Patricia Carolin Mai: „Jeder Körper ein Archiv

Patricia Carolin Mai (Photo: Heike Schluckebier)
Bewegung wird Diskurs: Die MAI:COMPANY ist ein offenes Tanzkollektiv für Menschen mit unterschiedlichsten Hintergründen – ein Raum für Bewegung, Begegnung und Selbstermächtigung. Jetzt startet die nächste Runde: Die Anmeldung für die Produktionen 2026 und 2027 läuft vom 1. bis 6. Juli 2025, die Proben beginnen im September. Mitmachen können alle – ohne Vorerfahrung, kostenfrei. Die Plätze werden per Losverfahren vergeben.
Warum hast du dich – von all den Kunstformen – ausgerechnet für den Tanz entschieden, Patricia?
Patricia Carolin Mai: Tanz war für mich immer die klarste Form des Ausdrucks. Noch bevor ich sprechen konnte, habe ich mich durch Bewegung verständigt. Im Tanz finde ich eine Direktheit, eine Körperlichkeit, die Gedanken, Emotionen und soziale Strukturen sichtbar macht, ohne dass ich sie immer in Sprache übersetzen muss.
Gibt es Vorbilder für dich – sowohl als Tänzerin als auch als Choreografin?
Von großer Bedeutung sind für mich Künstler:innen, die mit dem Körper Gesellschaft befragen – wie Alain Platel oder Pina Bausch. Mich inspirieren aber auch Persönlichkeiten aus dem Aktivismus, der Philosophie oder Alltagsmenschen, die gewillt sind, ihren Körper in den Diskurs zu werfen.

Stille Post (Photo: Tom Dachs)
Tanz ist oft mit Disziplin und Hierarchie verbunden. Würdest du das so unterschreiben?
Das ist ein Bild, das leider stimmt – aber auch bröckelt. Ich habe das klassische System kennengelernt, aber nie darin funktioniert oder nach einer gewissen Reflexion auch nicht mehr darin funktionieren wollen. Meine Arbeit ist ein Versuch, andere Wege zu erkunden, in denen Körper nicht diszipliniert, sondern emanzipiert und ermächtigt werden.
Du gehst mit deiner MAI:COMPANY ja einen anderen Weg: eine Company, bei der theoretisch jede:r mitmachen kann. Wie kam es zu dieser Idee?
Ich glaube daran, dass Tanz ein Recht ist – keine elitäre Praxis. Die MAI:COMPANY ist ein künstlerischer Raum, in dem alle Körper willkommen sein sollen. Ich will Strukturen schaffen, in denen Beteiligung möglich ist – radikal offen und gleichzeitig künstlerisch anspruchsvoll.
Wie basisdemokratisch ist dieses Mitmach-Prinzip wirklich? Was braucht man an Talent, körperlichen Voraussetzungen – und nicht zuletzt: Zeit und Geld?
Natürlich bringt jeder Mensch eigene Voraussetzungen mit. Genau darum geht es: dass Du – egal was Du mitbringst – genau richtig bist, so wie Du bist! Es geht nicht um technische Perfektion, sondern für mich geht es immer wieder um Entscheidungen. Und die erste Entscheidung ist: Möchte ich Teil dieses Projektes sein? Und wir versuchen, mit kostenlosen Workshops, solidarischen Modellen und flexiblen Probenzeiten Barrieren abzubauen.

MAI:COMPANY, Patricia Carolin Mai (Photo: Tom Dachs)
Bekommen die Tänzer:innen Gage?
Das ist eine zentrale Frage, die wir im Orga-Team immer wieder diskutieren – gerade unter dem Aspekt der Wertschätzung. Aktuell können wir leider keine Gagen zahlen. Dafür bieten wir aber professionelle Anleitung, körperlich-künstlerische Weiterbildung, einen geschützten Begegnungsraum und die Möglichkeit, sich mit der eigenen Geschichte auf der Bühne sichtbar zu machen. Uns ist bewusst, dass das nicht für alle ausreicht – deshalb suchen wir langfristig nach Fördermodellen, um auch finanzielle Anerkennung zu ermöglichen.
Für die Produktion „ROCKOKO“ hast du das Thema Rock gewählt. Warum?
Der Rock ist ein Kleidungsstück mit Geschichte – ein Symbol für Weiblichkeit, Männlichkeit, Widerstand, Anpassung oder Befreiung – je nach kulturellem Kontext und Epoche. In „Rockoko“ erforschen wir die Bedeutungen, Zuschreibungen und Bewegungsmöglichkeiten, die mit diesem Stoff verbunden sind. Wie viele Menschen passen unter einen Rock? Welche Körper, welche Geschichten? Der Rock ist nicht nur Symbol, sondern auch Bewegungsträger – beim Drehen, Flattern, Schwingen. Er hebt sich, fällt, öffnet Grenzen oder verhüllt. Von höfischen Röcken über Schuluniformen bis zu Drag-Performances war der Rock stets Bühne und Grenze zugleich. Wie tanzt ein Rock? Wann wird er Last, wann Rüstung, wann Haut? Der Titel „ROCKOKO“ spielt bewusst mit dem Rokoko – einer Epoche voller überladener Pracht, Gendercodes und höfischer Kontrolle. Gleichzeitig steht der Rock in unserer Produktion für kollektive Selbstermächtigung.

Anne Kersting mit Teilnehmenden (Photo: Heike Schluckebier)
Welche Rolle spielt Kampnagel als Ort für dich?
Kampnagel ist ein Möglichkeitsraum. Hier darf Kunst politisch, unbequem und gleichzeitig zart und zugänglich sein. Für mich ist es ein Zuhause für utopisches Arbeiten.
Wie wählst du die Musik für deine Stücke aus?
Oft beginnt alles mit einem bestimmten Klang oder einer Frequenz. Ich arbeite viel mit experimentellen Komponist*innen – aktuell vor allem mit Fanis Gioles, den ich sehr schätze.
Nochmals direkt gefragt: Kann wirklich jede:r Tänzer:in werden?
Ja – wirklich. Das Losverfahren ist eine Haltung. Natürlich braucht es Bereitschaft, sich einzulassen. Aber es braucht kein „Talent“ im klassischen Sinn. Das Training passt sich den Menschen an, nicht umgekehrt.
Was wird in den Workshops vermittelt?
Wir arbeiten mit Methoden aus Tanz, Körperarbeit, Improvisation und Theorie. Es geht darum, Vertrauen in den eigenen Körper zu gewinnen, Präsenz zu entwickeln und gemeinsam zu forschen: Was bedeutet Bewegung für mich – und für uns als Gruppe?
Teilnehmende des Tanz- und Workshop-Wochenendes Open Lab teilen Eindrücke:
Recap Video des MAI:COMPANY Open Labs im Mai 2025:
Wie erlebst du das Zusammenspiel von individueller Geste und kollektiver Bewegung?
Darum geht es mir und Anne Kersting, meiner langjährigen Dramaturgin, vor allem: Körper als Archive zu begreifen – mit ihren individuellen Geschichten, Erfahrungen und Möglichkeiten. In der Gruppe entsteht daraus ein lebendiger Raum des Austauschs. Es ist immer ein Balanceakt zwischen Selbstbestimmung und Verbundenheit.
Gehst du selbst gerne tanzen – im Club zum Beispiel?
Ja, unbedingt! Clubkultur ist für mich ein Ort der Befreiung. Ich liebe es, mich dort ohne Anspruch, ohne Ziel zu verlieren. Manchmal finde ich da auch die besten choreografischen Ideen.
Wie politisch empfindest du deine Arbeit – und das Tanzen generell?
Tanz ist für mich hochpolitisch. Der Körper ist ein Ort von Macht, Normierung, Widerstand. Wer tanzt, stellt sich in Beziehung zur Welt.
Danke für deine Zeit, Patricia Carolin.
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Showreel vom Patricia Carolin Mai.
„ROCKOKO“ wird im Mai 2026 auf Kampnagel in Hamburg Premiere feiern.
Die Anmeldung, um als tanzende Person Teil zu werden, ist möglich zwischen dem 1. und 6. Juli 2025. Die Plätze werden im Losverfahren vergeben.
Alle Infos: patricia-carolin-mai.de
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