Maxi Hecker Vorabdruck „LOTTEWELT“

“Sie fürchten sich hier vor der Dunkelheit”

Vorabdruck aus „LOTTEWELT“ von Maxi Hecker.
Der Roman erscheint am 26. Oktober 2023 bei Lektora.

Kapitel 9
Die große, kranke Stadt
Hotel Kukdo, Seoul, Korea, 25. Mai 2018

Und hier liege ich nun auf meinem Geheiltenlager und warte auf die Ruhe nach dem Beifallssturm, ja, hier liege ich nun also in der Schlafstatt der geheilten Herzen, geduscht und gebürstet, fertig zur noch jungen Nacht, fertig mit den Nervenkriegen, fertig allerdings noch lange nicht mit der großen weiten schönen Wirklichkeitswelt, die ich irgendwo in der Tiefe der wiedergefundenen Zeit, irgendwo in der Tiefe des wiedergefundenen Bewusstseins, irgendwo dort im Nachtlichtreich der wiedergefundenen Erinnerung zu erkennen glaube, doch sie wird ohne mich stattfinden, wenigstens diese Nacht in der großen, kranken Stadt, wenigstens diese Nacht in der Weltstadt mit Herzenslust und Herzensqual, wenigstens diese Nacht also in der vom Han-Fluss in zwei Hälften gebrochenen Stadt der gebrochenen Herzen, in der Halbweltstadt in der Grauzone zwischen Akzeptanz und Ablehnung, zwischen Innigkeit und Gleichgültigkeit, zwischen Sinn und Verstand sowieso, in der Megacity an der Meerenge zwischen Skylla und Charybdis, zwischen Lust und Zwang, zwischen Rausch und Routine, in der grellleuchtenden, scharfkantigen, schrillklingenden, vergiftetriechenden und unentwegt zum Eiertanz auffordernden Metropole namens Seoulteukbyeolsi also, der »besonderen Stadt Seoul«, in der Wiege der K-Popkultur nicht zuletzt und damit unmittelbar an der Quelle Hallyus, der »koreanischen Welle«, dieser unaufhaltsamen und seit nunmehr einem Vierteljahrhundert die ganze Welt heimsuchenden und emporhebenden K-Popularitätswoge.

Und hier liege ich nun also auf meinem Geheiltenlager und warte auf die Ruhe nach dem Beifallssturm, ja, hier liege ich nun also in der Schlafstatt der geheilten Herzen, geschniegelt und gestriegelt, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihren Mann, bereitet wie ein Wachtraumtänzer für seinen Sprung vornüber ins Gewisse, bereitet aber vor allen Dingen wie ein Konzertreisender für seinen baldigen Abgang von der Bühne des ewigen elektrischen koreanischen Lebens, und kann neuerlich stiller und verdutzter Zeuge davon werden, wie schwer es der Dunkelheit offenkundig fällt, sich über die große, kranke Stadt zu legen, wie sie regelrecht verhöhnt wird, bekämpft gar von Leuchtreklamen und von Straßenlaternen, von Flutlichtern und von Scheinwerfern, von grellbeleuchteten E-Marts, von neonlichtdurchfluteten CU-Stores und von strahlenden Ministops, von all diesen hier omnipräsenten Mischwarenläden also, deren Versorgung ihrer nachtaktiven Kunden mit Alkohol, Zigaretten, Süßigkeiten, Lunchboxen, Fertigprodukten, Obst und Hygieneartikeln doch bloß eine untergeordnete Rolle spielt, versuchen diese Immergeöffneten und Niedunklen doch vor allen Dingen, in ihrem Immergeöffnetsein und Niedunkelsein Ewigkeit zu suggerieren.
Das ewige elektrische koreanische Leben.

Sie fürchten sich hier vor der Dunkelheit, sie fürchten sich davor, von dieser ertappt, entblößt und verraten zu werden, geschluckt, gefressen sodann oder wieder ausgespieen, sie fürchten sich davor, die Nacht anzunehmen, wie sie ist, lichtlos, wie sie ist, grenzenlos, wie sie ist, rücksichtslos, wie sie ist, unansehnlich zu werden in ihren nachtschattenschwarzen Fängen oder unsichtbar, sie fürchten sich davor, unterm pechschwarzen Sternenzelt zu Erde, Asche und Staub zu zerfallen oder zur Bestie zu mutieren, sie fürchten sich davor, in der Abgrundtiefe der Nacht von ihrem gewundenen Weg abzukommen und in genau den Abgrund zu stürzen, der in ihrer abgründigen Phantasie ohnehin für sie bestimmt ist, sie fürchten sich, und weil sie sich fürchten und weil sie fortwährend Blut und Wasser und Makgeolli und Soju schwitzen bei der Vorstellung einer Nacht ohne Morgen, kämpfen sie mit allen erdenklichen Leuchtmitteln, mit Leuchtstoffröhren und mit Halogenlampen, mit Glühbirnen und mit Nebelkerzen, mit Irrlichtern und mit Zwielichtern, mit Lichtschwertern und mit roten, ihre Kirchen zierenden Neonkreuzen gegen ihre Nyktophobie, gegen ihre panische Angst, eines jüngsten zur Nacht gemachten Tages in der Finsternis liegen und unsichtbar und unhörbar um ihr ewiges elektrisches koreanisches Leben schreien zu müssen.

Doch handelt es sich bei dieser Schattenflucht vor der dunklen Wahrheit in den hellen Schein, dieser Schattenweltflucht vielmehr vor der verunreinigten Vergangenheit in eine strahlende Zukunft nicht vielleicht um eine der mannigfaltigen Ausdrucksformen von Han, jener durch Empfindungen wie Trotz, Bitterkeit und Bedauern, Trauer, Schuld und Hilflosigkeit, Sehnsucht nach Überwindung und Verlangen nach Wiedergutmachung, Hunger nach Eindeutigkeit und Durst nach Rache, aber auch unerschütterlichen Glauben, bedingungslose Liebe und unsterbliche Hoffnung gekennzeichneten und vom japanischen Kunstkritiker Muneyoshi Yanagi einst mit Schönheit des Kummers umschriebenen Seelenlage eines Volkes also, dessen fünftausendjährige Geschichte von Invasion und Instabilität geprägt ist? Eines Volkes, das im Zuge von Okkupation und Unterjochung wiederholt das Trauma des Identitätsverlusts zu erleiden hatte? Eines Volkes, das zuletzt Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts getrennt und in zwei Hälften gebrochen worden war und seither mit dem Gefühl zu leben gezwungen ist, niemals ganz zu sein? Niemals zu genügen? Eines Volkes, das stetig hin- und herzuschwingen scheint zwischen Verdrängung und Verklärung des Erlittenen, zwischen Maskierung und Kultivierung des Wundmals, zwischen Größenwahn und Kleinheitskorrektur, zwischen verführerischer Lüge und verblümter Wahrheit? Eines Volkes, das gleichwohl seine Einzigartigkeit und seine nationale Einheit im Rahmen eines verbindenden und dadurch tröstenden kollektiven und vor Schönheit strahlenden Kummers zum Ausdruck zu bringen vermag? Einer verbindenden und dadurch tröstenden Kultivierung also des koreanischen Wundmals? Einer verbindenden und dadurch tröstenden Maskierung andererseits ebendieses Wundmals, ebendieses aus der langen koreanischen Leidensgeschichte resultierenden Gefühls von Mangelhaftigkeit, Unvollkommenheit, Minderwertigkeit?

Ebendieses Defekts also, der alsdann überstrahlt und überflutet werden soll von Kunstlichtermeeren? Versteckt unter Make-up und Haute Couture, hinter den glitzernden Kulissen der Skylines und den funkelnden des K-Pop und hinter großartigen Versprechungen und großlauter Rhetorik? Betäubt im Konsumrausch, in der Anhäufung materieller und leiblicher Trophäen sozusagen, in der religiös anmutenden Verehrung vermeintlich undefekter Erlöserfiguren und Berühmtheiten und im libertinen Genuss des spirituösen Nationalgetränks Soju? In sein Gegenteil verkehrt in selbsttransformatorischen Gewaltakten, in der kompromisslosen, mitunter sogar plastisch-chirurgischen Kreation also von Schönheit, Makellosigkeit, Status und Ansehen und kraft ebenso masochistisch anmutender Anstrengungen, in jeglicher Disziplin seine Mitstreiter oder gar alle anderen Länder der Welt zu übertreffen? Transzendiert schließlich in der Melancholie und der Schwelgerei, in der Realitätsflucht vor dem Joch der Notwendigkeit in die Welt der Wunder und des Staunens, im unerschütterlichen Glauben an das eigene Volk, in einer bedingungslosen Vaterlandsliebe und in der unsterblichen Hoffnung auf Erlösung?
Und könnte man nicht sogar die kühne Behauptung wagen, die zum Himmel und zum ewigen Licht emporstrebende und zum Äußersten entschlossene koreanische Musik, Malerei, Fotografie, Literatur und Filmkunst, diese mal melancholisch-schwelgerische, mal hysterisch-exzentrische, stets jedoch schillernde, prächtige, makellose, wenn nicht sogar perfekte und zudem beängstigend erfolgreiche koreanische Unterhaltungskultur also verkörpere so etwas wie die Frucht der koreanischen Krankheit? Den Krankheitsgewinn der koreanischen Grippe? Den Krankheitsgewinn der koreanischen Grippewelle, um doch genau zu sein? Den Lohn also für den verzweifelten Versuch einer äußerlich selbstverliebten und innerlich selbstungewissen Kultur, die entsetzliche Angst vor der dunklen Erinnerung, die entsetzliche Angst vor der dunklen Wahrheit, die entsetzliche Angst also vor der Selbstwertlosigkeit mit allerlei Scheinweltwunderwaffen in Schach zu halten?

Doch hatte ich selbst nicht mit exakt denselben Beschwerden zu kämpfen gehabt? Hatte ich selbst nicht Nacht um Nacht händeringend nach mehr Licht verlangt in den vergangenen zwei Wochen? In den vergangenen zweitausend Jahren? Und hatte ich selbst nicht Tag um Tag händeringend um Vergebung und um Versuchung gebeten? Hatte dagelegen auf meinem Krankenlager, versoffen und verblödet, fertig von durchzechter Nacht, fertig mit den Nerven, fertig allerdings noch lange nicht mit der großen weiten schönen Scheinwelt, und leise vor mich hingeflüstert:
»Müde bin ich, geh’ zur Ruh’, schließe beide Äuglein vor der koreanischen Krankheit zu, die auch meine Krankheit ist, und Vater, lass die Augen dein über meinem Siechbette sein, und erlöse uns von den bösen Symptomen, die uns befallen haben, von der überschießenden Immunantwort auf die Selbstwertlosigkeitsangst, von dieser Autoimmunerkrankung, die in die Wiege der koreanischen Kultur, in die Wiege meiner Schwester Lotte gelegt worden ist, und vergib uns unsere Schuld und führe uns nicht in Versuchung, sondern führe uns stattdessen in Verlockung, und erlöse mich von der koreanischen Grippe, von der großen Krankheit, die mich doch stets zu befallen scheint in der großen, kranken Stadt.«

In der großen, liebeskranken Stadt doch eigentlich, in der ich mich als Dreampop-Superstar doch stets der Versuchung ausgesetzt gesehen hatte, meinem versuchten und mich versuchenden Gegenüber widerstandslos nahekommen zu können, meinem im wahrsten Sinne des Wortes blendenden und von meinem Glorienschein, genauer gesagt von meiner Scheinglorie wie geblendet wirkenden Bewunderer widerstandslos mein gebrochenes Herz zu schenken, um alsdann im Rahmen einer solchen symbiotischen Amour fou für einen leuchtenden Augenblick teilzuhaben an der Glorie, der Schönheit, der Macht, dem sexuellen und materiellen Reichtum meines Gespielen, vor allem aber, um in dessen leuchtenden Augen einen falschhohen Wert meiner selbst widergespiegelt zu sehen; doch ohne diesen vermeintlichen Wertcoupon je in einer wahrhaftigen Begegnung mit meinem versuchten Versucher einlösen zu können, sodass ich am Ende einer solchen verrückten Amoure stets befremdet, fremdgeblieben, auf mich selbst zurückgeworfen, leerer Hand und voller banger, diebischer Schadenfreude dagestanden hatte, heimgesucht und wieder verlassen, emporgehoben und wieder fallengelassen von allen sich gutstellenden koreanischen Geistern, von allen Magiern und Mäzenen, von allen Superreichen und Superstars, die mir in ihrer Exaltiertheit keine wahre Liebe, keine wahre Freundschaft hatten anbieten können und mich dennoch für einen leuchtenden Augenblick gebraucht hatten, so wie auch ich sie gebraucht hatte, waren wir uns doch gegenseitig voneinander geblendete Blindenführer gewesen, sowohl Anpreiser der eigenen als auch Taxierender des anderen Seele, sowohl verführter Faust als auch verführender Mephistopheles, sowohl betörter Seemann als auch betörende Sirene, sowohl halbsinkender Fischer als auch halbziehender Wassergeist.

Immer wieder während der vergangenen zwei Wochen hatte die koreanische Grippewelle mein Bett im Hotel Kukdo also in ein Krankenlager und mein Zimmer, je nach Erfolg oder Misserfolg meiner zwielichtigen Unternehmungen, in ein mal strahlendes, mal düsteres Krankenzimmer verwandelt, bis ich schließlich eines Morgens in totaler Finsternis und in dem schrecklichen Wissen erwacht war, in der Nacht zuvor eine entscheidende Schlacht verloren zu haben, eine entscheidende Schlacht auf dem Schlachtfeld des ewigen elektrischen koreanischen Lebens wohlgemerkt, und gleichwohl mein Scheingefecht nicht wiederaufgenommen hatte, oder vielmehr: nicht wieder hatte aufnehmen wollen, und sozusagen entgegen meinem Überlebensinstinkt das Lichtanknipsen unterlassen hatte, weshalb ich also völlig wehrlos und somit allem vermeintlich Defekten schutzlos ausgeliefert in dieser vermeintlich totalen Finsternis gelegen und unsichtbar und unhörbar um mein aus den Angeln geratenes Leben geschrien hatte.
Bis mir irgendwann ein Licht ins Auge gefallen war, ein zwar nicht strahlend helles, dafür jedoch stetig, kontinuierlich, ununterbrochen leuchtendes dunkelgelbes Licht, ein Glimmen vielmehr, das geklungen hatte wie ein Lied aus gütiggüldener Vergangenheit, das geschmeckt hatte wie Marmorkuchen und Apfelsaft, das geglänzt hatte wie das Abendgold über der Reeser Rheinpromenade.

Und hier liege ich nun also auf meinem Geheiltenlager und warte auf die Ruhe nach dem Beifallssturm, ja, hier liege ich nun also in der Schlafstatt der geheilten Herzen, gesundet, ohne je wirklich krank gewesen zu sein, befriedet, ohne je wirklich Krieg gegen etwas anderes als Windmühlen geführt zu haben, zuhause angekommen, ohne das fremde Land überhaupt verlassen zu müssen, endlich ganz da und schon längst nicht mehr hier, endlich ganz hier und schon längst nicht mehr ganz da, seit ich mich in der Abgrundtiefe einer Übernächtigkeit an die Rheinpromenade erinnert habe, an gütiggüldene Abendsonnenstrahlen und schwarzgoldglänzende Sitzbänke, an den Vater Rhein und die Mutter Heimaterde, an mein wahres Land und mein wahres Gesicht, und all das hier seither nichts anderes mehr zu sein scheint als ein großer, geheilter Witz, ein großer, geheilter Gässchenwitz geradezu, dem ich sozusagen von der Rheinpromenade aus lausche, mal lauthals lachend, mal schmunzelnd, so wie eben jetzt, beim Gedanken an das Konzert vorhin in der Harmony Hut.

Was für ein angemessen unangemessener Ausklang meiner koreanischen Abschiedstournee! Was für ein würdevolles unwürdiges Ende dieser meiner letzten, wirklich allerletzten Reise in die große, kranke Stadt, dieser selbstfinanzierten, sozusagen handgemachten und weniger aufgrund großen, kranken Interesses an meinem neuen Album Wretched Love Songs, sondern vielmehr meiner Dickköpfigkeit und Dünnblütigkeit wegen unternommenen Expedition ins Lichtreich, dieser wie ein Wurmfortsatz an der vor zwei Wochen zu Ende gegangenen Chinatournee hängenden Lust- und Lasterreise kreuz und quer durch die besondere Stadt Seoul, dieser Tag- und Nachtclubtour de Force letztendlich, die doch ursprünglich einmal dazu gedacht gewesen war, den Untergang meines seit nunmehr zwei Jahren stetig schwächer leuchtenden koreanischen Sterns noch ein wenig hinauszuzögern, den Untergang meines Popsternchens, um doch genau zu sein, dem also ausgerechnet in Korea, ausgerechnet also in meinem allerersten Land der aufgehenden Sonne, die Leuchtkraft auszugehen scheint.

Als wäre damals in der Hongdaeer Malison Hall, als meine koreanische Konzertagentur Ghostly Anthem bloß fünfundsiebzig von fünfhundert Konzertkarten hatte verkaufen können, als wäre also damals am 30. April 2016 ein Fluch über meine bis dahin ruhmvolle koreanische Karriere gekommen, ein Fluch, unter dem fortan nicht bloß meine Unternehmungen auf der koreanischen Halbinsel, sondern merkwürdigerweise auch die Mitarbeiter von Ghostly Anthem gestanden hatten, merkwürdigerweise also ausgerechnet jene bis dahin aufgeschlossenen und engagierten Geschäftspartner, die mir während der langjährigen und überaus erfolgreichen Zusammenarbeit neben mehreren Clubkonzerten auch zwei Einsätze als Headliner auf der kleinsten Bühne ihres alljährlichen Seoul Pop Festivals beschert hatten, im Anschluss an das Debakel in der Malison Hall jedoch dazu übergegangen waren, sämtliche meiner E-Mails und Textnachrichten zu ignorieren, einem Laster zu frönen also, bei dem es sich, wie ich im Laufe der verlorenen Zeit lernen sollte, allerdings weniger um die Auswirkungen eines Fluchs gehandelt hatte, sondern vielmehr um die gleichwohl verfluchte, in Korea allerdings selbstverständliche und weitgehend gesellschaftlich akzeptierte Kommunikations-Eigenart Jamsu Tada (wörtlich: »untertauchen«), den unvermittelten Abbruch eines E-Mail- oder Textnachrichten-Dialoges also beziehungsweise die Verweigerung jeglicher Antwort auf eine im digitalen Raum gestellte Frage; ob nun, um auf diese Unart und Weise einem beginnenden oder bestehenden Konflikt aus dem Weg zu gehen, oder aber, um mittels dieses plötzlichen Unsichtbar- und Unhörbarwerdens Enttäuschendes oder gar Ablehnendes vermitteln zu können, ohne das eigene Versagen oder jenes des Gegenübers zur verlorenen Sprache bringen zu müssen.
Was für ein angemessen unangemessener Ausklang meiner koreanischen Abschiedstournee also, was für ein würdevolles unwürdiges Konzertchen vor halbleerem Hause, vor halbleerer Hütte, um doch genau zu sein, vor gerade einmal dreißig Zuschauern, als einer von vielen überdies, als Teilnehmer eines in zirka zwanzig verschiedenen Hongdaeer Venues abgehaltenen Festivals, als nicht einmal undankbarer Teilnehmer im Übrigen, hatten sich meine kühnen Hoffnungen darauf, zusammen mit meinem koreanischen Vertrieb Hanbunny ein Headlinerkonzert und also eine gebührende Record-Release-Party für Wretched Love Songs auf die wackeligen Beine stellen und somit die buchstäblich verfluchte koreanische Karriere vor ihrem Vergängnis ein allerletztes Mal glühen sehen zu können, doch binnen kürzester Zeit zerschlagen, weshalb mich die überraschende und erst wenige Wochen vor Beginn der Asienreise eingetroffene Einladung zum Hongday-and-Night-Festival in Seouls hippem Studentenviertel Hongdae, diese Offerte also der Grellleuchtenden, Scharfkantigen, Schrillklingenden, Vergiftetriechenden und unentwegt zum Eiertanz Auffordernden zu einem mit spitzen Lippen geküssten Abschiedskuss, zwar nicht unbedingt Freudentänze hatte aufführen lassen, geschweige denn Eiertänze, dafür aber immerhin Tänze um den bei der Buchung des Hotels Kukdo, des Fluges Peking-Seoul und Seoul-Peking-Berlin und bei allerlei der Bewerbung des Konzerts dienenden Social-Media-Aktivitäten heißlaufenden Computer.
Von der Veranstalterin lediglich mit einer Handvoll Informationen versorgt, der Länge meines im Laufe der Zeit von neunzig Minuten auf eine Dreiviertelstunde geschrumpften Sets beispielsweise oder der Höhe meiner aufgrund schlechter Ticketverkäufe um die Hälfte reduzierten Gage, allerdings seltsamerweise nicht der Adresse der Harmony Hut, die ich mir schließlich auf der ungepflegten Website des Venues selbst hatte heraussuchen müssen, stand ich also am frühen Abend vor einem verlassen wirkenden zweistöckigen Gebäude in einem Gässchen fernab des ewigen elektrischen Hongdaeer Lebensstroms, voller hämischer Vorfreude auf dieses augenscheinlich sang- und klanglos zu enden drohende letzte Kapitel meiner koreanischen Memoiren, dem tags darauf bloß noch deren Epilog in Form eines kleinen Auftritts in einem Plattenladen im Stadtviertel Itaewon folgen sollte, voller Schadenfreude überdies, banger, diebischer Schadenfreude darüber, abermals heimgesucht und wieder verlassen, emporgehoben und wieder fallengelassen worden zu sein, abermals also eine Bestätigung meines Lotteweltbilds erfahren zu haben … das heißt: So bang und so diebisch war sie eigentlich gar nicht, diese Schadenfreude, und anstatt von Schaden schien sie dieses Mal eher vom Wunsch nach dessen Begrenzung geprägt zu sein, und der Lottewelt hatte ich doch schließlich bereits gestern Morgen entsagt, weshalb es nun im Grunde genommen auch kaum noch eine Rolle spielte, ob oder ob ich nicht heimgesucht und wieder verlassen, emporgehoben und wieder fallengelassen worden war, sei es nun von der Veranstalterin des Hongday-and-Night-Festivals oder von allen anderen sich gutstellenden koreanischen Geistern.

Ich rief also kurzerhand die vermeintliche Heimsucherin und Wiederverlasserin, Emporheberin und Wiederfallenlasserin an, die mir jedoch sogleich anbot, innerhalb der nächsten halben Stunde einen ihrer Mitarbeiter zu schicken, dann allerdings zu meiner Verwunderung und Versöhnung höchstpersönlich und unter rührenden Gesten der Entschuldigung in meinem Gässchen auftauchte, dort also, wo die Harmony Hut bis vor Kurzem, bis zu ihrem Umzug nämlich, tatsächlich einmal ihre Gäste empfangen hatte, wie mir die bildhübsche Mittdreißigerin atemlos berichtete, bevor sie mich zu meiner Verwunderung und Verwirrung bei der Hand nahm, zumindest für die ersten paar gemeinsamen Schritte ins Ungewisse und dann jeweils beim Überqueren der Gässchen und der Straßen, um mich auf diese Art und Gehweise kreuz und quer durchs hippe Studentenviertel und auf direktem gewundenen Wege zu einem süßen Backsteingebäude am Ende der Gässchen und der Straßen, vor allem aber am Ende der abgelaufenen Zeit zu führen, in dessen schummriges Kellergeschoss, um doch genau zu sein, in dem uns sodann ein aufgewühlter Tontechniker empfing, ein schlaksiger, langhaariger und überaus sympathisch wirkender junger Mann, der sich zwar als »your biggest fan« vorstellte, leider aber nichts von dem von mir angeforderten Equipment wusste, geschweige denn zu sagen vermochte, woher denn nun die Zeit für einen Soundcheck zu nehmen sei.

Doch seltsam, denn je aussichtsloser die Lage nun also wurde, je aufgewühlter auch der Tontechniker und je verzweifelter die Veranstalterin, desto vergnügter wurde ich, desto entschlossener auch, zur Not auch ohne Soundcheck ein allerletztes Mal vor meinem Vergängnis zu glühen, zur Not auch ohne das angeforderte Equipment und dafür allein mit der Glut, die seit gestern Morgen in mir glomm, und dem Glanz, der mich seither umgab, meiner erlauchten, weltmännischen, bewegten, glamourösen, großen, kränkelnden koreanischen Karriere an diesem schummrigen, bescheidenen, behäbigen, rustikalen, kleinen und heilsversprechenden Ort ein würdevolles unwürdiges Ende zu bereiten.
Und so saß ich also anderthalb Stunden später – anderthalb Stunden, die meinen größten Fan Berge versetzen und Keyboards per Kurier ordern gesehen hatten, anderthalb Stunden, in denen eine zum Sterben schön singende Liedermacherin und ein alternder Dichter die Bühne der Harmony Hut betreten und wieder verlassen hatten – in den vorletzten Atemzügen meiner koreanischen Karriere und sang um mein endliches elektrisches koreanisches Leben, schmetterte meine von der kleinen behinderten Muse geküssten Heimatlieder, rang um Wahrheit und um jeden Ton und verlor mich dabei in grellleuchtenden, scharfkantigen, schrillklingenden, vergiftetriechenden und unentwegt zum Eiertanz auffordernden Erinnerungen an die seit gestern Morgen sanftleuchtende, wohlgeformte, gedämpftklingende, herbsüßduftende und unentwegt zum Wachtraumtanz auffordernde Metropole namens Seoulteukbyeolsi, rang um Wahrheit und um jeden Ton und blickte dabei in den halbleeren Saal, in die strahlenden dreißig Gesichter, in das im Laufe des Abends, das heißt, nach dem Bühnenabgang der Liedermacherin und des alternden Dichters auf die Hälfte geschrumpfte Publikum, in das also, was aus mir, dem melancholischen und seit der Verwendung seines Liedes I’ll Be a Virgin, I’ll Be a Mountain im Korean Drama The 1st Shop of Coffee Prince in Korea berühmten Liedermacher geworden war, dem melancholischen und von seinen koreanischen Fans als »Dreampop Superstar« bezeichneten jungen Mann, der also endgültig zu seinen Ursprüngen zurückgekehrt zu sein schien, nach Magdeburg oder nach Fulda, nach Regensburg oder nach Essen, in die Geislinger Rätschenmühle oder in den Aachener Musikbunker, in das Forum Enger oder in die Musikschule Bünde, zurückgekehrt in eine unbeschwerte Zeit, in der er vor einer Handvoll Leuten aufgetreten war, in der er auf schummrigen Kleinkunstbühnen in den ersten Atemzügen seiner jungen Karriere gesessen und um sein gerade erst begonnenes Musikerleben gesungen hatte, in der er Konzertflyer eigenhändig entworfen, ausgeschnitten und verteilt hatte, in der er Demokassetten in seinem Schlafzimmer aufgenommen und Videoclips mit der Super-8-Kamera seines Vaters gedreht hatte, zurückgekehrt auch in eine längst verlorengeglaubte Zeit, die er in diesen Augenblicken der errungenen Wahrheit in den Armen einer mit spitzen Lippen Abschiedsküssenden wiedergefunden zu haben schien.

Und hier liege ich nun also auf meinem Geheiltenlager und warte auf die Ruhe nach dem Beifallssturm, ja, hier liege ich nun also in der Wiege der K-Popkultur, verschaukelt und dennoch vergnügt, bereitet wie eine geschmückte Braut für ihre große Liebe auf den zweiten Blick, bereitet wie ein Wachtraumtänzer für seine Rückkehr auf gewohntes Parkett, bereitet aber vor allen Dingen wie ein Konzertreisender für seine Heimkehr in sein wahres Land, und versuche der allmählich über mich kommenden Ruhe nach dem Beifallsturm zum Trotz, den Kampf Dunkel gegen Hell noch ein wenig länger zu verfolgen, den Kampf der Grenzenlosen und der Rücksichtslosen gegen die Immergeöffnete und die Niedunkle, den Kampf der Abgrundtiefen und der Furchterregenden gegen die Ewige und die Elektrische, den Kampf auch der Finsteren gegen die Strahlende, deren strahlendes Antlitz mir doch schon bald, spätestens aber in drei Tagen, wenn es gilt, in Incheon ein Flugzeug nach Berlin zu besteigen, bloß noch ein müdes Lächeln aufs wahre Gesicht zaubern wird.

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