I took her life / Met her on the mountain / Stabbed her with my knife.” Während der historisch belegte Thomas C. Dula angeblich in eine Dreiecksgeschichte verwickelt war und es auch nach seiner Hinrichtung noch Zweifel an seiner Täterschaft gab, wirkt die Lage im Lied eindeutig: Ein Mann namens Tom Dooley bringt eine Frau ohne Namen um (das Mordopfer im realen Fall hieß Laura Foster), als wäre dies eine logische Konsequenz aus irgendetwas (aber aus was? Dass er sie auf einem Berg getroffen hat?). Bemitleidet wird nicht die Ermordete, die nur als tote „her“ vorkommt, sondern der „poor boy“, denn er ist „bound to die“.

Vier Jahre später ist es Johnny Cash, der Meister der Murder Ballads, der in „Delia’s Gone“, auch so einem von vielen Sängern interpretierten Folkklassiker, in einer Mischung aus Wollust und Verzweiflung aus Ich-Perspektive über den kaltblütigen Mord an Delia sinniert, die seine Frau hätte werden sollen, wenn er sie nicht erschossen hätte. Zuerst trifft er sie in ihrem Salon und fesselt sie an ihren Stuhl. Warum? Offensichtlich egal. Als sie dann kalt und gemein zu ihm ist, tötet er sie langsam und grausam: „First time I shot her / I shot her in the side / Hard to watch her suffer / But with the second shot she died.” Der Text endet, wie nicht anders zu erwarten, nicht mit einer Perspektive auf das Opfer, sondern auf den Täter und darauf, wie sehr er unter den folgenden nächtlichen Spukerscheinungen von Delia zu leiden hat. Und mit dem Fazit, man(n) könne seine teuflische Frau laufen lassen, oder sie eben doch umbringen und es ihr heimzahlen, so wie es Delia ergangen sei. Im Zuge der Wiederentdeckung von Johnny Cash in den 1990er Jahren gab es sogar ein neues Video zum Song, in dem der Sänger das makellos aussehende Supermodel Kate Moss als tote Delia begräbt.

Die Tradition der „schönen Leiche“ greift nur ein Jahr später Nick Cave auf, als er, gemeinsam mit Kylie Minogue, ein Traditional aus dem 19. Jahrhundert in „Where the Wild Roses Grow“ verarbeitet. In dem pathetisch vorgetragenen Stück dialogisiert ein Mörder, gesungen von Cave, mit seinem Opfer, gesungen von Minogue. Auch hier erfahren wir als Zuhörer*innen wieder nichts über die Hintergründe des Mordes. Sondern nur, dass „The Wild Rose“, die eigentlich Elisa Day heißt, sich dem Mörder als ihrem „erstem Mann“ hingibt. Denn er hatte sie auserwählt, war er sich doch schon beim allerersten Blick auf sie sicher, „she was the one“, weil ihre Lippen die Farbe von Rosen hatten, „all bloody and wild“. Elisas letzter Auftritt im Lied ist ihre Todesszene, in der ihr Liebhaber auf einmal murmelnd mit einem Stein in der Hand über ihr kniet. Aus der Sicht des Täters klingt die Szene so: „She lay on the bank, the wind light as a thief / And I kissed her goodbye, said ‘All beauty must die’.” Schönheit als Tötungsgrund. Natürlich soll hier auf metaphorischer Ebene die Vergänglichkeit allen irdischen Lebens beklagt werden, das wird mit der Holzhammer-Symbolik auch noch den Interpretationsunwilligsten klar gemacht. Bemerkenswert ist dabei, dass hier wieder die weibliche Figur um die Ecke gebracht werden muss, um diese Tragik zu verdeutlichen. Daraus scheint sich die zwingende Logik zu ergeben, dass Jugendlichkeit, Schönheit und selbstverständlich Weiblichkeit geradezu dazu herausfordern, zum Opfer gemacht zu werden, von blühendem Leben in kalten Tod verwandelt zu werden. Ihr vergehendes Leben ist nichts weiter als ein Katalysator für den Weltschmerz des männlichen Helden, und es wirkt so, als müsse er sie dafür bestrafen, dass sie so schmerzlich schön lebendig, so „bloody and wild“ ist. Das Mitleid der Rezipient*innen wird auf die Seite des Mörders gelenkt, der angesichts dieser bald verblühenden Schönheit so von Leidenschaft und Ohnmacht übermannt ist, dass er einfach nicht anders kann, als sie selbst auszulöschen. Liebe und Tötung werden hier Synonyme. Was Mann nicht für immer besitzen kann, muss zerstört werden, so die Femizid-Logik.

„Where the Wild Roses Grow“ ist bis heute eines der erfolgreichsten Stücke von Nick Cave and the Bad Seeds, und es war vor allem dafür verantwortlich, dass Kylie Minogue, die in den 1980er Jahren als Soap-Star und Teen-Pop-Sensation („I Should Be So Lucky“!) erfolgreich war, von der Kritik als ernstzunehmende Künstlerin wahrgenommen wurde. Denn merke: Bei jungen Fans beliebter, perfekt manufakturierter Feel-Good-Pop ist kulturell wertlos im Vergleich zu einer mit Streichern überladenen Goth-Schnulze plus todeskitschigem Video, in der sich die ganze Welt am Mord einer perfekt aussehenden jungen Frau durch einen zerknitterten Zausel erfreuen kann (wobei das bildliche Motiv von der rothaarigen, leblos im Wasser treibenden Minogue zudem höchst unoriginell dem Ophelia-Gemälde vom Präraffaeliten John Everett Millais aus dem Jahr 1852 nachempfunden ist, der sie wiederum aus Shakespeares „Hamlet“ hat – schöne junge tote Frauen sind eben schon sehr lange a thing). Treppenwitz der Geschichte: Die Anfrage von Nick Cave an Kylie Minogue war als Hommage intendiert. In einem Jubiläumsband zur australischen Rockgeschichte erinnert er sich: „Ich hatte schon seit vielen Jahren einen Song für Kylie schreiben wollen. Ich war ungefähr sechs Jahre lang still besessen von ihr. Ich schrieb mehrere Songs für sie, aber keiner davon fühlte sich angemessen für sie an. Erst als ich diesen Song schrieb, der ein Dialog zwischen einem Mörder und seinem Opfer ist, dachte ich, dass ich endlich den richtigen Song für sie geschrieben hätte.“ Klar, denn was könnte es für eine bessere Liebeserklärung an eine berühmte Frau geben, als sie vor aller Augen in einem Song umbringen zu lassen?

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„Candy Girls“ ist im September bei Edition Nautilus erschienen.

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